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Wahlplan soll Lage entspannen

Ägyptischer Übergangspräsident will Votum in den nächsten Monaten / Muslimbrüder mauern

Von Oliver Eberhardt, Kairo *

Nach der jüngsten Gewalteskalation in Ägypten, die über 50 Menschenleben forderte, hat Übergangspräsident Adli Mansur einen Plan für Neuwahlen vorgelegt. Am späten Montagabend stellte er ein Dekret vor, laut dem innerhalb von einem halben Jahr ein neues Parlament gewählt werden soll.

In Ägypten ist die Lage weiterhin unübersichtlich. Übergangspräsident Adli Mansur setzt auf baldige Neuwahlen – die allerdings von der Muslimbruderschaft abgelehnt werden. Viele Menschen hoffen derweil, dass der Beginn des Fastenmonats Ramadan etwas Ruhe bringen wird.

Am Dienstag ist die Lage in Kairo vergleichsweise ruhig. Vor der Al-Adawiya-Moschee in Nasr City wird auch an diesem Tag wieder gegen die Absetzung von Präsident Mohammed Mursi demonstriert, aber es sind weniger Menschen geworden, die sich hier versammelt haben.

Der Ramadan hat begonnen und bei vielen Menschen die Hoffnung geweckt, dass die innere Einkehr, die der muslimische Fastenmonat mit sich bringt, zu einer Entspannung führen wird. Nach Tagen der Eskalation ist bei den vielen Ägyptern, die nicht an den Protesten teilnehmen, die Konfliktmüdigkeit deutlich zu spüren. Es müsse endlich eine Lösung gefunden werden, ist immer wieder zu hören.

Doch eine Lösung ist zur Stunde nicht in Sicht. Ein neuer Regierungschef soll zwar gefunden sein: Staatliche Medien meldeten am Dienstagabend, der Ökonom und Sozialdemokrat Hazem al-Beblawi werde Chef der Übergangsregierung in Ägypten. Zugleich wurde der Friedensnobelpreisträger und liberale Politiker Mohammed al-Baradei zum Vizepräsidenten ernannt. Beblawi hatte von Juli bis Dezember 2011 das Amt des Finanzministers inne. Nach dem Sturz von Präsiden Husni Mubarak war er Mitbegründer der Ägyptischen Sozialdemokratischen Partei. Im Gespräch für das Premiersamt war zuvor auch Radwan Samir, der Anfang 2011 erster Finanzminister nach der Revolution wurde.

Doch auch die Ernennung eines Ministerpräsidenten dürfte den Konflikt nicht beilegen. Im Hintergrund dräut bereits Ärger um einen Zeitplan, den Mansur für die Überarbeitung der Verfassung und Neuwahlen vorgelegt hat. Demnach soll in vier Monaten ein Referendum über Änderungen an der erst im Jahr 2012 erarbeiteten und in der vergangenen Woche vom Militär ausgesetzten Verfassung stattfinden. Sollte das Referendum erfolgreich sein, sollen 15 Tage später zunächst Parlamentswahlen stattfinden und dann eine Woche nach der ersten Sitzung des Parlaments ein Präsident gewählt werden.

Unklar ist zurzeit, ob die Nur-Partei nun in der Übergangsregierung bleiben wird. Sie hatte ursprünglich nach dem Tod von mehr als 50 Demonstranten vor dem Hauptquartier der Republikanischen Garden am Montagmorgen ihren Rückzug erklärt.

Die Muslimbruderschaft lehnt den Plan ab, und auch die Tamarud-Bewegung äußerte sich kritisch. Man sei bei der Ausarbeitung von Verfassungsentwurf und Zeitplan nicht gefragt worden. Hauptkritikpunkt ist, neben der Ausarbeitung des Entwurfs im stillen Kämmerlein, vor allem, dass die Nur-Partei durchsetzte, dass ein kontroverser Artikel, der die Scharia, also islamisches Recht, zum Leitprinzip aller Gesetzgebung erklärt, erhalten bleibt. Die neue Verfassung stärke Islamisten, das Militär und Richter, so die Kritik.

Derweil zeichnet sich in der Wirtschaftspolitik ein wenig Entspannung ab. Die Vereinigten Arabischen Emirate sagten eine Milliarde an Finanzhilfen und darüber hinaus einen Kredit in Höhe von zwei Milliarden US-Dollar zu. Auch Saudi-Arabien hat zugesagt, Ägypten zwei Milliarden Dollar leihen zu wollen. Das Weiße Haus in Washington gab derweil bekannt, die Finanzhilfen würden nicht eingestellt, obwohl die US-amerikanischen Gesetze Zahlungen an Länder, in denen eine gewählte Regierung gestürzt wurde, verbieten.

Es ist davon auszugehen, dass der Effekt dieser Zusagen bereits in wenigen Tagen in Ägypten zu spüren sein wird.

Durch die Abnahme der Währungsreserven hatte das Ägyptische Pfund im Laufe der vergangenen Wochen erheblich an Wert verloren, was wiederum die Preise in die Höhe trieb, weil das Land stark von Importen abhängig ist.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 10. Juli 2013


Ägypten: Mansur kündigt Neuwahlen an

Liberale Übergangsregierung wahrscheinlich. Muslimbrüder dagegen

Von Sofian Philip Naceur, Kairo **


Ägyptens Übergangspräsident Adli Mansur hat am späten Montag abend Neuwahlen innerhalb von sechs Monaten angekündigt. Der von der Armee eingesetzte Staatschef gab zudem bekannt, noch vorher die Verfassung überarbeiten und verabschieden zu wollen. Das Militär hatte vor einer Woche Ägyptens Staatspräsidenten Mohammed Mursi abgesetzt und die umstrittene, islamistisch gefärbte Verfassung, die erst im Herbst per Referendum angenommen wurde, außer Kraft gesetzt. Die bisher regierenden Muslimbrüder lehnten die Pläne ab. Mansurs Dekret sei ein gewaltsamer Akt und nur der Schritt von »jemandem, der von Putschisten ernannt wurde«, sagte der führende Politiker der Bruderschaft, Essam Al-Erian am Dienstag.

Mansurs Initiative, den politischen Übergangsprozeß so schnell wie möglich in geregelte Bahnen zu lenken, kam nur wenige Stunden, nachdem am Montag morgen bei gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Sicherheitskräften und Anhängern Mursis mindestens 51 Menschen getötet worden waren. Die Muslimbrüder und ihr politischer Arm, die Partei für Freiheit und Gerechtigkeit (FJP), sprechen von einem Massaker und einem Angriff der Militärs auf friedliche Proteste. Die Militärführung behauptet dagegen, die Demonstranten hätten versucht, das Gelände der Republikanischen Garde zu stürmen.

Unterdessen versucht die Militärführung eine neue Regierung zu bilden. Sowohl das liberale Lager als auch die Salafisten, die hoffen, aus der Krise der FJP politisches Kapital schlagen zu können, sind in die Gespräche eingebunden und sollen stabile Verhältnisse schaffen. Die größte salafistische Partei, »Das Licht«, war allerdings am Montag aus Protest gegen das »Massaker« der Armee an den Mursi-Anhängern aus den Verhandlungen ausgetreten. Da die Armee sich trotzdem möglichst rasch aus der ersten Reihe des politischen Geschehens zurückziehen will, ist eine von den Liberalen dominierte Übergangsregierung zu erwarten.

** Aus: junge Welt, Mittwoch, 10. Juli 2013


Vermeintlicher Militärputsch

Ägypten: Debatte um Staatsstreich geht an den tatsächlichen Geschehnissen vorbei

Von Sofian Philip Naceur, Kairo ***


Während die Muslimbrüder, die FJP und unzählige internationale Zeitungen und Fernsehkanäle die Ereignisse der letzten Woche in Ägypten als Staatsstreich bezeichnen, wehren sich viele Menschen am Nil gegen diese vereinfachte Interpretation der Ereignisse. Aus Perspektive der Bruderschaft war es ein Putsch, da die Organisation über Nacht ihres politischen Einflusses auf Ägyptens Institutionen beraubt wurde. Sie fordert daher vehement die Wiedereinsetzung Mursis, der ihrem politischen Arm, der Partei für Freiheit und Gerechtigkeit (FJP) angehört. Dennoch ist der Begriff »Militärputsch« für die Machtübernahme der Armee irreführend und wird den tatsächlichen Veränderungen an der Staatsspitze Ägyptens nicht gerecht.

Denn die ägyptische Armee ist faktisch seit dem Militärputsch 1952 ununterbrochen direkt oder indirekt an der politischen Macht beteiligt und auch wirtschaftlich einer der wichtigsten Akteure im Land. Experten schätzen ihren Anteil an der Volkswirtschaft auf acht bis 30 Prozent ein. Alle Vorgänger Mursis an der Staatsspitze des Landes seit 1952 waren ranghohe Vertreter der Streitkräfte. Der durch Ägyptens Revolution 2011 gestürzte Präsident Hosni Mubarak war vor seiner Amtsübernahme 1981 Oberbefehlshaber der Luftwaffe. Nach dessen Sturz von der Staatsspitze verlor Mubaraks Nationaldemokratische Partei (NDP) die Unterstützung der Armee. Die NDP als ziviles Aushängeschild der Staatsklasse hatte abgewirtschaftet und wurde von den Militärs fallengelassen. Bei den Präsidentschaftswahlen 2012 entschied sich die Bevölkerung gegen Ahmed Shafiq, Mubaraks ehemaligen Außenminister, NDP-Mitglied und Favorit der Generäle für das Präsidentenamt, und wählte den Muslimbruder Mohammed Mursi ins höchste zivile Staatsamt. Doch sicherte sich die Armee auch nach seiner Amtsübernahme im Juni 2012 ihren Einfluß auf die Regierung. Sie stellte erneut den Verteidigungsminister.

Mursi lieferte sich mit den Generälen in den ersten Monaten seiner Präsidentschaft einen erbitterten Machtkampf um politischen Einfluß. Die Art und Weise wie der Präsident nach und nach Schlüsselposten im Staats- und Sicherheitsapparat neu besetzte, legt die Vermutung nahe Militär und FJP hätten sich hinter den Kulissen auf eine Machtteilung verständigt. Bei der Neubesetzung der Gouverneursposten hielten sich FJP-Getreue und Vertreter aus dem Sicherheitsapparat stets die Waage. Mit seiner verfehlten Wirtschaftspolitik brachte Mursi jedoch schon nach einem Jahr im Amt die Bevölkerung gegen sich auf. Die Massenproteste der Opposition am 30. Juni waren eine Machtdemonstration der Menschen und haben die Armee gezwungen, Mursi abzusetzen und den politischen Einfluß der Muslimbrüder zurechtzustutzen. Die Armee hat zwar den Präsidenten abgesetzt und sich ins politisch Geschehen eingemischt, aber gewiß keinen Putsch durchgeführt. Der mächtigste Akteur innerhalb eines Regimes kann sich schließlich schlecht an die Macht putschen, wenn er bereits an der Macht ist.

*** Aus: junge Welt, Mittwoch, 10. Juli 2013 (Kommentar)


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