Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Alte Ordnung

Der kurze Frühling der Muslimbruderschaft in Ägypten: Gericht in Kairo bestätigt Verbot der Organisation

Von Karin Leukefeld *

Mit dem Verbot der Muslimbruderschaft in Ägypten hat das Militär für die Absetzung von Präsident Mohammed Mursi am 3. Juli 2013 Rückendeckung durch die Justiz erhalten. Mehr als 2000 Aktivsten der Organisation wurden in den vergangenen Wochen verhaftet, darunter die gesamte Führungsriege. Die Organisation hat erklärt, gegen das Verbot juristisch vorzugehen.

Ein Gericht in Kairo hatte am Montag sämtliche Aktivitäten und die Mitgliedschaft in der Muslimbruderschaft verboten. Das Eigentum der Organisation soll beschlagnahmt werden. Auch die von der Bruderschaft gegründeten Hilfs- und Nichtregierungsorganisationen wurden verboten. Unklar bleibt, ob das Verbot auch die Partei für Freiheit und Gerechtigkeit betrifft, die als politischer Arm der Muslimbruderschaft gilt. Bei den Parlamentswahlen im Januar 2012 hatte die Partei eine klare Mehrheit im Parlament erhalten.

Das Gericht begründete das Verbot damit, daß die Muslimbruderschaft »die reine Religion des Islam als Deckung für ihre Aktivitäten benutzte, die dem wahren Islam widersprechen und das Gesetz verletzen«. Ein Regierungskomitee soll das Verbot umsetzen.

Die 1928 in Kairo gegründete Muslimbruderschaft hat eine schwierige Geschichte hinter sich. Jahrzehntelang war die Organisation in Ägypten ebenso wie in allen anderen arabischen Staaten offiziell verboten. Der frühere Präsident Hosni Mubarak hatte der Organisation allerdings indirekt das politische Engagement ermöglicht, indem er die Kandidatur von »Unabhängigen« Islamisten bei Wahlen zugelassen hatte.

An den Protesten gegen Präsident Hosni Mubarak im Januar/Februar 2011 hatte sich die Muslimbruderschaft zunächst nicht beteiligt. Nachdem vor allem junge Aktivisten der Organisationsführung von der Fahne gingen und auf dem Tahrir-Platz Zelte aufbauten, ließ die Bruderschaft die Zügel locker. Nach dem Sturz von Mubarak setzte sich die gut organisierte und vernetzte Bruderschaft ungebeten an die Spitze der politisch unerfahrenen und schlecht organisierten Protestbewegung. Unterstützt von der Türkei und mit Geld aus Katar, sah es 2012 danach aus, daß die Muslimbruderschaft der eigentliche Gewinner des »Arabischen Frühlings« sein würde.

Europa und die USA hofierten die Muslimbrüder als neue politische Führung und gaben sich in Kairo die Klinke in die Hand. Präsident Mohammed Mursi, der im Juni 2012 zum ersten frei gewählten Präsidenten Ägyptens aufgestiegen war, kam Ende Januar 2013 zu einem Staatsbesuch nach Berlin, um über die finanzielle Unterstützung Deutschlands für Ägypten zu verhandeln. Zu dem Zeitpunkt tobten in Ägypten bereits tödliche Straßenkämpfe zwischen Anhängern und Gegnern der Muslimbruderschaft.

Massenhafte Proteste landesweit und eine Unterschriftenaktion, an der sich drei Millionen Menschen beteiligt haben sollen, diente dem ägyptischen Militär schließlich als Vorwand, Präsident Mursi am 4. Juli 2013 abzusetzen. Proteste gegen das Vorgehen der Armee gingen im allgemeinen Applaus der ägyptischen Öffentlichkeit unter. Tagelang kam es zu blutigen Straßenschlachten, Hunderte Menschen starben. Hochrangige Mitglieder der Organisation hatten zuletzt zugestimmt, die Absetzung von Mursi zu akzeptieren. Im Gegenzug forderten sie die Freilassung ihrer Mitglieder und die Garantie, frei politisch agieren zu dürfen.

Der Konflikt zwischen Militär und Muslimbruderschaft in Ägypten ist auch ein Konflikt zwischen den seit Beginn des »Arabischen Frühlings« konkurrierenden Golfstaaten Katar und Saudi-Arabien, sowie der Türkei. Mit der Absetzung von Mursi durch das Militär hat Saudi-Arabien sich deutlich gegen Katar und die Türkei durchgesetzt, die die Muslimbruderschaften in Tunesien, Jordanien, Syrien und die palästinensische Hamas unterstützten.

Die USA und die Europäische Union zeigten sich gegenüber dem harten Vorgehen der Militärs gegen die Islamisten zweideutig. US-Außenminister John Kerry rechtfertigte den Putsch und sagte, die Armee habe im Sinne des Volkes gehandelt und die Demokratie wieder hergestellt. Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton kritisierte das harte Vorgehen des Militärs und besuchte Mursi im Gefängnis. Zwei Stunden lang verhandelte die Lady offenbar über einen Kompromiß. Ohne Erfolg.

Zweieinhalb Jahre nach dem Aufstand auf dem Tahrir-Platz in Kairo hat das Militär in Ägypten die alte Ordnung wieder hergestellt.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 25. September 2013


Muslimbrüder nennen Verbot »politisch motiviert«

Islamisten sehen sich in Gesellschaft tief verankert. Politische Integration unausweichlich

Von Sofian Philip Naceur **


Ungeachtet ihres faktischen Verbots am Montag ist vor dem Verwaltungsgericht in Kairo ein weiteres Verfahren gegen die Muslimbrüder anhängig. Es wurde auf den 15. November vertagt. Grundlage dieser Ermittlungen ist ein Bericht eines Beratergremiums, das der Regierung in juristischen Fragen zur Seite steht. Der Report empfiehlt die Auflösung der Bruderschaft, die Organisation sei mit »bewaffneten Milizen« assoziiert. Rechtliche Grundlage der Empfehlung ist ein Gesetz aus dem Jahre 2002, das die Formierung von Nichtregierungsorganisationen verbietet, die mit paramilitärischen Gruppierungen verbunden sind. Die Empfehlungen des Gremiums sind nicht bindend, haben aber dennoch Gewicht für die Entscheidungsfindung der Regierung, die das politische und juristische Kaltstellen der Bruderschaft unterstützt. Diese verkündete, Einspruch gegen das Urteil einlegen zu wollen. Erfolgsaussichten für eine Revision des Urteils werden gemeinhin als relativ gering eingeschätzt.

Während die ägyptische Presse das Verbot vom Montag einhellig begrüßt, werfen ausländische Medien eher die Frage auf, ob ein Verbot der Bruderschaft politisch sinnvoll ist und sogar zu einer gefährlichen Zuspitzung der innenpolitischen Krise am Nil beitragen könnte. Ohne Frage ist die Muslimbruderschaft eine zutiefst intransparente Organisation. Sowohl ihre Finanzen als auch Mitgliederzahlen und Organisationsstrukturen sind bis heute nebulös. Auch die Vorwürfe, Mitglieder der Organisation hätten zu Gewalt aufgerufen, können nicht von der Hand gewiesen werden. Dennoch sind die Muslimbruderschaft und ihr politischer Arm, die Partei für Freiheit und Gerechtigkeit (FJP), Teil der politischen Realität Ägyptens und durch Verbot und Kriminalisierung werden sie sich nicht in Luft auflösen.

Nicht betroffen von dem Urteil ist der Status der Freiheits- und Gerechtigkeitspartei. Zwar wurden auch führende FJP-Mitglieder verhaftet und Klagen gegen sie eingereicht, aber sie kann weiterhin legal in Ägypten operieren. Mohammed Soudan, Generalsekretär für Auslandsbeziehungen der FJP in Alexandria, bezeichnet das Urteil vom Montag als »politisch motiviert«. Er betont, die Muslimbruderschaft habe über 60 Jahre trotz offiziellem Verbot arbeiten können. »Wir haben sehr tiefgehende Wurzeln in der ägyptischen Gesellschaft und ich glaube, dieses Urteil wird uns mehr Popularität bescheren. Wir haben einen guten Ruf in der ägyptischen Bevölkerung«, sagt Soudan. Weiter betont er durchaus pragmatisch, das Urteil könne »mehr Balance zwischen FJP und Mutterorganisation« ermöglichen und das Bild des Staatsapparat und der Armee, die für den Sturz von Präsident Mohammed Mursi verantwortlich seien, »entstellen und deformieren«. In der Tat bleibt trotz des harten Vorgehens von Sicherheitsapparat und Übergangsregierung gegen die Bruderschaft die Hoffnung bestehen, daß der unangetastete Status der FJP zu einer Stärkung des politischen Flügels der Muslimbrüder beiträgt. Um eine politische Integration der Organisation kommt Ägyptens Regime nicht umhin, will es den postrevolutionären Prozeß in ruhigere Bahnen lenken.

Die Bruderschaft hatte sich jahrzehntelang als karitative Organisation profiliert und damit Rückhalt vor allem bei der ländlichen Bevölkerung gewonnen. Der Staat zog sich insbesondere seit der Präsidentschaft Anwar Al-Sadats ab 1970 kontinuierlich aus dem Bildungs- und Gesundheitssektor zurück. Er strich die Gelder für diese Bereiche zusammen und leistete der Ausbreitung von durch die Bruderschaft aufgebauten Koran-Schulen und Gesundheitszentren, in denen das in Moscheen gesammelte Geld in kostenlose Bildungs- und Gesundheitsleistungen investiert wurde, Vorschub. Der Einflußgewinn der Organisation steht damit in direktem Zusammenhang mit dem Scheitern des ägyptischen Staatsapparats bei der Finanzierung der Gesundheits- und Bildungspolitik vor allem auf dem Land.

** Aus: junge Welt, Dienstag, 25. September 2013


Kairos Staatsfeinde

Von Roland Etzel ***

Die ägyptische Führung hat die Repressionsschraube gegen die Muslimbrüder kräftig angezogen, diesmal gleich um mehrere Drehungen und ohne sich die Mühe zu machen, dafür aktuelle Gründe anzuführen. Die Führer der konservativen islamischen Vereinigung im Gefängnis, ihre Vermögenswerte beschlagnahmt, politische Aktivitäten verboten – die Muslimbrüder sind, zweieinhalb Jahre nach dem Sturz Präsident Mubaraks 2011, wieder dort, wo sie seit ihrer Gründung 1928 bis auf zwei, drei Jahre waren: in der politischen Illegalität und auf der nationalen Liste der Staatsfeinde ganz oben.

Dazu kommt diesmal noch, dass sie den ersten gewählten Präsidenten der vieltausendjährigen ägyptischen Geschichte stellen, vor einem Vierteljahr an einen unbekannten Ort verschleppt. Es würde der Wahrheit wenig gerecht werden, schöbe man dies der »Übergangsregierung« in die Schuhe. Schon gar nicht hat jenes Kairoer Gericht, dessen Verdikt von dieser bemüht wurde, hier unabhängig Recht gesprochen. Das glaubt selbst unter den Ägyptern, die den Spruch begrüßen, wohl kaum jemand.

Nein, das war ein klares, fast schon ein Schlusswort der Generäle in Uniform oder Zivil, wie sie es die sechs Jahrzehnte vor 2011 zu halten pflegten und nach ein paar Monaten politischer Zurückhaltung nun wieder tun. Das wird ihnen leicht gemacht, solange noch so viele Ägypter ihre Militärführer für die Retter des Arabischen Frühlings halten.

*** Aus: neues deutschland, Dienstag, 24. September 2013 (Kommentar)


Dokumentiert: Warnung vor Bürgerkrieg

Annette Groth, menschenrechtspolitische Sprecherin der Fraktion Die Linke im Bundestag, erklärte am Dienstag zum Verbot der Muslimbruderschaft in Ägypten:

Das Verbot der Muslimbruderschaft und ihrer Vorfeldorganisationen durch ein ägyptisches Gericht ist eine demokratisch nicht zu rechtfertigende und politisch falsche Entscheidung. Es ist zu befürchten, daß in Folge solcher Maßnahmen die gewalttätigen Auseinandersetzungen in Ägypten weiter zunehmen werden. Ein langanhaltender Bürgerkrieg, der das Land an den Abgrund treibt, wird immer wahrscheinlicher. Die Unterdrückung jeglicher Opposition gegen die Politik der Übergangsregierung durch das ägyptische Militär ist völlig inakzeptabel und muß umgehend beendet werden.

Eine Partei zu verbieten, die aus einer demokratischen und freien Wahl als stärkste politische Kraft hervorgegangen ist, ist nicht akzeptabel. Vieles in Ägypten erinnert an die fatalen Entwicklungen in Algerien und Tunesien, die zu einer Stärkung der fundamentalistischen Strömungen geführt haben. (…)

Die ägyptische Übergangsregierung irrt, wenn sie meint, durch ein Verbot der Muslimbruderschaft die säkulare Ausrichtung des ägyptischen Staates sichern zu können. Das Gegenteil wird eintreten: Die Muslimbrüder werden in eine Märtyrerrolle gedrängt, aus der sie wahrscheinlich stärker als zuvor hervorgehen werden.

Die Muslimbruderschaft mit ihrer zum Teil fundamentalistischen Religionsauffassung kann nicht durch Repression und Unterdrückung, sondern nur durch demokratische Überzeugung und Diskussion gesellschaftlich in die Minderheit gebracht werden. Militärische Unterdrückungsmaßnahmen sind hier völlig ungeeignet und werden nur das Gegenteil bewirken. Vielmehr brauchen wir eine konsequente Verteidigung und Fortführung der demokratischen Entwicklungen in Ägypten. Es ist gerade das demokratisch nicht begründbare Verbot der Muslimbruderschaft, welches die Stärkung der Demokratie verhindert.

(Zit. n. junge welt, 25.09.2013)




Zurück zur Ägypten-Seite

Zurück zur Homepage