Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Ägypten: Brotunruhen und Streiks

Ein Generalstreik am 4. Mai kam nicht zustande. Doch im Land brodelt es

Von Jürgen Stryjak *

Auf verschiedene Weise fanden die Bilder von den Straßenschlachten in Al-Mahalla ihren Weg in die Öffentlichkeit, und das Mubarak-Regime in Ägypten reagierte prompt. Es steckte Blogger und Webseitenbetreiber ins Gefängnis, konfiszierte Teile der Ausrüstung einer ägyptischen Firma, die TV-Übertragungen ausländischer Sender ermöglicht, und es verhaftete nationale wie internationale Beobachter.

Denn was am 6. und 7. April in der Textilarbeiterstadt im Norden des Landes geschehen war, alarmierte das Regime. Demonstranten lieferten sich Straßenschlachten mit der Polizei. Autos und Geschäfte brannten, ein Personenzug, der nicht rechtzeitig bremsen konnte, fuhr durch Brandherde, die auf den Schienen loderten. Eine Gruppe junger Männer riss eine Leuchttafel mit dem Bildnis Hosni Mubaraks zu Boden und trampelte wütend darauf herum. Schnell tauchte im Internet die Formulierung "Al-Mahalla-Intifada" auf. Durch Fernsehsender wie Al-Dschasira erreichten die Bilder die ägyptischen Zuschauer im Stundentakt, auf Webseiten wurden Handy-Mitschnitte tausendfach abgerufen. Die Regierung befürchtet, dass der Funke überspringt und das Land von Protesten überzogen wird.

100000 Brote

In den letzten Monaten explodierten die Preise für fast alle Grundnahrungsmittel. Nach Angaben der Weltbank müssen rund 30 Millionen der 75 Millionen Ägypter mit 1,30 Euro pro Tag auskommen, doch ein Liter Milch kostet inzwischen schon einen halben Euro. Brot wurde in den letzten zwölf Monaten um 48,1 Prozent teurer, Pflanzenöle und Bratfette um 45,2 Prozent, Geflügel um 140 Prozent. Bei gewaltsamen Auseinandersetzungen vor Bäckereien, die subventioniertes Fladenbrot verkaufen, starben im März mindestens elf Menschen. Inzwischen verteilt die Armee allein in Kairo täglich 100000 Brotlaibe.

Die Verzweiflung über das soziale Elend ist groß, aber es existiert keine politische Kraft, die diese Wut zu wirkungsvollen Aktionen bündeln könnte. Einen Generalstreik, der am 6. April das gesamte Land lahmlegen sollte, erstickte das Regime mit dem bislang vermutlich größten Aufgebot an Sicherheitskräften - außerdem verbesserte es die Brotversorgung an diesem Tag. "Ein Apparat mit 1,7 Millionen Sicherheitsbeamten war im Einsatz, offensichtlich mit dem gesamten Personal", sagt Ahmed Salah von der Oppositionsbewegung Kifaya, zu deutsch "Es reicht!", "und am 6. April haben wir nicht eine Schlange vor den subventionierten Bäckereien gesehen. An dem Tag bekamen die Leute Brot. So was gab's seit Jahren nicht."

Blinde Gewalt

Anlass des Generalstreiks war ein Streik, den die Arbeiter von Ägyptens größter staatlicher Textilfabrik in Al-Mahalla angekündigt hatten. Ägyptische Cyberaktivisten riefen zu Solidaritätsaktionen mit den Textilarbeitern auf, in einem Forum der Internetplatform Facebook, das rund 2000 Mitglieder zählt. Aber die meisten Arbeiter im Land sind nicht online. Die Textilarbeiter von Al-Mahalla kommunizieren über Flugblätter im Werk. Sie haben keine Gewerkschaften, die ihre Forderungen unterstützen, denn die Gewerkschaften vertreten zumeist die Interessen des Regimes. Die Förderation der ägyptischen Gewerkschaften sorgt vor allem dafür, dass die 23 Berufsgewerkschaftsverbände die beiden wichtigsten Gesetzesforderungen erfüllen. Und die lauten: keine politischen Aktivitäten, Streiks nur im Ausnahmefall und mit offizieller Genehmigung.

So endete die Protestaktion der Textilarbeiter von Al-Mahalla, ohne Führung und ohne Konzept, am Abend des 6. April in Ausbrüchen blinder Gewalt, bei denen vier Demonstranten starben. Die verschiedenen Strömungen der Opposition agieren in getrennten Kanälen, die - noch - nicht zusammenfließen. Die islamistische Muslimbruderschaft, Ägyptens am besten organisierte Oppositionskraft, schaut derweil zu. Auf soziale Fragen antwortet sie bislang nur mit Wohlfahrts-ideen. Aber die Menschen wollen Brot und keine frömmelnden Debatten.

Land vor dem Wandel

Anlässlich von Mubaraks 80. Geburtstag am 4. Mai sollte eine Neuauflage des Generalstreikversuchs stattfinden. Wieder wurde der Aufruf dazu über das Internet und über Handy-Botschaften verbreitet, diesmal schloss sich ihm sogar die Muslimbruderschaft an, aber der Aufruf versandete. Mubarak, der gerade die Gehälter der Staatsdiener (28 Prozent der Erwerbstätigen) um 30 Prozent angehoben hatte, konnte den Tag feiern, an dem laut halboffizieller Tageszeitung Al-Ahram, "Ägypten neu geboren wurde". Doch unter der Oberfläche brodelt es. "Allein im letzten Jahr", sagt Alaa Al-Aswani, der prominenteste regimekritische Schriftsteller des Landes, "gab es 1000 illegale Streiks in Ägypten. Ich glaube, das Land steht kurz vor einem großen Wandel. Fast jeder spürt das."

* Aus: ver.di Publik 05/08;
http://publik.verdi.de/2008/ausgabe_05/gewerkschaft/international/seite_8/A2



Zurück zur Ägypten-Seite

Zur Menschenrechts-Seite

Zurück zur Homepage