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Revolution "reloaded"

Massenproteste und Militär: Ägyptens Muslimbrüder wurden in einer komplexen Operation entmachtet. Nun müssen sich die Linkskräfte zusammenschließen

Von Mamdouh Habashi *

Am 3. Juli wurde der ägyptische Präsident Mohammed Mursi nach Massenprotesten vom Militär gestürzt und eine Übergangsregierung eingesetzt, an der die Muslimbrüder nicht mehr beteiligt sind. Wie bewertet die ägyptische Linke die Lage? junge Welt veröffentlicht dazu eine Analyse von Mamdouh Habashi. Er ist außenpolitischer Sprecher der Ägyptischen Sozialistischen Partei.

Das ägyptische Volk hat eine der größten und breitesten Bewegungen in der Geschichte des Landes gestartet, um die Muslimbrüder zu entmachten. Nach dem Sturz von Hosni Mubarak im Februar 2011 rangen die Ägypterinnen und Ägypter in beispielloser Weise um die Integrität der Gesellschaft und verteidigten den zivilen Staat gegen die vom Imperialismus unterstützte Diktatur des Obskurantismus. Der Wechsel in der US-Strategie war klar ersichtlich seit Beginn der Aufstände in der arabischen Region. Washington setzte auf die islamistischen Kräfte für die Fortsetzung der Politik der totalen Abhängigkeit, damit die ganze Region weiter eingebunden bleibt. Auf der anderen Seite bewiesen die Islamisten den USA, daß sie bereit sind, alles zu geben, um an der Macht zu bleiben.

Der Protestbewegung gelang es nun, wichtige zögernde Sektoren in den Streitkräften auf ihre Seite zu ziehen, die die von den Muslimbrüdern und ihren Verbündeten ausgehende Gefahr realisiert haben. Gleichzeitig hatten diese Teile der Armee vor Augen, was eine solche Massenbewegung im Hinblick auf mögliche radikale Veränderungen auslösen könnte, die das Wesen der bestehenden sozialen Ordnung gefährden. Die Volksbewegung verdrängte mit Unterstützung der Militärs die Muslimbrüder und ihre Verbündeten Anfang des Monats von der Macht. Damit beginnt ein neuer politischer Abschnitt.

Das Spektrum der Kräfte, die das Lager der Gegner der Islamisten ausmachen, ist vielseitig. Es reicht von Unterstützern des Mubarak-Regimes – hier muß man der Objektivität halber zugeben, daß ihre Leistung in dieser Bewegung außerordentlich stark war – über Liberal-Konservative, Linke und Nationalisten bis hin zu wichtigen Militärs. Dies ist eine extrem komplexe und einzigartige Zusammensetzung.

Das Ausmaß der spontanen Massenproteste war sehr viel größer als es die optimistischsten Einschätzungen erwarten ließen. Dazu haben sowohl das extrem schlechte Niveau und die miserable Leistung der religiösen Rechten beigetragen, als auch die unabhängigen ägyptischen Satellitenkanäle.

Keine klare Haltung

Das Ausmaß und die Art der Intervention der Armee waren eine Überraschung für die für Ägypten zuständigen Kreise in der US-Adminstration. Folglich konnten diese wie auch die in der EU anfangs keine klare Haltung gegenüber den jüngsten Entwicklungen in Kairo einnehmen. Man befürchtet hier offensichtlich unberechenbare radikale Transformationen in Ägypten, deren Rückwirkungen auf die gesamte Region unvermeidlich wären. Dies hätte die bekannte amerikanische Langzeitstrategie, die ganze Region in religiösen und ethnischen sektiererischen Konflikten versinken zu lassen, vereitelt. In den von den Muslimbrüdern verkündeten Plänen, einen Teil der Sinai-Halbinsel als Alternativheimat für die Palästinenser aus Gaza einzurichten und den Suezkanal zu privatisieren, und damit den Ägyptern eines der wichtigsten Symbole ihres Nationalstolzes zu berauben, zeigten sich Anfänge dieser gesteuerten Konflikte.

Es ist offensichtlich geworden, daß sich die USA und einige andere westliche Kräfte der EU auf die Seite der islamistischen Konterrevolution geschlagen haben. Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP) sprach im Zusammenhang mit der Entmachtung der Muslimbrüder von einem »Versagen der Demokratie«. Sinngemäß ähnlich war auch die Erklärung seines britischen Amtskollegen. Dies ist angesichts dessen, daß der Westen genau weiß, welche Art »Demokratie« die Muslimbrüder und deren verbündeten Salafisten mit ihrem islamischen Staat meinen, als dreiste Heuchelei. Warum ist der islamische Staat in Ägypten demokratisch und in Iran nicht?! Derselbe Westen war im Januar 2011 wenig um Demokratie und Menschenrechte besorgt, als die Armee friedlich demonstrierende Ägypter erschießen und mit Militärfahrzeugen überfahren ließ. Wenn aber diesselbe Armee den machtvoll und unüberhörbar am 30. Juni 2013 ausgesprochenen Volkswillen exekutiert, sieht der Westen plötzlich die Demokratie in Gefahr ...

Neue Gewaltprovokationen

Es ist zu erwarten, daß die Aktivitäten der Konterrevolution zur Einschüchterung des ägyptischen Volkes das Vorstellungsvermögen übersteigen werden. Die Gewalt auf den Straßen und Plätzen nach dem Sturz Mubaraks 2011 sind in Erinnerung, die ständige Provokation der Armee, sich immer mehr in die Gewaltspirale einzubringen, die Terroranschläge auf dem Sinai, und religiös-sektiererische Konflikte in Oberägypten, die künstlich entzündet werden, Bombenanschläge gegen die Infrastruktur sowie die Ermordung politischer und militärischer Führer.

Gleichwohl ist es unwahrscheinlich, daß es heute in Ägypten zu einem Bürgerkrieg kommt oder das Land ins Chaos verfällt. Die Popularität der Muslimbrüder und Salafisten schwindet rasant. Doch die von den Islamisten provozierte Gewalt verhindert den Demokratisierungsprozeß und ebnet den Weg für immer mehr diktatorische Komponenten.

Angesichts dieser hohen Risiken vernehmen wir heute, hauptsächlich seitens der USA, Appelle zur Versöhnung. Darauf fallen die meisten liberal-konservativen Kräfte und auch einige Linke herein. Sie ignorieren die opportunistische Natur der religiösen Rechten, die in der Vergangenheit nicht eine politische Vereinbarung respektiert haben. Das immer wieder angeführte Beispiel der Wahrheitskommission in Südafrika nach dem Ende der Apartheid ist auf Ägypten nicht übertragbar. Die Versöhnung dort basierte auf dem klaren Verzicht der Weißen auf die Rassendiskriminierung, ja deren Kriminalisierung. Eine solche Wende bzw. Einvernehmen zwischen den zivilen säkularen Kräften und sektiererisch-religiösen Fanatikern ist in Ägypten zur Zeit unvorstellbar.

All dies stellt eine existentielle Herausforderung für die linksgerichteten revolutionären und demokratischen Kräfte dar. Sie müssen dieses hohe Maß an Mobilisierung der Volksmassen aufrecht erhalten und sie in verschiedenen Formen organisieren. Die demokratischen Kräfte müssen heute die Vielfalt der Front gegen die Islamisten, deren Heterogenität, ja Inhomogenität, in Kauf nehmen. Die unmittelbare Einheit aller linken Parteien ist da dringender denn je. Es geht sprichwörtlich um »sein oder nicht sein«.

Die Islamische Nation

Der entmachtete Präsident Mursi war im Zuge einer Revolution an die Macht gekommen, mit der ihn nichts verbunden hat. Er ist Mitglied einer Gruppe, die die Gründung des modernen ägyptischen Staats als Abkehr vom Islam versteht und deshalb versucht, diesen zu zerstören. Diese Gruppe ersetzt die nationalen Grundfesten durch religiöse Heiligtümer. Nicht Ägypten ist das Ziel, sondern die »islamische Nation«, die alle Muslime auf der Welt umfaßt, und die im Konflikt mit allen anderen »Nationen« auf dieser Welt steht, dem Christentum bzw. den »Kreuzzüglern«, dem Judentum, ja selbst dem Buddhismus und Hinduismus. Diese Gruppe fordert keine Verfassung, in der die Macht vom Volk ausgeht, keine Verfassung in der die Ratio Quelle der Gesetzgebung ist. Sie fordert eine Verfassung, in der Gott die Quelle der Legitimität ist, und die islamische Scharia die einzige Quelle der Gesetzgebung. Wenn die Islamisten heute die Spielregeln der Demokratie akzeptieren, dann, weil sie darin eine Übergangsphase sehen, bis sie alleine die absolute Herrschaft in allen Bereichen des Staats und der Gesellschaft erlangt haben bis hin zur Wiederauferstehung des Kalifats.

In Ägypten kann keiner, kein Feind und kein Freund der Islamisten, leugnen, daß diese mit dem Mubarak-Regime zusammengearbeitet und »Deals« geschlossen haben. Als sich das Volk am 25. Januar 2011 gegen den Langzeitpräsidenten erhoben hatte, waren die Muslimbrüder erklärtermaßen gegen diese Revolution. Sie haben ihre Haltung geändert, nachdem die Amerikaner ihre Position um 180 Grad gewendet hatten, d.h. nachdem jedem klar geworden war, daß das Volk das siegreiche Pferd im Rennen ist. Das Problem damals war, daß die Kräfte der Revolution über keine Organisation verfügten, um die Macht zu übernehmen, als sie ihnen zu Füßen lag. In diesem kritischen Moment hatte Ägypten nur zwei Kräfte, die über eine entsprechende Organisation verfügen: die Armee und die Muslimbruderschaft.

(…) Ist das, was die Muslimbrüderschaft mit Hilfe ihrer Verbündeten im Westen veranstaltet hat, »Demokratie«? Oder ein Staatsstreich gegen die Revolution vom Januar 2011? Nein, es ist die Vergewaltigung dieser Revolution mit all den damit verbundenen Träumen der Ägypter auf ein Leben in Freiheit und sozialer Gerechtigkeit und Menschenwürde. Daher die neuerliche Revolu­tion – mit all ihren Widersprüchen.

* Aus: junge Welt, Dienstag. 23. Juli 2013


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