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"Tag der Ablehnung" mit Schüssen

In Ägypten protestierten Zehntausende Anhänger des gestürzten Präsidenten *

Eine blutige Eskalation des Machtkampfes in Ägypten musste für die Nacht zum Sonnabend befürchtet werden. Bereits tagsüber gab es am Freitag Schüsse und Tote.

Nur wenige Stunden nach dem Mittagsgebet kamen erste Meldungen über tödliche Gewalt aus der Hauptstadt Kairo. Mindestens drei Tote soll ein Schusswechsel zwischen Anhängern des abgesetzten Präsidenten Mohammed Mursi und Soldaten gefordert haben. Ein AFP-Reporter berichtete, dass sich die Bewaffneten vor dem Hauptquartier der Republikanischen Garde gegenüberstanden. Dort war der gestürzte Präsident vermutet worden. Von beiden Seiten sei Mündungsfeuer zu hören gewesen, Demonstranten seien zu Boden gegangen.

Mit einem zornigen »Freitag der Ablehnung« antworteten vor der Rabia-al-Adawija-Moschee in der Kairoer Vorstadt Nasr City, in Alexandria, Luxor und Damanhur im Nildelta Zehntausende Anhänger des vom Militär am Mittwoch gestürzten Präsidenten und der Islamisten auf die Siegesfeiern des Vortages. Sie wollten den »Militärputsch« nicht hinnehmen, hieß es. Über der Stadt kreisten Hubschrauber. Vor dem Präsidentenpalast waren Panzer aufgefahren.

Die Armeeführung hatte sich zuvor zum Recht aller Bürger auf friedliche Proteste bekannt. »Exzesse« würden aber nicht geduldet. Aufgerufen wurde zu nationaler Einheit und Versöhnung. Die Ägypter sollten auf Racheakte verzichten, hieß es in einer in der Nacht zum Freitag veröffentlichten Erklärung. Jegliche »außergewöhnlichen und willkürlichen Maßnahmen« gegen politische Bewegungen sollten vermieden werden.

Nach islamistischen Angriffen auf Sicherheitskräfte auf dem Sinai schloss Ägypten seinen Grenzübergang zum Gazastreifen auf unbestimmte Zeit. Militante Islamisten hatten laut ägyptischen Sicherheitskreisen in der Nacht fünf Armeekontrollpunkte mit Gewehren und Panzerfäusten angegriffen. Ein Soldat sei getötet, drei weitere seien verletzt worden.

In der Stadt Rafah seien ein Polizeiposten und ein Gebäude des Militärgeheimdienstes mit Raketen angegriffen worden, wurde berichtet. Laut der Nachrichtenagentur Mena hatten Militärhubschrauber einen Wagen mit Bewaffneten beschossen, die zuvor einen Flughafen im Norden des Sinai angegriffen hätten. Bereits am Donnerstagabend waren bei Zusammenstößen zwischen An- hängern und Gegnern Mursis in der Provinz Scharkija im Nildelta nach Polizeiangaben mindestens 30 Menschen verletzt worden. Steine seien geflogen, auch Schrotmunition sei verschossen worden.

UN-Generalsekretär Ban Ki Moon übermittelte Ägypten seine »tiefe Sorge« über das Eingreifen der Armee zum Sturz von Mursi. In einem Telefongespräch mit Ägyptens Außenminister Mohammed Kamel Amr habe Ban eine rasche Rückkehr zu einer zivilen Regierung gefordert, erklärte seine Sprecherin Eri Kaneko am Donnerstagabend. Notwendig sei nun ein friedlicher Dialog, der das gesamte politische Spektrum des Landes einbeziehe.

Die Afrikanische Union (AU) schloss Ägypten, das deren Gründungsmitglied ist, aus der Organisation aus. Der Machtwechsel in Kairo »entspreche nicht der Verfassung Ägyptens«, lautete die Begründung des AU-Sicherheitsrates in Addis Abeba. Ratssekretär Admore Kambudzi verurteilte »die illegale Übernahme der Macht«.

Die Bundesregierung Deutschland, erklärte ein Sprecher des Auswärtigen Amtes am Freitag, werde »selbstverständlich weiter« diplomatische Kontakte zu diesem »Schlüsselland für die arabische Welt pflegen«.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 6. Juli 2013


Straßenkämpfe in Kairo

Ägypten: Tote bei Protesten der Muslimbrüder, Armee schießt auf Demonstranten. Angriffe auf Sicherheitsposten auf dem Sinai. Afrikanische Union schließt Ägypten aus

Von Christian Selz **


Deutlicher kann eine Machtdemonstration kaum sein: Als vor der Kairoer Rabaa-Adaweja-Moschee am gestrigen Freitag mittag tausende Anhänger des ehemaligen Präsidenten Mohammed Mursi zusammenkamen, überflogen Kampfjets den Platz. Ihre Kondensstreifen waren in den Nationalfarben eingefärbt, die die Mursi-Gegner zum Symbol ihres Protests gemacht hatten. Die Armee hatte sich am Mittwoch auf ihre Seite geschlagen, Mursi gestürzt und mit Adli Mansur am Donnerstag bereits einen Übergangspräsidenten eingesetzt. Die Straßenkämpfe und Proteste aber – das wurde am Freitag vielerorts deutlich – sind damit noch lange nicht vorbei. »Möge Gott Mursi zurück an die Macht bringen«, rief ein Imam der Menge vor der Moschee zu. Die Muslimbrüder finden sich mit dem Sturz des von ihnen unterstützten Präsidenten nicht ab. »Nieder mit der Militärherrschaft« riefen einige der Demonstranten und forderten gar zum »Heiligen Krieg« auf.

Tatsächlich ist ein bewaffneter Aufstand in Ägypten derzeit nicht mehr auszuschließen. Nach Angaben der nun machthabenden Armee seien die Soldaten auf der Halbinsel Sinai bereits in Alarmbereitschaft versetzt worden. Islamisten hatten dort in der Nacht zu Freitag Kontrollposten von Polizei und Militär angegriffen. Ein Angehöriger der Sicherheitskräfte sei getötet, zwei Kollegen verletzt worden. Auch in Kairo kam es am Freitag zu einem Schußwechsel vor dem Hauptquartier der Republikanischen Garde, in dem das Militär Mursi in Gewahrsam hält. Armeekräfte töteten dabei Augenzeugenberichten zufolge mindestens drei seiner Anhänger. Das Militär dementierte später lediglich Berichte, die Soldaten hätten mit scharfer Munition geschossen. Unter dem Motto »Freitag der Ablehnung« protestierten am Nachmittag bereits Zehntausende Ägypter im Anschluß an die Freitagsgebete gegen die Absetzung Mursis durch die Armee.

Die Bewertung des Militärputsches war dabei am Freitag international weiter umstritten. Die Afrikanische Union schloß Ägypten mit Verweis auf die Verfassungswidrigkeit des Machtwechsels aus. Die Kommis­sionsvorsitzende Nkosazana Dlamini-Zuma betonte allerdings, daß Ägypten wieder aufgenommen würde, wenn es in Kairo wieder eine gewählte Regierung gebe. Im Gegensatz dazu windet sich die Regierung der USA weiterhin sprachakrobatisch darum, von einem Putsch zu sprechen. Die Obama-Administration wäre dann gesetzlich verpflichtet, ihre jährlichen Hilfen zugunsten des ägyptischen Militärs von einer Milliarde US-Dollar einzustellen.

Aus dem Aufstand des ägyptischen Volkes ist – ähnlich wie nach dem Sturz des autoritären Herrschers Hosni Mubarak 2011 – ein Kampf um Vormachtstellungen und Einfluß geworden. Viele Freunde haben die Muslimbrüder dabei nicht. In westlichen Ländern wird höchstens der Putsch an sich kritisiert, nicht jedoch die Absetzung der Islamisten. Selbst den arabischen Herrschern war die Bruderschaft aufgrund ihrer Ablehnung der Monarchie suspekt. Saudi-Arabiens König Abdullah gratulierte Interimspräsident Mansur noch in der Nacht zum Donnerstag per Telegramm zur Machtübernahme. Als einziger Verbündeter kann derzeit die palästinensische Hamas gesehen werden, die sich noch nicht offiziell geäußert hat. Die Grenze nach Gaza jedenfalls haben Ägyptens neue Herrscher am Freitag auf unbestimmte Zeit geschlossen.

** Aus: junge welt, Samstag, 6. Juli 2013


Putsch, Revolution oder?

Von Roland Etzel ***

Den Militärputsch nicht hinnehmen! Ägyptens Muslimbrüder trugen ihre Wut gestern auf die Straße. Sie treibt der Zorn der Gerechten, denn Mohammed Mursi war nicht nur ihr politischer Exponent, sondern sogar zuerst der vom Volke mit zweifelsfreier Mehrheit gewählte Präsiden; der oberste Militär dagegen ist ein Putschist. Doch warum sind dann die, die seit Tagen Mursis Absetzung feiern, offensichtlich viel zahlreicher auf der Straße als Mursis Anhänger? Die Muslimbrüder beklagen den Bruch der Verfassung – aber wie schwer wiegt dieser Vorwurf, wenn doch der oberste Verfassungshüter die Notwendigkeit dieses Bruches positiv akzeptiert, indem er sich von den »Putschisten« Genannten als Interimspräsident einsetzen lässt? Eine Vermutung lautet: Die Mehrheiten von 2013 müssen nicht die des Wahljahres 2012 sein. Eine andere: Die Freudentänzer von Kairo – zu einem guten Teil Ägyptens Generation Smartphone, sind nicht die Ärmsten und allenfalls eine optische Mehrheit, während die tatsächliche einmal mehr eine schweigende ist.

Darf moralischer Rigorismus in Frage gestellt werden? Ist ein militärischer Staatsstreich immer und in jedem Falle als antidemokratisch abzulehnen? Was, wenn er bessere Bedingungen schafft für das Ringen um Volksherrschaft? Vermeintlich ewige Gewissheiten verlieren doch häufig gerade dann ihr Unfehlbarkeitsmantra, wenn sie den Prüfstand der Tagestauglichkeit zu passieren haben. Die Geschichte bietet Beispiele zuhauf, nur eines davon aus dem nahen Afrika: Zweimal putschte der Offizier Jerry Rawlings in Ghana korrupte Regierungen aus dem Amt – um später die Macht freiwillig in zivile Hände abzugeben. Kann es nicht in Ägypten auch so sein?

Ja, das kann es. Doch nicht ohne Aber, denn es unterstellte ansonsten das generelle Vorhandensein von Gutmenschentum in der Realpolitik – ein Phänomen, das sich desto stärker in Wohlgefallen auflöst, je genauer man hinsieht. Und so können auch Ägyptens Generale keineswegs als die letzten Bannerträger des Altruismus gelten, mag sie die Straße jetzt auch auf Händen tragen. Niemand kann übersehen, dass gerade Kairos Militärkaste wie keine andere auf dem Kontinent die Wirtschaft des Landes im Griff hat, kräftig an ihr verdient und folglich mit großem Argwohn alle politischen Veränderungen verfolgt, die dies gefährden könnten.

Ob ein Umsturz in Erzählungen für die Nachwelt als Putsch gebrandmarkt oder als Revolution veredelt wird, entzieht sich objektiven Kriterien und hat maßgeblich mit dem Standpunkt des Betrachters zu tun. Die Ägypter wollen vor allem, dass sich ihre Lebenslage verbessert, egal wen sie gewählt haben. Ihr Urteil über den Militärcoup wird deshalb heute kaum ein endgültiges sein. So wie gestern Mursi wird sich auch General Sisi nun, da er sich mit seinen Panzern aus der sicheren Deckung der Kasernen aufs glatte politische Parkett gewagt hat, dessen Gesetzen stellen müssen. Sicher ist: Die Ägypter werden ihre Meinung zu dem, was ihre Generäle ihnen da verordnet haben, nicht nach staatsrechtlichen Lehrbüchern richten; nicht nach den eigenen, schon gar nicht abendländischen Vorstellungen. Das ist ihr gutes Recht.

*** Aus: neues deutschland, Samstag, 6. Juli 2013 (Kommentar)


Wessen Demokratie?

Moslembrüder rüsten zum Gegenschlag

Von Werner Pirker ****


Ägyptens Moslembrüder gefallen sich derzeit in der Rolle aufrechter Verteidiger der Demokratie. Keineswegs zu Unrecht nehmen sie die Absetzung des demokratisch gewählten Präsidenten Mohammed Mursi durch das Militär als Angriff auf die Demokratie wahr. Und doch ist die Frage nach der demokratischen Legitimität wesentlich komplizierter, als es den Anschein hat. Denn der von den Streitkräften vollzogene Machtwechsel ist von einer deutlichen Bevölkerungsmehrheit erkämpft worden. Für den Wahlsieger Mursi votierten vor einem Jahr weniger Menschen, als in diesen Tagen gegen ihn auf die Straße gegangen sind. Sich unter Lebensgefahr an einer Demonstration zu beteiligen erfordert ein größeres gesellschaftliches Engagement als die Stimmabgabe in einem Wahllokal.

Die Islamisten haben nicht weniger als der vor ihnen die Macht ausübende Oberste Militärrat versucht, die versprochene Demokratie nach eigenem Gutdünken – das heißt stets am Rande des Ausnahmezustandes – zu gestalten. Der wirtschaftliche Niedergang beschleunigte die Verelendung breiter Bevölkerungsschichten, die nun in weit größerer Zahl als während der Tahrir-Platz-Revolte von 2011 die politische Bühne betraten. Es spricht so ziemlich alles dafür, daß die angeblich zugunsten der Volkserhebung erfolgte Intervention der Streitkräfte auf deren Disziplinierung, das heißt auf die Abwehr des sozialen Demokratismus hinausläuft. Die Revolution von unten soll wieder einmal durch eine Revolution von oben neutralisiert werden. Auf deren Agenda steht die nationale Versöhnung. Klassenkämpfe sind daher tunlichst zu vermeiden.

Zur großen Versöhnung bedarf es freilich der Reintegration der von den Militärs tödlich beleidigten muslimischen Brüder. Militärischer Widerstand des islamistischen gegen das säkulare Ägypten ist keineswegs ausgeschlossen. Zumal die islamistische Aggression in Syrien auch die ägyptische Bruderschaft in erhöhte Kampfbereitschaft versetzt hat. Mursi und seine Brüder haben sich voll in die westlich-wahhabitische Aggressionsgemeinschaft gegen das säkulare Syrien eingegliedert und vehement einer ausländischen Militärintervention das Wort geredet.

Äußerungen aus Washington, in denen der Sturz des »demokratisch legitimierten Präsidenten« beklagt wird, lassen vermuten, daß die ­Obama-Administration vom Machtwechsel in Kairo eher auf dem falschen Fuß erwischt wurde. Der von ihr vollzogene Strategiewechsel von der strikten Gegnerschaft zum politischen Islam zur Nutzung des sunnitischen Sektierertums im Kampf gegen die »Achse des Widerstandes« sieht sich von den Ereignissen in Ägypten konterkariert. Da Washington aber großen Einfluß auf das ägyptische Militär besitzt, wird es den Schaden in Grenzen zu halten versuchen. Doch könnte der jüngste Aufstand eine soziale Dynamik freigesetzt haben, der mit den bisherigen Mitteln des Machterhalts nicht mehr beizukommen sein wird.

**** Aus: junge welt, Samstag, 6. Juli 2013 (Kommentar)


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