Wo steht Ägypten?
Auf der Strasse wird jetzt Pause gemacht
Von Karim el-Gawhari, Kairo *
Gut zwei Monate ist es her, seit Ägyptens Präsident Hosni Mubarak nach dreissig Jahren die Macht abgab. Doch die Kräfte des Wandels haben noch nicht gesiegt.
«Alte Regime sind wie Eis, sie brauchen eine Weile, bis sie in der Sonne schmelzen.» Mit diesem Satz hatte Ibrahim Eissa, der prominenteste unter Ägyptens kritischen Journalisten, seine Landsleute dazu aufgerufen, mit der Revolution am Nil etwas Geduld zu haben. Das war vor wenigen Wochen. Damals konnte er nicht ahnen, dass eine Woche vor Ostern eine Hitzewelle Kairo erfassen würde. Das Eis, das Ägypten in den drei Jahrzehnten der Herrschaft des gestürzten Präsidenten Hosni Mubarak in Froststarre versetzt hatte, schmilzt schneller als erwartet.
Innerhalb weniger Tage landeten Mubaraks Söhne Gamal und Alaa in Untersuchungshaft. Sie werden von der Staatsanwaltschaft ebenso verhört wie der unter Herzproblemen leidende Hosni Mubarak selbst. Alle drei befinden sich laut Krankenhausberichten in einer Art Schockzustand und können nicht fassen, was mit ihnen geschieht. Die ägyptische Presse feierte die Verhaftungen als Beweis, dass in Ägypten niemand mehr ausserhalb des Gesetzes steht.
Wenige Tage darauf gab es Jubelszenen in Ägyptens oberstem Verwaltungsgericht, als die Richter die Auflösung der National-Demokratischen Partei (NDP), der vormaligen Regierungspartei, verkündeten. Laut Gesetz sollten Parteien zur Demokratisierung und zur Nationalen Einheit aufrufen – die NDP hingegen habe die Macht monopolisiert, soziale Spaltungen provoziert und die Freiheitsrechte der Verfassung missachtet, heisst es im Urteil. Die Parteiführung habe ihre Positionen ausgenutzt, um Vermögen anzuhäufen.
«Es ist ein Schlag ins Gesicht der arroganten NDP-Mitglieder – oder besser gesagt: der früheren NDP-Mitglieder –, die ihre Verbrechen gegen dieses Land nicht zugeben wollen», feierte Bloggerin Zeinobia das Verdikt.
Militärführung billigt Abrechnung
Der Diktator in Untersuchungshaft, die NDP aufgelöst: Zwei Monate nach Hosni Mubaraks Sturz marschiert die ägyptische Revolution in grossen Schritten voran. Die Militärführung, die bis zu den angekündigten Parlamentswahlen im September und der Präsidentschaftswahl im Dezember kommissarisch das Land verwaltet, billigt die Abrechnung mit dem alten Regime.
Allerdings ist ihr Verhalten ambivalent. Immer wieder rief sie die ÄgypterInnen dazu auf, nicht mehr zu demonstrieren und zur Arbeit zurückzukehren. Zwischenzeitlich versuchte sie sogar, Streiks und Demonstrationen ganz zu verbieten. Als es vor drei Wochen bei Zusammenstössen zwischen Militärs und DemonstrantInnen auf dem Kairoer Tahrirplatz mindestens einen Toten gab, wurde der Vorwurf lauter, dass die Militärführung das alte Regime erhalten wolle. Das Verhältnis zum Militär wird auch durch das Schicksal Hunderter meist junger Menschen getrübt, die in den letzten Wochen vom Militär festgenommen und in Militärtribunalen abgeurteilt wurden – oft weil sie die Ausgangssperre missachtet haben sollen.
Die Verhaftung Mubaraks und die Auflösung der NDP war die Reaktion auf die wachsende Kritik. Die Militärführung versucht damit, ihr Ansehen als Retterin der Revolution zurückzugewinnen. Und tatsächlich hat sich das Verhältnis zu den DemonstrantInnen seither wieder entspannt. Zum ersten Mal seit der Revolution gab es vor zwei Wochen nach dem Freitagsgebet auf dem Tahrirplatz keine Grossdemonstration. Die Strasse als politisches Korrektiv macht Pause und wartet gespannt darauf, wie die Untersuchung gegen Mubarak weitergeht.
Die unabhängige Tageszeitung «al-Masry al-Youm» schrieb, es gebe zur Armee keine Alternative. Sie allein sei der Garant einer demokratischen Transformation. Besonders der Blick aufs benachbarte Libyen führt den ÄgypterInnen die Bedeutung ihrer Armee vor Augen; in Libyen gibt es keine vergleichbare Institution, die das Land in einer Übergangszeit führen könnte. Ägyptens politische Realität ist derzeit ein tägliches Aushandeln zwischen den DemonstrantInnen auf dem Tahrirplatz, die das moralische Gewissen spielen, und der Armeeführung, die das Land regiert.
Zwist bei den Muslimbrüdern
Doch es gibt auch äusserst skeptische Stimmen. Diese warnen vor zwei Szenarien: dass die Armee auf Dauer an der Macht festhalten könnte oder dass die IslamistInnen das Parlament übernehmen könnten; sie waren es auch, die am 19. März erfolglos gegen die Verfassungsreform gestimmt hatten, weil sie befürchten, der kurzfristig anberaumte Wahltermin im September werde der bisherigen Elite sowie den gut organisierten Muslimbrüdern in die Hände spielen. In einem Kommentar von «al-Masry al-Youm» wurden die beiden Szenarien sogar verbunden: «Wegen der hastig angesetzten Wahlen könnte das Parlament künftig von Islamisten beherrscht werden. Um dies zu verhindern, könnten die anderen politischen Kräfte von der Armee verlangen, länger an der Macht zu bleiben.»
Aber die IslamistInnen sind sich selbst alles andere als einig, wie es weitergehen soll. Mahmoud Ezzat, der zweite Mann der Muslimbruderschaft, sorgte kürzlich für Furore, als er erklärte, dass seine Gruppierung in Ägypten einen islamischen Staat errichten und langfristig Scharia-Strafen einführen wolle. In die Kritik geriet er dadurch jedoch nicht nur bei den offensiv auftretenden SäkularistInnen, sondern auch in den eigenen Reihen.
Vor allem die junge Generation der Muslimbrüder, die die Revolution am Tahrirplatz mitgetragen hat, widerspricht energisch. «Diese Ideen vom islamischen Staat und den Scharia-Strafen sind von unserem neuen Denken weit entfernt», meint der junge Muslimbruder Muhammad Nur. Auch einer seiner jungen Kollegen äussert sich skeptisch über Teile ihrer Führung: «Sie glaubt, alle Islamisten müssten an einem Strang ziehen. Doch wir führen mit den Salafisten und anderen radikalen Islamisten grosse Auseinandersetzungen», sagt Muhammad Abdel Fattah.
Die Muslimbrüder sind zwar die grösste organisierte Gruppe in der politischen Landschaft des Landes, allerdings drohen sie auseinanderzubrechen. Sie laufen derzeit Gefahr, dass ihnen ihre junge Generation auf dem Tahrirplatz davonläuft und Bündnisse mit den anderen säkularen Jugendgruppierungen schliesst.
Führungsriege ohne Empfang
Doch trotz all des Unwägbaren: Auf das, was sie bisher erreicht haben, sind die ÄgypterInnen stolz. Die Tageszeitung «Nahdet Masr» fasst dieses Gefühl so zusammen: «Die ägyptische Revolution ist einmalig.» Es sei eine Revolution der Jugend, die das Regime mithilfe neuer Medien ohne charismatischen Führer gestürzt hätten. In dieser Revolution würden nicht die Macher zur neuen politischen Elite; jeder zukünftige Führer werde sich aber auf dem Tahrirplatz seine Legitimität holen müssen.
Im Tora-Gefängnis in Kairo sitzt inzwischen die gesamte ehemalige Führungsriege. Etwa der ehemalige Parlamentschef Fathi Sourour, der NDP-Obere Safwat Scharif oder Mubaraks Söhne. Der Gefängnisführung scheint es zu peinlich, den Herren ihre Handys abzunehmen. Stattdessen hat man nun im entsprechenden Trakt einen Störsender eingebaut.
Ohne Handyempfang in den Zellen, in denen die Vergangenheit sitzt, kann draussen das Eis weiter vor sich hinschmelzen.
* Aus: Schweizer Wochenzeitung WOZ, 28. April 2011
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