Ägypten: "Wir brauchen ein neues arabisches Projekt"
Gespräch mit Abdelhalim Qandil über die Ära Mubarak und die Zeit danach
Frage: Auf Anraten der USA hat sich der ägyptische Präsident Hosni Mubarak im September dieses Jahres zur Wahl gestellt. Ist in Ägypten etwa die Demokratie ausgebrochen?
Qandil: Diese Wahlen waren eine Verhöhnung der Demokratie. Als Kandidaten konnten nur vom Regime ausgesuchte Leute antreten. Doch der Versuch, der Diktatur einen demokratischen Anspruch zu verleihen, ist mißglückt. Unser Volk hat den Schwindel durchschaut. Selbst nach offiziellen Angaben haben nur 20 Prozent der stimmberechtigten Bürger an dieser Wahlfarce teilgenommen. In Wahrheit dürften es noch viel weniger gewesen sein. Das beweist, daß das Mubarak-Regime über keinerlei Rückhalt in der Bevölkerung verfügt.
F: In welchem Zustand befindet sich Ägypten?
In einem erbärmlichen. Trotz massiver Finanzhilfe aus den USA – nur Israel erhält noch mehr als Ägypten – liegt unsere Ökonomie am Boden. Hunderte Milliarden Dollar haben die Amerikaner hineingepumpt. Doch diese Gelder werden laufend veruntreut. So finanziert sich eine um die Präsidialmacht rankende kriminelle Oberschicht, die ich als Mafiokratie bezeichnen würde. Das gestohlene Geld wird zu einem Großteil ins Ausland transferiert. Das Verhältnis zwischen dem Mubarak-Regime und den USA ist also ein durch und durch korruptes. So sichern sich die Amerikaner die hundertprozentige Gefolgschaft Mubaraks.
Es gibt so gut wie keine wirtschaftliche Entwicklung mehr. 1973 hatte Ägypten zwei Milliarden Dollar Schulden, nun sind es schon über 110 Milliarden. Zwei Prozent besitzen über 40 Prozent des Nationalvermögens, ein Großteil der Bevölkerung lebt unter dem Existenzminimum. Es gibt zehn Millionen Arbeitslose. Über neun Millionen Ägypter sind wirtschaftlich nicht in der Lage, eine Ehe zu schließen. Das Regime verspricht schon seit ewigen Zeiten eine Wirtschaftsreform. Doch wurde kein einziger Schritt in diese Richtung unternommen. Die ägyptische Revolution, die 1952 das Land fortschrittlich umzugestalten begann, hat ihren Tiefpunkt erreicht. Ich glaube nicht, daß das ägyptische Volk diese Niederlage auf Dauer hinnehmen wird. Zur Illustration des ökonomischen Verfalls möchte ich nur darauf hinweisen, daß Ägypten 1973 bezüglich des wirtschaftlichen, technischen und Bildungsniveaus mit Südkorea auf einer Stufe war, heute rangiert es an 122. und Südkorea an zehnter Stelle.
F: Machte die Weigerung der Wahlberechtigten, die Diktatur demokratisch zu legitimieren, das wirkliche demokratische Potential der Gesellschaft sichtbar?
Das könnte man so sehen. Unmittelbar nach dem Versuch, Demokratie zu simulieren, gingen 15000 Menschen auf die Straße, um ihren Forderungen nach demokratischen Veränderungen Nachdruck zu verleihen. Das ist angesichts der in Ägypten herrschenden politischen Unterdrückung eine beträchtliche Zahl. Erstmals wurde das System in aller Öffentlichkeit attackiert. Damit ist der vom Regime erstellte politische Sittenkodex massiv verletzt worden. Mubarak und seine Leute befinden sich am Rande einer finalen Niederlage – politisch und sozial. Der Staat hat sich aus der Sozialsphäre völlig zurückgezogen. Die Marktkräfte wüten ungehemmt. Gewisse Produkte sind bis zu 40mal teurer geworden. Die Regierung hat keine soziale Basis mehr.
F: Sie sind der Sprecher des Oppositionsbündnisses »Kifaya«, auf deutsch: Genug! Wie groß ist sein Einfluß auf das Geschehen ?
Wir sind 2004 auf der politischen Bühne erschienen und bilden den Kern der erwachenden Volksbewegung. Kifaya ist eine Bewegung, keine Partei. Wir bilden eine Vereinigung unterschiedlicher Strömungen. Zu uns gehören arabische Nationalisten, vor allem Nasseristen, Islamisten, linke Demokraten bis hin zu Marxisten. Unser kleinster gemeinsame Nenner ergibt sich aus der Ablehnung der Mubarak-Diktatur und des von den USA unterhaltenen zionistischen Projekts in der Region.
F: Inwiefern besteht ein Zusammenhang zwischen Demokratiebestrebungen und der Gegnerschaft zum zionistischen Staat?
Ägypten hat sich aus der Frontlinie zwischen Israel und den arabischen Staaten davongemacht. Diese von der Gesellschaft abgelehnte Politik konnte sich nur durch die Niederhaltung aller demokratischen Bestrebungen behaupten. Seit 24 Jahren herrscht in unserem Land der Ausnahmezustand. Alle Parteien und zivilen Bewegungen wurden von der politischen Bühne verbannt. Die Gewerkschaften stehen voll unter der Kontrolle der Geheimdienste. Mit der politischen Reform des Systems verhielt es sich wie mit der Wirtschaftsreform. Sie wurde immer wieder versprochen. Es hieß, daß der Demokratisierungsprozeß allmählich vor sich gehen müsse. In Wahrheit gerieten wir allmählich in eine immer brutaler werdende Diktatur.
F: Die Versöhnung mit Israel wurde schon vorher unter Präsident Anwar Al Sadat vollzogen, der 1976 in Camp David ein Separatabkommen mit Israel unterzeichnete und damit aus der Front der arabischen Solidarität ausscherte. Wie würde eine zur Macht gelangte Opposition mit Camp David umgehen?
Jede demokratisch zustande gekommene Regierung würde dieses Abkommen revidieren, denn es richtet sich auch gegen unsere eigene nationale Souveränität. Ob Linke oder Rechte: Die ägyptische Gesellschaft ist intuitiv gegen Israel eingestellt. Auch Kräfte im Staatsapparat. Bis heute hat der israelische Botschafter in Kairo Probleme, das Botschaftsgebäude zu verlassen. Es gibt kein anderes Volk in der arabischen Welt, das so entschieden gegen jedes Arrangement mit Israel ist wie das ägyptische. Sich irgendwie mit Israel einzulassen, gilt als Schande. Wer Handel mit Israel treibt, muß das heimlich tun. Eine demokratische Regierung würde ein Referendum über das Abkommen durchführen. Wir wollen keinen Krieg. Aber dieser Zustand der Einschränkung unserer Souveränität auf der Sinai-Halbinsel wollen wir nicht länger hinnehmen.
F: Sadat wurde wegen des Camp-David-Abkommens von den Moslembrüdern ermordet. War das Ihrer Meinung nach die richtige Antwort?
Keineswegs. Die Islamisten haben eine Gewaltlösung gesucht. Das hat die Niederlage noch größer gemacht.
F: »Kifaya« strebt hingegen einen friedlichen Machtwechsel an?
Ich sehe drei mögliche Szenarien eines Machtwechsels. Das erste ist das, worauf das Regime selbst abzielt. Mubarak senior beendet seine fünfte Amtsperiode nicht und versucht, Mubarak junior als seinen Nachfolger zu installieren. Ich halte das für eher unwahrscheinlich, auch deshalb, weil dagegen in Armeekreisen opponiert wird. Das zweite Szenario wäre eine friedliche Beendigung der Mubarak-Herrschaft. Ein solches ist durch die Entwicklung der ägyptischen Oppositionsbewegung möglich geworden. Wir tragen keine Waffen. Die neue Oppositionswelle richtet sich nicht nur gegen die Diktatur, sondern gegen die allgemeine Degradierung, gegen den Verfall des Landes. Wenn es uns gelingt, 100000 Menschen auf die Straße zu bekommen, könnte der Durchbruch erzielt werden. Das dritte Szenario wäre ein Volksaufstand, ausgelöst entweder durch den Versuch, das erste Szenario durchzusetzen oder durch die Repression, auf die das zweite stößt. Die ägyptische Gesellschaft hat die Eigenschaft, sich lange in Geduld zu üben, dann aber wie ein Sturm loszubrechen. Doch das würde einen hohen Blutzoll erfordern. Das Problem dieses Szenarios ist die Unvorhersehbarkeit seines Ausganges.
F: Die Armee in Form der »Bewegung freier Offiziere« unter Gamal Abdel Nasser war der Träger der Revolution von 1952. Könnte sich das wiederholen?
Das läßt sich kein zweites Mal inszenieren. Der Umsturz, vor dem wir stehen, muß aus der Tiefe der Gesellschaft erfolgen. Das wird keine Bewegung freier Offiziere, sondern eine Bewegung freier Menschen sein.
F: Ihr Konzept, das Regime über die Mobilisierung der Straße sturmreif zu »schießen«, erinnert in vielem, auch was den Namen ihres Bündnisses betrifft, an die bunten, zivilgesellschaftlichen »Revolutionen«, wie sie sich in Serbien und ehemaligen Sowjetrepubliken ereigneten. Diese waren liberal und prowestlich orientiert. Gibt es auch in Ihrer Bewegung solche Kräfte? Und: Versuchen die USA über ägyptische Nichtregierungsorganisationen (NGOs) Einfluß auf das Geschehen zu nehmen, das heißt einen möglichen Umsturz zu ihren Gunsten zu drehen?
Es gibt in unserem Bündnis auch liberale Demokraten. Die vom Westen gesponserten NGOs zählen wir nicht dazu. Die finanzielle Unterwanderung dieser Organisationen hat die ägyptische Zivilgesellschaft zersetzt. Die Bevölkerung steht diesen Kräften äußerst skeptisch gegenüber. Sie nennt sie die »Marines«. Es gibt in der ägyptischen Gesellschaft einen antizionistischen und antiamerikanischen Grundkonsens. Erst dann kommen die unterschiedlichen ökonomischen, sozialen und kulturellen Optionen. Eine Bewegung, die sich nur irgendwie positiv auf die USA und den imperialistischen Westen bezöge, hätte bei uns keine Chance. Es gab eine Umfrage in sechs arabischen Staaten über die Haltung zu den USA. Nirgendwo war die feindselige Haltung gegenüber den Amerikanern so ausgeprägt wie in Ägypten. 94 Prozent sprachen sich gegen die US-Politik aus. Nur zwei Prozent hatten eine positive Einstellung zu den USA. Die Hoffnung der Amerikaner, daß die NGOs ein für sie günstigeres Klima schaffen könnten, haben sich nicht erfüllt.
Die Amerikaner wissen, daß sich demokratische Veränderungen gegen ihre Interessen auswirken würden. Demokratie im arabischen Raum ist ein ambivalenter Slogan. Amerikaner reden über Demokratie, die ägyptischen Busineßleute und Marines reden ständig darüber. Mubarak redet ständig darüber und wir auch. Unsere authentische Demokratie aber wurzelt in der ägyptischen Nationalbewegung. Der wichtigste Ausdruck dieses authentischen Demokratismus ist die Feindschaft gegenüber der Fremdherrschaft und der Tyrannei. Unsere Bewegung verkörpert die Demokratie. Sie wird nicht von bekannten Politikern angeführt, weil es seit Mubarak keine Politik im öffentlichen Raum gegeben hat. Wir sind eine offene Bewegung. In jedem Ort gibt es Koordinationskomitee, und Initiativen. Jede Gruppierung ist autonom. Es entwickeln sich viele spontane, von Jugendlichen getragene Aktionen.
F: Entsteht eine neue politische Landschaft?
Dafür bestehen inzwischen alle Voraussetzungen. Wir schlagen eine einfache Taktik für alle Parteien vor, die nicht zugelassen sind. Sie sollen ein gemeinsames Dokument erarbeiten, sich alle zum gleichen Zeitpunkt als Partei deklarieren und das auf einer internationalen Pressekonferenz bekanntgeben. Wir wollen die Freiheit nicht als Geschenk der Regierung. Freiheit wird genommen, nicht gegeben, denn was gegeben wird, kann zurückgenommen werden.
F: Welchen Einfluß hat der Islamismus auf die Volksbewegung?
Die Moslembruderschaft hat eine Entwicklungskrise hinter sich. Es kam zu einer Wachablösung. Junge Technokraten haben die alten Würdenträger abgelöst. Sie sind inzwischen dazu reif, eine Partei zu bilden. Sie verkörpern die ägyptische Rechte. Wir haben es mit der paradoxen Situation zu tun, daß die Gesellschaft gegenwärtig eher nach rechts rückt. Mit dem Übergang zu einer von der Rechten dominierten Demokratie würde sich nur die Form der Politik, nicht aber ihr Inhalt ändern. Das liberale Wirtschaftssystem würde aufrechterhalten bleiben. Das Problem ist: Die Linke hat ein großes Hirn ohne Körper, die Moslembrüder einen großer Körper ohne viel Hirn.
Nach der Zerschlagung der linken und panarabischen Kräfte durch das Mubarak-Regime ist ein Vakuum entstanden, das von der islamistischen Bewegung gefüllt wurde. Sie verkörpert eine rohe, primitive Form des Protestes. Sie ist eine Subgesellschaft oder ein Substaat, der den gescheiterten Staat bei der Befriedigung der sozialen Bedürfnisse ersetzt. Gemeinsam mit dem Staat hat diese Bewegung die totale Verteufelung des sozialistischen Projekts der Revolution von 1952 betrieben. Als sie selbst unterdrückt wurden, ist dadurch das gesellschaftliche Gewebe nachhaltig beschädigt worden.
F: Welchen Einfluß haben Krieg und Besatzung im Irak auf das gesellschaftliche Bewußtsein?
Einen gewaltigen. Zur sozialen Katastrophe kommt die nationale Erniedrigung, die mit der Besetzung des Iraks ihren Höhepunkt erreichte. Zeichen des Aufruhrs in Ägypten wurden erstmals an jenem 22. März 2003 bemerkbar, als der Irak angegriffen wurde. Einige Dutzend politische Aktivisten hatten vereinbart, zu Kriegsbeginn eine Kundgebung am Tahrir-Platz in Kairo zu veranstalten. Sie wollten dies tun, damit in der Geschichte nicht geschrieben steht, keiner in Ägypten habe gegen den Krieg demonstriert. Dort wurden sie, aber auch die Staatsmacht von Zehntausenden Demonstranten überrascht. Der Inhalt dieser Massendemonstration schloß auch soziale Forderungen mit ein.
F: Kann Ägypten wie unter Nasser wieder zum Hegemon der arabischen nationalen Befreiungsbewegung werden?
Die arabische Region befindet sich heute in einem offenen Krieg. Die Rolle Ägyptens in diesem griechischen Drama ist objektiv die des Hauptdarstellers, sei es für das imperialistische Projekt oder für die neue Befreiungsbewegung. Das ist kein ägyptischer Zentrismus, sondern das Gesetz der Geschichte und der Geographie. Der irakische und der palästinensische Widerstand können das amerikanische Projekt in der Region stoppen, doch sie können ihm keine endgültige Niederlage zufügen. Das geht nur, wenn dem Imperialismus ein historisches Gegenprojekt, das neue arabische Projekt entgegengestellt wird. Der Kopf dieses Projekts ist Ägypten, ist Kairo, wo wir das Regime stürzen müssen.
Interview: Werner Pirker
* Abdelhalim Qandil ist Mitglied der Nasseristischen Partei und Chefredakteur ihrer Wochenzeitung Al-Arabi. Er ist Mitbegründer der Oppositionsbewegung »Kifaya« (»Genug«) und einer ihrer Hauptsprecher.
* Aus: junge Welt (Wochenendbeilage), 19. November 2005
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