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Mit Klappmesser in die Schlacht

Ägypter gehen aufeinander los – und ein stolzes Land zerfällt

Von Oliver Eberhardt, Kairo *

Ein stolzes Land zerfällt. Nach den Freitagsgebeten sind die Sicherheitskräfte in Ägypten erneut mit ganzer Härte gegen Demonstranten vorgegangen; es gab viele Tote und Verletzte. Verstärkung bekommen Polizei und Armee mittlerweile von Bürgermilizen: Gruppen von Jugendlichen, die Jagd auf Muslimbrüder machen.

Sie könnten Mitschüler sein. Kollegen. Freunde sogar. Heute sind sie Feinde. Todfeinde. Auf dieser Straße hier im Zentrum von Kairo herrscht eine gespenstische Leere, als plötzlich ein Van angerast kommt, die Türen auffliegen, und eine Gruppe von acht oder neun jungen Männern heraus springt. Klappmesser in der Hand. Metallrohre, umwickelt mit Stacheldraht. Kann man sie fragen, was sie vorhaben? Ihre Blicke raten davon ab. Ein Poster mit dem Konterfei von Abdelfattah al-Sisi auf einem der Sitze verrät, auf wessen Mission sie sind, als sie die Straße hinunter jagen – dorthin, wo die Schüsse zu hören sind, wo das Tränengas Richtung Himmel steigt.

Dorthin, wo auch Tarik und einige seiner Freunde hin wollten. Minuten zuvor sind sie die Straße hinunter gelaufen zum Ramses-Platz. Dort haben sich nach dem Ende der Freitagsgebete Zehntausende versammelt, um gegen die Absetzung von Präsident Mohammad Mursi, gegen die Übergangsregierung, die de facto eine Militärregierung ist, zu demonstrieren.

Auch Tarik und seine Kumpel, allesamt höchstens 18, sind wütend. Wütend auf die Polizei, das Militär, die am Mittwoch die überwiegend friedlichen Protestlager in Kairo geräumt haben. Wütend auch auf das Innenministerium, das dafür verantwortlich ist, dass auch heute, am Freitag, noch mehr als 100 Tote in einer Moschee in der Nähe der ehemaligen Protestlager liegen, ohne dass sie beerdigt werden können. es gibt immer noch keine Totenscheine.

Die jungen Männer wissen es und sagen es offen: Auch sie können bald schon an einem solchen Ort ihrer letzten Würde beraubt sein. »Wenn man es mit Terrorismus zu tun hat, sind die Bedingungen von Bürger- und Menschenrechten nicht anwendbar«, zitierte die englischsprachige Ausgabe des Wall Street Journal am Freitag Ahmed Ali, Sprecher des Verteidigungsministeriums.

Ein Leitsatz, der heute das Handeln vor allem der Befürworter des Umsturzes Anfang Juli bestimmt. In den Morgenstunden waren in vielen Stadtvierteln Kairos Flugblätter aufgetaucht, auf denen die Bevölkerung dazu aufgerufen wird, die Nachbarschaft und ihren Besitz zu verteidigen.

Gerüchte über angebliche Gräueltaten der Muslimbrüder machen die Runde. Immer und immer wieder werden die mittlerweile offiziell 638 Todesopfer am Mittwoch gerechtfertigt, teils mit absurd anmutenden Argumenten. Der ständige Lärm der von dem Protestlager auf dem Rabaa-al-Adawija-Platz ausging, sei unzumutbar gewesen, sagte ein Anwohner, bevor er sich wortreich über die »stinkenden Muslimbrüder« aufregte.

Und so sind es an diesem Nachmittag nicht mehr nur pro-Mursi-Demonstranten und Sicherheitskräfte, die sich gegenüber stehen. Es sind auch Bürger, Jugendliche, bereit auch mit Gewalt das zu verteidigen, was sie für das wahre Ägypten halten. Es ist gerade erst sechs Wochen her, aber heute scheint es wie ein ganzes Jahrhundert, seit kurz nach dem Umsturz säkulare und religiöse junge Ägypter in Cafés und auf Plätzen emotional, ja, aber auch friedlich über den richtigen Weg diskutierten.

Es ist schon eine Ewigkeit, in der die Medien von der Übergangsregierung gleich geschaltet worden sind, und diese Medien den Menschen dann einen nicht endenden Strom an Berichten über die Gegner des Umsturzes präsentierten. Der emotionalisierte und radikalisierte. Auf Seiten der Muslimbrüder, in den Protestlagern, wo die Menschen fast ausschließlich den Ansichten der Vertreter des eigenen Lagers ausgesetzt waren, passierte etwas Ähnliches.

»Das, was wir in den vergangenen Wochen erlebt haben, ist das Entstehen eines Bürgerkrieges«, sagt ein Diplomat der Europäischen Union. Die bemüht sich nach wie vor gemeinsam mit den Vereinigten Staaten darum, die Lage zu entspannen. Eine Bemühung, von denen viele derjenigen, die daran beteiligt sind, offen eingestehen, dass die Hoffnungen gering sind. »Es wird zunehmend deutlich, dass die Übergangsregierung absolut nichts zu sagen hat«, sagt der Diplomat: »Sie beschließt das, was al-Sisi will, und verleiht seinen Wünschen damit eine gewisse Legitimität. Er kann weiterhin behaupten, dass das alles nur für den Übergang ist, und alles seinen geregelten Gang läuft.«

So erklärt sich auch, dass der Generalstabschef, Verteidigungsminister und Vizeregierungschef in Personalunion derzeit nicht in der Öffentlichkeit auftritt. Dadurch wolle er wohl den Eindruck vermeiden, dass es sich bei der Übergangsregierung tatsächlich um eine Militärregierung handelt, glaubt der Diplomat.

Doch der Eindruck lässt sich auch so nicht mehr aus der Welt schaffen, auch nicht bei einer zunehmenden Zahl von säkularen Ägyptern: Unter den Demonstranten an diesem Freitag fallen immer wieder Menschen auf, die von sich sagen, dass sie sich nicht mit den Zielen der Muslimbrüder identifizieren, aber gegen die aktuellen Entwicklungen sind.

Vor allem sie äußern die Hoffnung, dass vielleicht Mohammad al-Baradei den Weg zurück in die Politik findet. Dem Vernehmen nach spielte er in dem Friedensplan eine zentrale Rolle, mit dem Europäische Union und Vereinigte Staaten am Dienstag bis zur letzten Minute versuchten, die Räumung und damit die zu erwartende Eskalation zu verhindern. Er sollte Übergangspräsident Adly Mansur, einen Juristen ohne politische Erfahrung, ablösen. Für die Muslimbruderschaft wäre das akzeptabel gewesen. Doch die Regierung lehnte ab – offiziell, weil man den Muslimbrüdern nicht vertraut. Doch tatsächlich scheint es so gewesen zu sein, dass damit auch ein Machtverlust al-Sisis einher gegangen wäre.

Seit seinem Rücktritt am Mittwochabend ist al-Baradei nicht mehr in der Öffentlichkeit aufgetreten. Mitarbeiter sagen allerdings, die Ereignisse hätten ihn »tief erschüttert«.

Ereignisse, die sich am Freitag Nachmittag zuspitzen. Jugendliche wie jene, die Stunden zuvor aus dem Van gestürmt sind, das Klappmesser, das Stacheldraht-Rohr in der Hand, und Jugendliche wie Tarek und seine Freunde liefern sich rund um den Ramses-Platz Straßenschlachten.

Die Zahl der Opfer ist derzeit kaum zu beziffern, auch nicht von den Krankenhäusern. Dort befinden sich die Mitarbeiter am Rande der Verzweiflung. Verbandsmittel, Medikamente, selbst saubere Bettücher – es fehlt an allem, nachdem man seit Mittwoch Tausende Verletzte hatte behandeln müssen. Nachschub ist nicht in Sicht.

Tarek und die anderen hatten sich, bevor sie losgezogen sind, ihre Namen auf den Unterarm geschrieben, damit man sie identifizieren kann. Sie wissen, dass heute ihr letzter Tag sein kann. Am Mittwoch haben sie gelernt, dass die Polizei auf die Köpfe zielt, bevor sie schießt. Und dass man danach nicht mehr erkennbar ist. »Ich will nicht, dass alle so denken wie ich«, sagte Tarek, bevor sich die Gruppe auf den Weg machte: »Ich möchte Demokratie.«

* Aus: neues deutschland, Samstag, 17. August 2013


Militär schickt Panzer

Am »Tag des Zorns« der Muslimbrüder kommt es in Ägypten erneut zu schweren Kämpfen. Zahlreiche Tote in mehreren Städten und brennende Kirchen

Von Sofian Philip Naceur, Kairo **


Seit der gewaltsamen Räumung der Protestcamps der Muslimbrüder mit nach neuen amtlichen Angaben 624 Toten versinkt Ägypten in einer Spirale der Gewalt. Die Bruderschaft goß dabei weiteres Öl ins Feuer und rief für den gestrigen Freitag zu einem »Tag des Zorns« auf. Der Kampf für den Sturz des »illegitimen Regimes« – gemeint ist die vom Militär eingesetzte Übergangsregierung von Interimspräsident Hasem ­Beblawi – sei eine »islamische, nationale, moralische und menschliche Pflicht«, heißt es auf ihrer Website. Dutzende Protestzüge formierten sich allein im Großraum Kairo und zogen zum Ramses-Platz im Zentrum der Hauptstadt. Heftige Ausschreitungen zwischen Sicherheitskräften und teils bewaffneten Anhängern der Bruderschaft brachen aus. Kairos Innenstadt wurde zum Kriegsgebiet. Auch in anderen Städten des Landes zogen Anhänger der Bruderschaft auf die Straße, attackierten Polizei- und Militäreinrichtungen und brannten Regierungsgebäude nieder. In Kairo, der Hafenstadt Damietta sowie der Stadt Ismailia am Suez-Kanal gab es erneut zahlreiche Tote.

In Oberägypten wurden christliche Einrichtungen von aufgebrachten Anhängern der Bruderschaft angegriffen. In Minya, Assiut, Sohag und Fayoum, Städten, die in den letzten Jahren immer wieder von religiös motivierter Gewalt erschüttert wurden, brannten Dutzende Kirchen nieder. Auch in Suez, Kairo und Giza wurden Kirchen angezündet. Die Maspero Youth Union, eine christliche Jugendorganisation, verurteilte die Brandstiftungen aufs schärfste und warf der Bruderschaft vor, sich bei den Christen für den Sturz Mohammed Mursis rächen zu wollen. Die Partei für Freiheit und Gerechtigkeit (FJP), der politische Arm der Muslimbruderschaft, verurteilte die Angriffe auf Christen offiziell. Der Sprecher der Muslimbrüder, Gehad Al-Haddad, sagte allerdings, das Blutbad vom Mittwoch erschwere es der Organisation, ihre Mitglieder und Anhänger zur Mäßigung zu bewegen. Die Bruderschaft hat offenbar die Kontrolle über den gewaltbereiten Anteil ihrer Anhängerschaft verloren. Dennoch hat ihre Führung eine Eskalation der Gewalt billigend in Kauf genommen, auch wenn noch nicht hinreichend geklärt ist, ob Übergangsregierung und Armee oder die Bruderschaft für den Abbruch der Verhandlungen über eine friedliche Lösung der Krise verantwortlich ist.

Ein Anwohner eines in Gizeh attackierten christlichen Gemeindehauses stellte zudem die berechtigte Frage, warum keine Sicherheitskräfte an Kirchen postiert wurden. Seit 2011 haben Armee und Polizei bei Ausschreitungen zwischen Christen und Muslimen sowie politischen Gegnern immer wieder gezielt nicht eingegriffen. Sie ließen statt dessen die Gewalt eskalieren und sich nach spätem Eingreifen öffentlichkeitswirksam für die Wiederherstellung der Ordnung feiern. Die Attacken auf Ägyptens Christen könnten derweil die internationale Kritik am harten Vorgehen von Polizei und Armee gegen die Protestcamps der Bruderschaft schnell verstummen lassen.

Die Opposition gibt unterdessen ein erschreckendes Bild ab. Die Nationale Heilsfront, eine Allianz wirtschaftsliberaler Parteien, der auch die Partei des zurückgetretenen Vizepremiers Mohamed ElBaradei angehört, rief die Bevölkerung auf, gegen den Terror der Muslimbrüder auf die Straße zu gehen, machte diese für die Eskalation verantwortlich und stellte sich demonstrativ auf die Seite der Regierung.

** Aus: junge Welt, Samstag, 17. August 2013


Kleiner Pressespiegel

"The Washington Post" (USA):
Die arabischen Revolutionen verlangen kühne Initiativen von den Vereinigten Staaten und alles andere als Machtstreben, um den Ausgang (im Sinne der USA) zu beeinflussen. Aber in der Außenpolitik ist Obama ein Präsident der halben Sachen, der endlosen internen Debatten, gefolgt von Kompromissentscheidungen des Präsidenten, die keiner Strategie folgen.

"Le Figaro" (Frankreich):
Sie (die Muslimbrüder) haben sich (...) als unfähig erwiesen, das Land demokratisch zu regieren. Durch diesen Machtkampf wird ihnen jetzt jede Beteiligung an einer Rückkehr zur Demokratie unter der Führung der Militärs unmöglich gemacht. Man kann nur hoffen, dass sich auf beiden Seiten Stimmen der Vernunft erheben, um einen Dialog zu fordern.

"De Volkskrant" (Niederlande):
Dänemark hat am Donnerstag einen ersten Schritt in die richtige Richtung gemacht, indem es die Hilfe für Ägypten auf Eis legte. Andere europäische Staaten täten gut daran, sich ein Beispiel zu nehmen.

"Libération" (Frankreich):
Diese blinde Gewalt kann letztendlich nur den Islamisten in Ägypten und in der gesamten muslimischen Welt nützen. Die ägyptischen Generäle zerstören den Arabischen Frühling.

"Die Presse" (Österreich):
US-Außenminister John Kerry ging so weit, das Vorgehen der Generäle mit ›Wiederherstellung der Demokratie‹ zu umschreiben. Kann man es ihnen übel nehmen, das als Freibrief zu interpretieren? Zumal sie in den Mubarak-Jahrzehnten ja eine wichtige Lektion gelernt haben: Egal, was wir tun, das Geld aus Washington fließt.

"De Morgen" (Belgien):
Da es den Ägyptern nicht gelingt, muss die internationale Gemeinschaft die Gegner an einen Tisch bekommen. Da vor allem die Muslimbrüder überzeugt werden müssen, wäre es gut, käme die Initiative aus der arabischen Welt und von den Muslimen selbst.

"Dagsavisen" (Norwegen):
Abgrund muss nicht Bürgerkrieg bedeuten, die Bruderschaft ist militärisch zu schwach. Wahrscheinlicher sind die Fortsetzung der brutalen Kampagne gegen die politische Organisation der Bruderschaft, Straßenkämpfe und eine neue Periode unter militärischem Kriegsrecht. Das kann Tage, Wochen oder Jahre dauern.

"Magyar Nemzet" (Ungarn):
In Ägypten ging jetzt eine weitere Revolution über die Bühne, auf die vielleicht noch eine folgen wird – und noch eine und noch eine. Die große Frage ist nur, ob es dann noch ein Ägypten geben wird, das man in die wahre Glückseligkeit wird führen können.

"MILLIYET" (Istanbul):
Wie konnte es dazu kommen? Einer der wichtigsten Gründe dafür ist, den anderen nicht zu akzeptieren. Es gab viele, die sich über die Regierung Mursi beklagten. Sie kamen am Tahrir-Platz zusammen und forderten am Ende den Rücktritt des Staatspräsidenten. Dieser antwortete mit harter Hand. Aber die Differenzen hätten nicht auf der Straße, sondern am runden Tisch geklärt werden sollen. Doch keiner war zu einem Kompromiss bereit. Die Chance, im Ramadan eine Lösung zu finden, wurde vertan. Mit dem Massaker diese Woche ist Ägypten am kritischsten Kapitel seiner Geschichte angelangt. Jetzt gibt es nach so viel Blutvergießen nicht einmal einen Funken Hoffnung, den demokratischen Weg wieder freizumachen.

"THE TIMES" (London):
Ägyptens Militärführer haben die Wahl. Nach einer Woche unerträglicher Gewalt können sie ihren Kurs fortsetzen und ihr Land zu einem jahrzehntelangen Konflikt zwischen einem Polizeistaat und einem islamistischen Aufstand verdammen. Oder sie beruhigen die Bevölkerung und halten sich an ihr Versprechen, Ägypten auf den Weg einer repräsentativen Regierung zu führen. General Al-Sisi, der für den Tod von mehr als 600 Zivilisten verantwortlich ist, will sicherlich keine Lehren von Außenstehenden für sein leidgeplagtes Land hören. Doch für die Zukunft Ägyptens und um Islam und Demokratie miteinander zu versöhnen, muss Al-Sisi das Ruder herumwerfen und einen Weg der Versöhnung einschlagen.

"DE VOLKSKRANT" (Amsterdam):
"Das Vertrauen in den politischen Prozess wurde diese Woche vollständig untergraben - sowohl außerhalb Ägyptens, als auch im Land selbst. Dadurch nimmt die Gefahr, dass Gewalt als einziger Ausweg gesehen wird, weiter zu. Das Bild vom Syrien-Szenario, mit Zehntausenden von Toten und Hunderttausenden von Flüchtlingen, drängt sich nachdrücklich auf. Ihm kann man nur entgehen, wenn beide Seiten die Sinnlosigkeit einer Eskalation einsehen und empfänglich werden für die Aufrufe zum Dialog. Das ist sicherlich keine sehr realistische Erwartung.

"DIE BURGER" (Kapstadt):
Man kann nur ungläubig den Kopf darüber schütteln, wie die Militärdiktatur in Ägypten auf die Proteste der Muslim-Brüder reagiert. Soldaten haben bereits Hunderte Menschen erschossen und den Ausnahmezustand ausgerufen. Das ägyptische Regime erreicht damit nur eine weitere Polarisierung, und in den Reihen der Muslimbrüder werden die Extremisten gestärkt. Ihnen spielt das Blutvergießen in die Hände. Damals, während des Aufstands gegen den früheren Präsidenten Mubarak, hielten sich die radikalen Islamisten im Hintergrund. Nach seinem Sturz waren liberale und demokratische Kräfte aber nicht in der Lage, das Vakuum zu füllen - das taten die Muslimbrüder als die am besten organisierte Opposition. Nach ihrem Wahlsieg führte ihr Kandidat Mursi das Land in Richtung einer theokratischen Diktatur. Wer sich ihr in den Weg stellte, wurde einfach beiseite gefegt. Daher sollte sich jetzt niemand wundern, wenn Ägypten auf einen Bürgerkrieg zusteuert und eine Brutstätte des Terrors wird.

"GAZETA WYBORCZA" (Warschau):
Die Reaktion des Westens auf die Ereignisse in Ägypten sollte gut überlegt sein. Wenn die Europäische Union und die USA das Blutvergießen verurteilen, interpretieren die Muslimbrüder dies als Legitimation für weitere Proteste. Liberale, weltlich orientierte Ägypter wiederum empören sich, dass der Westen keine Ahnung habe, was tatsächlich in Ägypten vor sich gehe. Ägypten braucht Unterstützung, um seine Wirtschaft zu retten. Wenn diese kollabiert, wären die Konsequenzen unabsehbar. In die Länder am Persischen Golf und nach Europa könnten viele Emigranten strömen, die Ägypten für Arbeit und Brot verlassen. Erste Symptome dieser Art sind schon jetzt erkennbar.

"ROSSIJSKAJA GAZETA" (Moskau):
Die Ereignisse der letzten Tage lassen vermuten, dass sich die Unruhen in Ägypten mit der gleichen Intensität fortsetzen werden. Die Islamisten lehnen die Zusammenarbeit mit der neuen Regierung kategorisch ab, und sie haben den Aufruf der USA, der Gewalt im Lande ein Ende zu setzen, offenbar als Unterstützung wahrgenommen. Frankreich und Großbritannien bestehen darauf, Europa solle eine harte Position in Bezug auf die Situation in Ägypten ausarbeiten. Möglicherweise würde das tatsächlich helfen, aus der sich immer mehr verschlimmernden innenpolitischen Krise einen Ausweg zu finden.

"LE MONDE" (Paris):
Die 28 EU-Länder sollten nach dieser Massentötung in Kairo die versprochenen fünf Milliarden Euro Hilfsgelder für Ägypten blockieren, und zwar solange, bis Gespräche eingeleitet und demokratische Mechanismen wieder in Gang gesetzt wurden, die diese Bezeichnung auch verdienen. Alles andere wäre ein Ausweichmanöver. Gewiss kann das Ausland angesichts des Brandherdes in Ägypten keinen besonders großen Einfluss ausüben. Doch die Entscheidung des Lagers von Armeekommandeur Al-Sisi, Demonstranten niederzumetzeln und die schlimmsten Übergriffe gegen Zivilisten zuzulassen, ist ein inakzeptabler Schritt, der bestraft werden muss. Europa muss seine Hilfe stoppen.

"DIÁRIO DE NOTÍCIAS" (Lissabon):
Das Einfrieren von Finanzhilfen spielt allerdings den Islamisten in die Hände: Je mehr die Übergangsregierung geschwächt wird, desto mehr Rückhalt gewinnen die Muslimbrüder in der Bevölkerung - und desto größer werden ihre Chancen für einen erneuten Wahlsieg. Benötigt werden vielmehr Forderungen nach Einhaltung der Menschenrechte, denn das war auch Mursis Schwachpunkt.

"AL-YOUM-AL-SABI" (Kairo):
Bestürzt und verwirrt kämpft US-Präsident Obama auf Seiten der terroristischen Muslimbruderschaft um deren Verbleib an der Macht. Denn er weiß sehr gut, dass alles andere eine Niederlage in einer Schlacht wäre, in die seine Regierung Milliarden Dollar investiert hat. Denn durch die Unterstützung der Muslimbrüder und das Engagement für Mursis Verbleib an der Macht sollten die amerikanischen Interessen gewahrt werden. Obama weiß auch, dass er nicht der einzige Spieler auf dieser Bühne ist. Russland beobachtet das Geschehen, und auch China ist nicht weit. Sie alle wissen, dass das ägyptische Volk, seine Führung und seine politischen Institutionen nicht zulassen werden, dass ihnen eine böse und terroristische Macht aufgezwungen wird.

"BERLINGSKE TIDENDE" (Kopenhagen):
Die Armee hatte die Macht nie wirklich abgegeben. Moderate und säkulare Kräfte in Ägypten scheinen fast von der politischen Bühne verschwunden zu sein, während der Kampf zwischen Armee und Muslimbrüdern tobt. Zwar wurden den Ägyptern nach der Machtübernahme des Militärs Neuwahlen in Aussicht gestellt, aber es ist kaum denkbar, dass diese einen anderen Ausgang als einen erneuten Sieg der Muslimbrüder nehmen würden - mit unabsehbaren Folgen für die übrigen traurigen Reste des Arabischen Frühlings.

Quellen: nd, Deutschlandfunk, 17.08.2013)




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