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Schlag-Lichter aus Kairo

Wieder massive Polizeigewalt gegen Demonstranten in Ägypten

Von Juliane Schumacher, Kairo *

Die Lage in Ägypten spitzt sich zu: Seit vor drei Wochen die Protestbewegung auf die Straßen und Plätze zurückgekehrt ist, haben Regierung und das herrschende Militär zunächst auf Schweigen und moderate Zugeständnisse gesetzt.

Insgesamt 14 Minister wurden ausgetauscht, rund die Hälfte des Kabinetts. Der Innenminister kündigte an, Hunderte Polizisten zu entlassen und die umstrittenen Prozesse gegen ehemalige Regierungsmitglieder künftig live zu übertragen. Seit einigen Tagen jedoch setzen die Regierenden zunehmend auf Konfrontation. Auf der Straße wie in den Gerichten.

Am Freitag (22. Juli) griff Militärpolizei die Protestierenden in Alexandria und Suez an, die dort zentrale Plätze besetzt hielten, in Kairo kam es während einer Solidaritätskundgebung zu Zusammenstößen mit dem Militär. Am Sonnabend versammelten sich in Kairo Zehntausende zu einer Demonstration gegen das Militär, dem sie vorwerfen, die Mitglieder der alten Regierung zu protegieren und mit Pressezensur, Folter und hartem Vorgehen gegen Protestierende ähnlich zu agieren wie die im Februar gestürzte Regierung.

Der 23. Juli ist der Jahrestag des Putsches von 1952, bei dem Gamal Abdel Nasser an die Macht kam und eine Art »Feiertag des Militärs«, die Demonstration zum Sitz des Militärrates an diesem Tag also durchaus eine Provokation. Das Militär reagierte prompt. Nachdem es sich, wie die Polizei, in Kairo seit Beginn der Proteste nie hatte blicken lassen, blockierte es nun die Straße im Stadtteil Abbasiya mit Panzern, gepanzerten Fahrzeugen, Hunderten Soldaten und meterhohen Rollen Stacheldraht. Als die Demonstrierenden dort eintrafen, blockierte Polizei die andere Richtung – im selben Moment griffen Männer in Zivil die Demonstrierenden mit Steinen, Brandsätzen und Messern an. Die Demonstrierenden flohen in eine Moschee und in ein Gebäude der Ain-Schams-Universität.

Rund zwei Stunden dauerte der Angriff, Hunderte wurden verletzt, auch von Toten wurde berichtet. Genaue Zahlen existieren nicht – aus Angst vor Verhaftungen wagte sich kaum ein Verletzter ins Krankenhaus, erst in den Stunden danach trafen mehr und mehr Verletzte auf dem Tahrir-Platz ein und wurden in den dortigen mobilen Krankenstationen versorgt.

Zeitungen, auch weite Teile der internationalen Presse, sprachen zunächst von Anwohnern, die die Demonstranten angegriffen hätten, doch wiesen diese dies im Fernsehen scharf zurück: »Wir waren alle zu Hause um diese Zeit«, sagte ein Anwohner. »Das waren bezahlte Schläger, sie sind von der Polizei angeheuert und bezahlt worden.«

Die Aktivistin Nazly Hussein beobachtete, wie ein Offizier des Militärs den Schlägern Anweisungen erteilte, etwa, welche Aktivisten sie angreifen sollten. Der Menschenrechtler Amr Gharbeia wurde von einem Trupp Schlägern festgenommen und gefoltert, eine spontane Kampagne zu seiner Freilassung brach los, er kam wieder frei. Anwälte sprachen von weiteren Festgenommenen, Zahlen sind nicht bekannt. Später beruhigte sich die Lage in Abbasiya. Auf dem Tahrir-Platz, der weiterhin besetzt ist, war die Lage zunächst ruhig, die Aktivisten dort befürchteten nach den Angriffen jedoch, dass auch der Platz erneut Objekt einer Attacke sein könnte.

Derweil wagte die Regierung am Sonntag die nächste Provokation: Der Prozess gegen Habib al-Adly, einst rechte Hand Mubaraks und für den Tod von Hunderten Demonstranten verantwortlich, wurde zum dritten Mal vertagt. Offizielle Begründung ist, dass die Richter der Meinung sind, es sei besser, ihn zeitgleich mit dem Prozess gegen Husni Mubarak und seine Söhne Alaa und Gamal am 3. August stattfinden zu lassen. Zwar wurde der Prozess tatsächlich wie angekündigt übertragen, allerdings kam es zu Auseinandersetzungen im Gerichtssaal, als nur dem Staatsfernsehen erlaubt wurde zu filmen und alle anderen Fernsehsender mit ihren Kameras den Raum verlassen mussten. Vor dem Gerichtsgebäude flogen Steine, als Adly weggefahren wurde. Zur Beruhigung der Lage dürfte dies nicht beitragen – die letzte Vertagung vor einem Monat war Auslöser für die aktuellen Proteste.

* Aus: Neues Deutschland, 26. Juli 2011


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