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Mubaraks Thron wackelt

Demokratiebewegung in Ägypten lässt sich nicht mit kosmetischen Korrekturen abspeisen

Mit einem Aufruf zum Millionenprotest steuert der Machtkampf in Ägypten einem neuen Höhepunkt zu. Die EU will in Ägypten das Streben nach mehr Demokratie unterstützen, hält sich in der Debatte um Präsident Husni Mubarak aber weitgehend zurück.

Für den »Mega-Protest« gegen Präsident Mubarak will eine oppositionelle Jugendbewegung am heutigen Dienstag (1. Feb.) in Kairo mehr als eine Million Menschen auf die Straße bringen. Das berichtete der arabische Fernsehsender Al-Dschasira. Der Staatschef hielt am Montag an seinem Amt fest und gab dem neuen Ministerpräsidenten Ahmad Schafik die Order, angekündigte demokratische Reformen umsetzen. In seinem neuen Kabinett finden sich allerdings nur etwa ein Drittel neue Minister, wie bei der Vereidigung deutlich wurde. Treue Gefolgsleute blieben im Amt.

Die Opposition beharrt auf dem Rücktritt des seit 1981 regierenden Präsidenten. Friedensnobelpreisträger Mohammed al-Baradei bekräftigte seine Forderung nach einer Regierung der nationalen Einheit, an der er auch ein führendes Mitglied der islamistischen Muslimbrüder beteiligen will. Israel reagierte alarmiert.

US-Präsident Barack Obama rief zu einem friedlichen »Übergang« in Ägypten auf. Nach Angaben seines Sprechers Robert Gibbs wollen die USA »einen geordneten Übergang zu einer Regierung« unterstützen, »die auf die Bestrebungen des ägyptischen Volkes eingeht«.

Ruhe und Ordnung im Land wiederherzustellen und anschließend freie Wahlen zu gewährleisten, sei oberstes Ziel. Das betonten die Außenminister der EU-Staaten bei ihrem Treffen in Brüssel. Die Union dürfe sich dabei aber nicht auf eine Seite schlagen, sagte Bundesaußenminister Guido Westerwelle. Die EU nehme nicht Partei für einzelne Personen, sondern »für die gute Sache der Demokratie, der Meinungsfreiheit und der Menschenrechte. Und der Rest ist eine Angelegenheit, die im Dialog in Ägypten selbst entschieden werden muss.« Vor dem Hintergrund der Unruhen in Ägypten vereinbarten Kanzlerin Angela Merkel und ihr israelischer Amtskollege Benjamin Netanjahu in Jerusalem engere Zusammenarbeit. In einer Erklärung im Namen Mubaraks, die von den staatlichen Medien veröffentlicht wurde, hieß es: »Es soll künftig mehr Raum geben für die Beteiligung der Parteien am politischen Leben mit dem Ziel, eine freie demokratische Gesellschaft zu schaffen, wie dies alle Menschen wünschen.« Regierungschef Schafik solle sich zudem um den Kampf gegen Arbeitslosigkeit und Korruption kümmern.

Wie an den Vortagen versammelten sich auch am Montagnachmittag wieder Zehntausende Demonstranten auf dem zentralen Tahrir-Platz in der Hauptstadt Kairo. Ein Aufruf zum Generalstreik, der in der Stadt kursierte, wurde nicht flächendeckend befolgt.

Derweil kritisierte die LINKE die »doppelten Standards« der deutschen Nahostpolitik. Daran drohe dieser Kurs zu scheitern. »Die Bundesregierung muss Farbe bekennen: weitere Unterstützung für korrupte, diktatorische und gewalttätige Regime oder Hilfen für die Volksaufstände in Ägypten, Tunesien und Jordanien. Beides zusammen geht nicht«, erklärte Wolfgang Gehrcke, außenpolitischer Sprecher der Linksfraktion im Bundestag.

* Aus: Neues Deutschland, 1. Februar 2011


Tahrir bleibt das Widerstandszentrum

Menschenrechtsvertreter gegenüber ND: Mit Mubarak verschwindet auch seine "Opposition" Von Karin Leukefeld, Kairo **

Die Kairoer sind auch am gestrigen Montag auf die Straße gegangen. Dennoch: Am siebten Tag der Proteste gegen den ägyptischen Präsidenten Mubarak wird eine Trennung zwischen den Demonstranten und den Millionen Menschen deutlich, die trotz massiver Einschränkungen versuchen, ihrem Alltag wieder Struktur zu geben.

Kurz nach Aufhebung der nächtlichen Ausgangssperre um acht Uhr, die am Vortag auf 16 Stunden ausgeweitet worden war, sind Zugangsstraßen und Nilbrücken zum Stadtzentrum mit Fahrzeugen blockiert. Leute versuchen, ihre Arbeitsplätze im Stadtzentrum zu erreichen, Arztbesuche oder Behördengänge zu erledigen, allerdings bleiben auch am Montag die meisten öffentlichen Einrichtungen und viele Geschäfte geschlossen.

Durch massive Präsenz der Armee rund um den Tahrir-Platz, der weiterhin das Zentrum der Proteste ist, ist ein Durchkommen noch schwieriger als am Tag zuvor. Zusätzlich zu den gepanzerten Fahrzeugen, die die Armee bereits Samstag vor dem Außenministerium und dem Gebäude des Ägyptischen Fernsehen an der Corniche al Nil zwischen der Brücke des 15.Mai und der Brücke des 6. Oktober in Stellung gebracht hatte, blockieren schwere Panzer das Nil-Ufer. Betonbarrikaden zwingen die Fußgänger durch schmale Durchgänge, an denen Taschen und Ausweise kontrolliert werden. Alle Zugangsstraßen zum Tahrir-Platz, einem wichtigen Verkehrsknotenpunkt, sind hermetisch abgeriegelt, ebenso sind die meisten kleineren Straßen des umliegenden Viertels gesperrt, in dem sich historische Hotels, westliche Botschaften und vor allem viele Banken befinden, die seit Tagen geschlossen sind.

Der Taxifahrer, der nach einem langen Umweg über die Kasr-al-Nil-Brücke einen Weg zur Gartenstadt gefunden hat, entschuldigt sich freundlich, als er vor einem Militärposten stoppt. Von hier sei der Weg nicht mehr weit, erklärt er, bevor er rasch wieder umkehrt.

Die jungen Soldaten sind außerordentlich höflich, als sie nach dem Ausweis fragen, und zeigen hilfsbereit den Weg. In der Kasr-al- Aini-Straße, die normalerweise direkt auf den Tahrir-Platz führt, wird der Verkehr umgeleitet, Soldaten kontrollieren Papiere in Bussen und Minibussen. In einer scherbenübersäten Seitenstraße vor einer Behörde liegen zerstörte Autowracks.

Nicht weit von hier wohnt Hisham Kassem, früherer Herausgeber der oppositionellen Zeitung «Al Masri al Youm« und ehemals Vorsitzender der ägyptischen Menschenrechtsorganisation. Auch er war bei den Demonstrationen dabei, wurde mit Tränengas made in USA eingenebelt und hat erlebt, wie rechts und links von ihm Menschen von Gummigeschossen getroffen umfielen. Vor ihm auf dem Tisch hat er leere Patronenhülsen und Tränengaskartuschen aufgebaut, die er aufgesammelt hat.

»64 Milliarden Ägyptische Pfund hat die Börse schon verloren, die Banken sind geschlossen, ebenso die Gerichte – und das alles, weil ein einziger Politiker nicht bereit ist zurückzutreten«, ärgert sich Kassem. Stattdessen habe er seine Minister für die Fehler verantwortlich gemacht, die ihm angelastet werden. Das sei »ein verrücktes, absurdes Szenario, das aber nicht ewig dauern wird«, ist Kassem überzeugt. »Die Armee wird ihn auf Dauer nicht stützen, schon jetzt haben Generäle auf die Anordnung, mehr Gewalt gegen die Demonstranten einzusetzen, geantwortet, sie seien Soldaten, keine Schlächter.«

Die legalen Oppositionsparteien hätten allerdings kläglich versagt, meint Kassem auf die Frage, wer auf dem Tahrir-Platz die Demonstrationen organisiere. »Die Leute kommen, weil sie das Regime satt haben, aus allen Teilen der Gesellschaft«, sagt er, auch wenn sie vermutlich nur einen Bruchteil der 80 Millionen Ägypter repräsentierten. Nicht mehr als zehn Prozent seien Anhänger der Muslim-Bruderschaft, die sich von Anfang an zurückgehalten habe. Inzwischen fordert die Organisation die Aufhebung des Ausnahmezustandes und die Auflösung des Parlaments. Auch die oppositionelle Wafd-Partei hatte sich erst zu einer Unterstützung der Proteste durchgerungen, nachdem die Jugendorganisation Parteichef Sayyid al-Badawi mit ihrer Teilnahme an den Demonstrationen vor vollendete Tatsachen stellte. Diese Opposition habe das Regime geschaffen, sagt Kassem. »Mit Mubarak wird auch seine Opposition verschwinden.«

Um die Mittagszeit strömen immer mehr Menschen auf den Tahrir-Platz durch die Zugänge, die das Militär für die Demonstranten geöffnet hält. Alt und Jung, traditionell und modern gekleidet, viele verbringen schon Tage dort. Zelte sind aufgebaut, Essen wird verteilt, die Menschen richten sich auf einen weiteren Tag des Widerstandes ein.

Präsident Hosni Mubarak verweigert seinem zornigen Volk weiter eine Antwort. Die Ausgangssperre wird am Montag um eine weitere Stunde verlängert und beginnt bereits um 15 Uhr. Während der Verkehr um diese Zeit deutlich zurückgeht und Hubschrauber über dem Stadtzentrum kreisen, ist der Tahrir-Platz weiterhin dicht mit Menschen gefüllt, die nicht müde werden, ihre Botschaft zu skandieren: »Mubarak muss gehen.«

** Aus: Neues Deutschland, 1. Februar 2011


Erdogans kühle Reaktion

Misstrauischer Blick auf arabische Revolutionen

Von Jan Keetman, Istanbul ***


Wenn es um innenpolitische Fragen geht, dann beruft sich der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan gerne auf den »Willen der Nation« und »Demokratie«, seit einiger Zeit sogar auf eine »fortgeschrittene Demokratie«. Doch für die Außenpolitik gilt das nicht. Entsprechend lange dauerte es, bis man sich, nach dem der Sturz des Regimes nicht mehr zweifelhaft war, zu Tunesien geäußert hat. Zu Ägypten steht eine klare Stellungnahme noch aus.

Nun ist zweierlei Maß für Innen- und Außenpolitik keine türkische Spezialität, Europäer und Amerikaner können es auch und nennen es »Realpolitik«. Doch die Regierung Erdogan zählt gerade einige der am meisten kritisierten Regimes in der Region zu ihren besten Freunden. Der türkische Staatspräsident und der Ministerpräsident waren die ersten, die ihrem Kollegen Mahmud Ahmadinedschad zu seinem umstrittenen Wahlsieg vor anderthalb Jahren gratulierten. Die folgende blutige Unterdrückung der Opposition blieb in Ankara unkommentiert.

Keine Probleme hatte die Regierung Erdogan auch damit, den international wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit gesuchten sudanesischen Präsidenten Omar al-Baschir zu empfangen. Nur aufgrund internationalen Drucks kam ein weiterer Staatsbesuch Baschirs in der Türkei nicht zustande.

Bisher gibt es nur einen einzigen Fall, in dem sich die Regierung Erdogan für die Wahrung demokratischer Prinzipien in einem Nachbarland eingesetzt hat. Das war der Wahlsieg der Hamas im Gaza-Streifen.

Im Falle von Ägypten hat sich Ankara bisher nicht aus der Deckung gewagt. Das könnte sich aber ändern, denn anders als im Falle Irans und Syriens haben Erdogan und seine gemäßigt islamische Partei AKP kein besonders gutes Verhältnis zum Mubarak-Regime. Die Unterdrückung islamischer Gruppen, insbesondere der Moslembrüder in Ägypten, wird in der AKP, die selbst aus einer islamischen Bewegung hervorgegangen ist, kritisch gesehen. Islamische Medien in der Türkei hatten keine Probleme, sich auf die Seite der Demonstranten zu schlagen.

Es wäre daher durchaus denkbar, dass Erdogan demnächst den Ton gegenüber Mubarak ändert, zumal die Erosion von Mubaraks Macht ohnehin immer weiter geht. Wenn die Revolutionäre auch in Ägypten siegen, dann verändern sich die Koordinaten der türkischen Politik ohnehin.

*** Aus: Neues Deutschland, 1. Februar 2011


Demokratische Nachhilfe

Von Roland Etzel ****

Deutsche Politiker sind in Sorge, wie es in Ägypten weiter geht. Naheliegend wäre gewesen, dafür als erstes den dortigen Machthaber aufzufordern, seine repressiven Maßnahmen einzustellen. Aber manche kommen auch ohne Umweg auf den Kern ihrer Botschaft zu sprechen. Vielleicht sollte man ihnen dafür sogar dankbar sein.

Da wäre zum Beispiel der außenpolitische Sprecher der Union, Philipp Mißfelder. Von ihm wusste man bisher, dass er künstliche Hüften für Rentner nicht mehr lohnenswert findet. Mißfelder hat offenbar auch Mubarak bereits abgehakt und fürchtet nun die »falschen« Nachfolger. Keiner wisse, wohin die Revolution geht, barmt der CDU-Mann und malt uns den ultraislamistischen bösen Muslimbruder an die Wand. Doch nicht nur den Schwarzen, auch den deutschen Grünen sind die islamgrünen Ägypter zuwider. Je schneller Ägypten jetzt zur Demokratie zurückfinde (wann soll die eigentlich in Ägypten stattgefunden haben?), sagt Fraktionschef Trittin, desto weniger Chancen hätten Islamisten. Das ist schon bemerkenswert, denn dass die Muslimbruderschaften die am längsten unterdrückte und dennoch größte Oppositionsgruppe Ägyptens sind, bestreitet niemand.

Auf welches Recht berufen sich also die deutschen Demokratielehrer, wenn sie den Ägyptern trotzdem wie selbstverständlich vorschreiben, wer auf keinen Fall bei ihnen regieren dürfe?

**** Aus: Neues Deutschland, 1. Februar 2011 (Kommentar)

Dokumentiert:

Deutsche Nahost-Politik bedarf dringend neuer Orientierung

Pressemitteilung von Wolfgang Gehrcke, 31.01.2011

"Die Bundesregierung muss Farbe bekennen: weitere Unterstützung für korrupte, diktatorische und gewalttätige Regime oder Hilfen für die Volksaufstände in Ägypten, Tunesien und Jordanien. Beides zusammen geht nicht", erklärt Wolfgang Gehrcke anlässlich der heutigen deutsch-israelischen Regierungskonsultationen. Der außenpolitischer Sprecher der Fraktion DIE LINKE warnt: "Die deutsche Nahostpolitik droht an ihren doppelten Standards zu scheitern." Gehrcke weiter:

"Während weltweit der ägyptische Präsident Mubarak berechtigterweise zum Rücktritt gedrängt wird und Hoffnung auf mehr Demokratie in Ägypten, Tunesien und Jordanien aufkeimt, betrachtet die israelische Regierung die Volksaufstände in diesen Ländern als existenzielle Gefahr. Der von Mubarak eingesetzte Vize-Präsident Suleiman ist keine demokratische Alternative. Der Geheimdienstchef mit engsten Verbindungen zum Mossad und der CIA verantwortet geradezu Repression, Folter und Gewalt in Ägypten.

Bei den deutsch-israelischen Regierungsgesprächen sollte die Bundesregierung eine einfache Forderung präsentieren: Karten auf den Tisch! Deutschland als Mitglied im Weltsicherheitsrat und als Teil der Europäischen Union – insofern also einflussreich im Nahost-Quartett – kann nicht länger widerspruchslos hinnehmen, dass Israels Ministerpräsident Netanjahu zwar von einer Zwei-Staaten-Lösung redet, seine Regierung aber alles tut, um eine Zwei-Staaten-Lösung unmöglich zu machen. Die Eckpunkte einer Zwei-Staaten-Lösung sind internationale klar vereinbart: die Gründung eines lebensfähigen palästinensischen Staates in den Grenzen von 1967 mit der Hauptstadt Ost-Jerusalem. Die israelische Regierung muss erklären, ob sie bereit ist, diese Eckpunkte ohne Einschränkungen zu akzeptieren. Deshalb: Karten auf den Tisch!

Israel wäre gut beraten, nicht länger die Illusion zu verbreiten, die Volksaufstände in Ägypten und Jordanien hätten nichts mit der Demütigung der Palästinenserinnen und Palästinenser, vor allem der Menschen in Gaza, zu tun. Auch die Zurücksetzung der arabisch-palästinensischen Bevölkerung in Israel wird in den arabischen Ländern mit Zorn und Empörung beantwortet. Wer Demokratie will, muss solche Zustände beenden und darf nicht länger mit antidemokratischen Regimen paktieren. Das wiederum gilt für Deutschland und Israel."




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