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"Die USA sollten aufhören, den islamischen Fundamentalismus als Schreckgespenst zu behandeln" / "Die Zeit der Angst ist vorbei"

Die Ereignisse in Ägypten haben weit reichende Folgen - Internationale Presseschau


Im Folgenden dokumentieren wir Auszüge aus Leitartikeln und Kommentaren der internationalen Presse zum Sturz Mubaraks.

Artikel von Sonntag, 13. Februar 2011 *

NEUE ZÜRCHER ZEITUNG:
Zwei Revolutionen in einem Monat zwingen die Welt dazu, von scheinbar festen Gewissheiten über die arabischen Länder Abschied zu nehmen. Von der Gewissheit etwa, dass arabische Despoten nur militärisch gestürzt werden können, dass arabische Völker in einem Minderwertigkeitskomplex gefangen sind, dass ihre Proteste deshalb stets islamistisch unterfüttert sind und nur mit brennenden Flaggen der USA und wütenden Schmähungen Israels abgehalten werden können. Die Volksaufstände in Tunesien und Ägypten haben diese Vorstellungen widerlegt.

DER TAGESSPIEGEL (Berlin):
Im gesamten Nahen und Mittleren Osten gärt es. Selbst in den reichen Ölstaaten haben es die Menschen satt, sich von korrupten Herrschern und selbstherrlichen Autokraten gängeln zu lassen. Sie wollen ihr Leben selbst bestimmen, sie wollen eine Zukunft in Freiheit für sich und ihre Kinder. Und sie wissen aus Satellitenfernsehen und Internet, wie ihre Altersgenossen in Europa oder den Vereinigten Staaten leben. Die arabische Welt steht vor einer historischen Zeitenwende: Sie erlebt dieser Tage ihren eigenen Fall der Mauer – einer Mauer aus Machtmissbrauch und Polizeiterror, aus Ignoranz und erzwungener politischer Unmündigkeit. Kein Regime wird künftig mehr in der Lage sein, jedes Aufmucken der Untertanen von vornherein durch Polizeigewalt und Folter zu ersticken.

LE MONDE (Paris):
Der nächste Akt liegt nun zum größten Teil in den Händen der Armee, welche die Macht geerbt hat. Seit den 1950er Jahren bildet sie das Rückgrat des Regimes. Die Menschen achten sie. Seit Beginn der Kundgebungen hat die Armee klargestellt, dass sie nicht auf die Menge schießen werde. Gewiss ist auch die Armee gespalten, ähnlich wie das Land, zwischen Strömungen der nichtreligiösen Linken bis hin zu der Muslimbruderschaft, von Reformanhängern bis zu den Konservativen. Ihr steht jetzt eine gewaltige und für eine Armee ungewöhnliche Aufgabe bevor. Sie muss einen Übergang hin zu einer stabilen und demokratischen Regierung schaffen. Man will keine Kassandra und kein Spielverderber sein, doch man muss schon sagen, dass das kein leichtes Unterfangen sein wird.

OBSERVER (London):
Es gibt bisher keine Anzeichen dafür, dass die Armee von ihrer Selbstverpflichtung abweichen will, den Übergang zu einer Volksherrschaft zu ermöglichen. Aber ohne ausgereifte zivile Organe könnte die Angst vor Chaos die Generäle leicht zu dem Schluss führen, dass die Demokratie ein langfristiges Projekt ist. Es gibt eine Frist: Der um sein Amt ringende Mubarak verpflichtete sich, im September freie Wahlen abzuhalten. Das schien den Ägyptern zu lang, sie wollten den Präsidenten sofort abtreten sehen. Aber es gibt vernünftige Argumente dafür, den Urnengang sorgfältig vorzubereiten. Die Verfassung muss ergänzt und der staatliche Unterdrückungs-Apparat abgeschafft werden. Politische Gefangene müssen befreit werden und die Zensur-Gesetze fallen.

CYPRUS STAR (Nikosia):
Die USA und Israel sind mit der Übernahme der Macht durch die Armee zufrieden. Doch hier lauert eine Gefahr. Ein anderer General könnte sich an die Spitze des Staates setzen. Das würde nicht nur den Machtkampf innerhalb der Streitkräfte anheizen, auch das Volk würde dann wieder auf die Straße gehen. Eine schwierige Zeit wartet auf Ägypten. Man kann nur hoffen, dass der Wandel rasch geschafft wird.

LÜBECKER NACHRICHTEN:
Seit Jahrzehnten führt sie eine Mittelmeer-Politik, bei der sie Ägypten sowie die Maghreb-Staaten Libyen, Tunesien, Algerien und Marokko als eine Art südlichen Vorhof der EU betrachtet. Dazu hat die Unentschlossenheit der EU-Außenbeauftragten Catherine Ashton sicherlich eine Menge beigetragen. Aber daran sind die EU-Regierungschefs selbst schuld. Sie haben das Amt des EU-Außenministers kastriert. Und sie haben Ashton ausgeguckt, obwohl - oder gerade weil - ihre Zögerlichkeit bekannt war.

FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG: In der arabischen Krise hat sie bisher beherzter gehandelt als die Neider und Nörgler eingestehen wollen. Anders als das immer wieder zögerlich erscheinende Amerika reagierte Frau Ashton - wie die EU insgesamt - früh mit Erklärungen und Telefonaten zugunsten der Demonstranten. Hinter den Kulissen gab es Gemurre, weil die Außenbeauftragte nicht so rasch in die Region fahren wollte, wie sich das manche Staatskanzlei vorstellte; aber dann stellte sich heraus, dass die Ägypter erst einmal gar keine ausländischen Würdenträger empfangen wollten. Fest steht nur, dass sie am Montag nach Tunesien reist. Dass ihr da ausgerechnet der Außenminister ihres eigenen Heimatlandes zuvorkam, zeigt das Hauptproblem, mit dem noch jeder Brüsseler Politiker zu kämpfen hatte, selbst der begabteste: Die EU kann nur mit einer Stimme reden, wenn die Mitgliedstaaten sie lassen.

HAARETZ (Israel):
Ägypten steht nicht im Konflikt mit Israel und darf nicht als Feind dargestellt werden. Ministerpräsident Netanjahu muss Zurückhaltung und Selbstkontrolle beweisen. Seine Warnungen, dass Ägypten sich in einen neuen Iran verwandeln könnte und Andeutungen über eine Erhöhung des Verteidigungsbudgets schaffen eine destruktive Spannung und stellen Israel auf die Seite des gestürzten Regimes. Die Revolution in Ägypten hat nichts mit den Verbindungen zu Israel zu tun. Deshalb würde Netanjahu gut daran tun zu schweigen und dem Nachbarland eine Chance zu geben, eine Demokratie aufzubauen.

NEW YORK TIMES:
Die USA sollten aufhören, den islamischen Fundamentalismus als Schreckgespenst zu behandeln. Diese Vorstellung darf nicht länger die Außenpolitik beherrschen. Die amerikanische Paranoia über den Islamismus hat genauso viel Schaden angerichtet wie der muslimische Fundamentalismus. Nach langem Hin und Her hat Präsident Obama am Freitag den richtigen Ton getroffen, als er nach dem Sturz Mubaraks sprach. Er hat die Volksbewegung unterstützt und zugleich klargestellt, dass es an den Ägyptern selbst ist, über ihre Zukunft zu entscheiden. Dies könnte nicht nur einen Neubeginn für Ägypten bedeuten, sondern auch für die amerikanische Politik in der arabischen Welt. (Auszüge aus dem Leitartikel weiter unten.)

RHEINPFALZ AM SONNTAG:
Angesichts der mitreißenden Ereignisse am Nil wirkt das politische Geschehen in Deutschland und in anderen eingeübten Demokratien umso kleinmütiger", klagt die "Frankreichs Bürger wenden sich ab von geradezu feudalistischen Politikern, die sich ihren Urlaub von afrikanischen Potentaten bezahlen ließen. Die Italiener erregt oder belustigt das schillernde Liebesleben ihres Premierministers. Der ist mit immer neuen Rechtsprozessen so beschäftigt, dass kaum noch regiert wird. In Deutschland liefern die Parteien sich eine Schlacht um die Hartz-IV- Gesetzgebung, die zum abschreckenden Symbol für Bürgerferne geworden ist. Da kämpfen zwei Ministerinnen nicht für die Sache, sondern für sich und ihre Parteien unerbittlich und bis zur Ausweglosigkeit gegeneinander. Das hat nicht mehr viel mit Demokratie zu tun.

* Deutschlandfunk: Presseschau, 13. Februar 2011; www.dradio.de/presseschau/

Kommentare vom 12. Februar **


Rudolph Chimelli kommentiert in der Süddeutschen Zeitung ("Wer Demokratie predigt ..."):
Indem sie das islamistische Gespenst an die Wand malten, verschafften sich arabische Despoten jahrzehntelang Nachsicht und eine gute Presse. Das falsche Argument: "Ich oder die Bärtigen" zog immer. Was jetzt schon über die Diktaturen in Ägypten und Tunesien offenbar wurde, was verschreckten westlichen Augen in anderen Araber-Staaten noch bevorstehen mag, sollte Anlass sein, sich von der bisher geübten Heuchelei abzuwenden. Das Ende der Illusionen ist nahe. Nie sollte man auf dem Fehler beharren, seiner eigenen Propaganda zu glauben. Dafür sind die Lehren der Geschichte zu eindeutig.

Auszug aus einem Kommentar der konservativen britischen Zeitung "The Times": Was in Ägypten passiert ist, wird nicht nur das Schicksal dieses 80-Millionen-Volkes verändern. Es wird die Politik in der gesamten arabischen Welt verwandeln. Nicht alle Dominosteine werden fallen. Doch zahlreiche Regierungen werden nun strampeln, um ähnliche Zustände zu vermeiden, die eine Revolution auslösen könnten. Das sollten sie auch. Im Nahen Osten ist die Demokratie in einem beklagenswerten Zustand. Die Herrscher missbrauchen regelmäßig Rechte, setzen sich über den Willen ihrer Bürger hinweg und haben es nicht geschafft, ihnen Zukunftsperspektiven zu bieten. Sie müssen begreifen, dass nur eine gute Regierung Zufriedenheit und Stabilität bringen können. Ägypten ist Warnung und Inspiration zugleich.

Die "Neue Zürcher Zeitung" kommentiert:
Was die Generäle mit der Macht anfangen werden, die ihnen in den Schoss gefallen ist, ist die große Unbekannte. Der Vorsitzende des Militärrats ist Feldmarschall Mohammed Hussein Tantawi, der in den letzten 20 Jahren Mubaraks Verteidigungsminister war. Er dürfte den vorsichtigen Kurs vorgegeben haben, den die Streitkräfte zwischen Regime und Protestbewegung steuerten, indem sie sich weigerten, auf die Demonstranten zu schießen, ohne die Legitimität Mubaraks in Frage zu stellen. Tantawi war einer der wenigen Exponenten des Regimes, die zum Tahrir-Platz gingen, um mit den Demonstranten zu sprechen. Er wird darauf achten müssen, dass die Einheit zwischen Armee und Volk, welche die Pro-Demokratie-Demonstranten zelebrieren und welche die Streitkräfte bisher zu wahren wussten, nicht zerbricht.

"Le Figaro" (Paris):
Der Rücktritt Hosni Mubaraks macht den Weg frei für einen wirklichen Übergang, von dem man hofft, dass er demokratisch sein wird. Kontrolliert wird er von einer Armee, die sich mit den Zielen der Jugend solidarisiert hat. In Ägypten ebenso wie in Tunesien wurden diese völlig unerwarteten Umwälzungen durch die gleichen Faktoren ermöglich: die Forderungen der jungen Generation, die mobilisierende Macht des Internets und die Weigerung der Armee, ein ausgedientes Regime zu unterstützen. Da gleiche Ursachen oftmals gleiche Wirkungen haben, könnte für die gesamte arabische Welt heute eine neue Ära beginnen. Zahlreiche autoritäre Regime werden sich den neuen Vorgaben anpassen müssen oder damit rechnen, bald abgelöst zu werden.

Die konservative polnische Zeitung "Rzeczpospolita" malt als Schreckensszenario eine Machtübernahme der Muslimbrüder an die Wand:
Ägypten steht vor einer Riesenchance. Es kann zur ersten arabischen Demokratie im Nahen Osten werden. Das Land hat ein großes Wirtschaftspotenzial und es entstehen dort Grundlagen einer Zivilgesellschaft. Ein stabiles und demokratisches Ägypten wird ein gutes Vaterland für seine Bürger und ein guter Nachbar für für andere Länder der Region sein.
Möglich ist aber auch ein Negativ-Szenario. Die Macht könnten die populären Muslimbrüder übernehmen. Dann würde sich Ägypten statt in eine Demokratie in einen zweiten Iran verwandeln. Das wäre eine verhängnisvolle Entwicklung für Israel und für die Ägypter selbst."

"Politiken" (Kopenhagen):
Die Völker in der arabischen Welt werden diese Lektion nicht missverstehen, auch wenn die Möglichkeiten für eine Neuauflage des Triumphes der ägyptischen und tunesischen Bevölkerung von Land zu Land verschieden sind. China wird nicht mögen, dass ein Volksaufruhr, der 1989 in Peking scheiterte, jetzt in Arabien gelungen ist. Russland hat weder genug Kräfte noch Glaubwürdigkeit, um sich hier zu engagieren. Aber die EU und die USA müssen eine passende Haltung finden. Nach jahrzehntelanger Unterstützung für die Diktatur und dann zögerlicher, aber jetzt eindeutiger Unterstützung der Demokratie in Tunesien und Ägypten geht es jetzt um die Menschen in den 20 anderen arabischen Militärdiktaturen oder Königreichen.

** Auszüge aus dem Pressespiegel des in Wien erscheinenden "Standard" (online-Ausgabe)


Weitere Kommentare

Wo bleibt die Opposition?

Von Roland Etzel

Mubaraks Zeit ist abgelaufen. Das wussten alle schon vor zwei Wochen, auch ihm selbst hätte das klar sein müssen. Jahre gottgleicher Herrschaft waren aber auch in Ägypten der Sensibilität eines Staatsoberhauptes für das Leben außerhalb der Paläste nicht zuträglich, und dann gar Jahrzehnte wie im Falle Mubaraks...

Als sehr gemäßigte Oppositionelle ihm vor einem Jahr nahelegten, für die Präsidentschaftswahlen im September 2011 seinen Rückzug anzukündigen und eine geordnete Nachfolge einzuleiten – das hieß selbstverständlich auch eine ohne seinen Sohn – würdigte er sie nicht einmal einer Antwort. Selbst anlässlich der Parlamentswahl im Herbst wäre noch Gelegenheit gewesen, der Bevölkerung einen Silberstreif an politischer Veränderung in Aussicht zu stellen. Doch so wie er den Wahlvorgang selbst zu einer Farce reinsten Wassers verunstaltete, war schnell klar, dass der Mubarak-Klüngel nicht entfernt daran dachte, sein pharaonisches Diktaturprinzip auch nur entfernt in Frage stellen zu lassen.

Die Chance eines in den Augen der eigenen Bevölkerung halbwegs ehrenhaften Abtritts bestand nun nicht mehr, ganz gleich mit welch fragwürdigen Freundlichkeiten sein Nachfolger das gestern noch umschrieb. Aber selbst dafür schwanden die Möglichkeiten beinahe mit jeder Stunde, die Mubarak verstreichen ließ. Er legte es offenbar darauf an, dass ihm jeder Zacken der Krone einzeln entwunden werden musste.

Dass dies bis zum gestrigen Tag aber noch immer anhielt, lag nicht nur in der Haltung Mubaraks begründet. So ist die politische Haltung der führenden Köpfe der Armee als der vermeintlich starken und zugleich allein ihres Amtes wegen allgemein anerkannten Kraft im Lande noch immer äußerst diffus. Keine der dürftigen Äußerungen der Militärs ließ erahnen, inwieweit sie den massiven Forderungen nach Demokratisierung des bedeutendsten arabischen Landes Rechnung zu tragen gedenken. Der Grund für das verbreitete Misstrauen hat auch ein Gesicht: das des bisherigen Vize Suleiman. Der nun inthronisierte Nachfolger bedient alle negativen Vorstellungen, die man völlig zurecht auch mit dem Namen Mubarak verband. Er ist alles andere als eine Alternative zu ihm.

Jetzt, spätestens jetzt, ist es an der Zeit für die politische Opposition, die Deckung zu verlassen und sich auf dem Tahrir-Platz oder wo auch immer hörbar zu artikulieren. Vorsicht war sicher angebracht nach 30 Jahren Ausnahmezustand, nach Gefängnis und Folter für politisch missliebige Geister – die selbstverständlich erst zueinander finden und sich auf ein Minimalprogramm als Sofortalternative zur herrschenden Militärdiktatur verständigen müssen. Wie lange es die Organe des Staates – welche auch immer – zulassen werden, dass sich Leute auf dem Tahrir-Platz politisch äußern, weiß niemand. Aber das Zeitfenster dafür kann sich sehr schnell schließen. Mit butterweichen Appellen und angstvoll klingenden Selbstvergewisserungen, dass die Armee sich nie gegen das Volk wenden werde (Mohammed al-Baradei), dürfte es nicht getan sein.

Aus: Neues Deutschland, 12. Februar 2011


Kein Halten mehr

Die Zeit der Angst ist vorbei

Von Karin Leukefeld


Den ganzen Donnerstag abend hat Ahmed, der in einem großen Hotel in Kairo arbeitet, mit sehnsüchtigen Augen die Menschenmassen beobachtet, die am Ufer entlang zum Tahrir-Platz strömten. »Alle erwarten, daß Mubarak geht«, meint er vor dessen Rede. »Auf dem Tahrir-Platz wird es ein großes Fest geben.« Nach der Rede bleibt ein ungläubiges Schweigen bei Ahmed und seinen Kollegen. »Er ist nicht mehr Herr seiner Sinne«, sagt einer dann kopfschüttelnd.

Sofort nach seiner Nachtschicht macht Ahmed sich am Freitag morgen auf zum Tahrir-Platz. Seinen elfjährigen Sohn nimmt er mit. »Neulich, als wir dort waren, fragte er mich, warum ich nicht schon früher was gegen Mubarak gesagt hätte«, erzählt Ahmed. »Ich habe mich nicht getraut«, gibt er zu. »Wir waren feige.«

Die Zeit der Angst für die Ägypter ist vorbei. »Die Rede ist eine Unverschämtheit, der Mann nimmt uns nicht ernst, er hat völlig den Bezug zur Realität verloren«, schimpft ein junger Mann in die Kamera des Nachrichtensenders Al-Dschasira.

»Heute, morgen und übermorgen werden sich die Massen verdoppeln und verdreifachen«, sagt ein 50jähriger Akademiker, der sich mit seiner Frau als »Die Ägypter« vorstellt. Ägypter seien geduldig, es habe 30 Jahre gedauert, bis die Wut über das Regime ausgebrochen sei, jetzt gebe es kein Halten mehr. »Auf diesem Platz ist die Hoffnung von Ägypten versammelt«, sagt der Mann. »Unsere Kinder sind vorangegangen, wir sind stolz auf sie.« Die Antwort auf Vizepräsident Omar Suleiman könnte nicht deutlicher ausfallen, sagt seine Frau zu der Auforderung vom Vorabend, die Proteste einzustellen und nach Hause zu gehen. »Hier kommen die Menschen wieder auf die Straßen, und wir werden bleiben, bis das Regime geht.«

Das Angebot des deutschen Außenministers Guido Westerwelle, den Ägyptern im Rahmen einer »Transformationspartnerschaft« Hilfe zum Aufbau demokratischer Strukturen in Politik, Justiz und Wirtschaft zu geben, lehnen die beiden »Ägypter« dankend ab. Solidarität der Europäer ja, aber keine Bevormundung. »Was denken sich die Politiker in Europa eigentlich, wer wir sind«, sagt die Frau. »Wir sind Demokraten! Was wir hier machen, ist Demokratie, oder wie würden Sie das nennen?«

Aus: junge Welt, 12. Februar 2011


Variante zwei

Von Roland Etzel

Die Beschleunigung der Ereignisse in Kairo kam plötzlich, aber nicht unerwartet. Dass Mubarak mittlerweile nur noch lästiger Ballast beim Rennen um die Sicherung der Herrschaft nicht allein in Ägypten war, bestimmte schon die vergangenen zwei Wochen das Handeln aller Beteiligten. Für den fieberhaft hinter den Kulissen agierenden Dreibund aus USA, Israel und ihren Kairoer Verbündeten – verkörpert in der Person Suleiman – gab es bislang allerdings zwei unterschiedliche Strategien zum gleichen Ziel. Entweder man wartet ab, bis die Volksbewegung allmählich ihren Schwung verliert oder man wählt den kurzen Prozess mit dem Amtsinhaber. Für letzteres müssten CIA und Co. sofort eine entsprechende Ersatzstruktur implantieren können, um nicht einen Tag lang ein Machtvakuum zuzulassen

Es spricht einiges dafür, dass sie nun glauben, soweit zu sein und Mubarak die Entscheidung, wann er denn von selbst sein Amt aufgeben möchte, abgenommen haben. Der finale Tritt von außen gegen den Diktator hätte zugleich den Charme, damit vermeintlich der allerersten Volksforderung endlich zu entsprechen.

Die Opposition hat sich bisher nicht entscheidend formieren können. Weder ist ein charismatischer Führer auszumachen, der über die eigene Anhängerschaft hinaus akzeptiert ist, noch reichen die Verlautbarungen der sich schüchtern äußernden Nicht-Mubarak-Parteien über »Mubarak muss weg!« hinaus.

Aus: Neues Deutschland, 12. Februar 2011


What Egypt Can Teach America

By NICHOLAS D. KRISTOF

(...) Recognizing that crafting foreign policy is 1,000 times harder than it looks, let me suggest four lessons to draw from our mistakes:
1.) Stop treating Islamic fundamentalism as a bogyman and allowing it to drive American foreign policy. American paranoia about Islamism has done as much damage as Muslim fundamentalism itself. (...) We tie ourselves in knots when we act as if democracy is good for the United States and Israel but not for the Arab world. For far too long, we’ve treated the Arab world as just an oil field. (...)
2.) We need better intelligence, the kind that is derived not from intercepting a president’s phone calls to his mistress but from hanging out with the powerless. After the 1979 Iranian revolution, there was a painful post-mortem about why the intelligence community missed so many signals, and I think we need the same today.
In fairness, we in the journalistic community suffered the same shortcoming: we didn’t adequately convey the anger toward Hosni Mubarak. Egypt is a reminder not to be suckered into the narrative that a place is stable because it is static.
3.) New technologies have lubricated the mechanisms of revolt. Facebook and Twitter make it easier for dissidents to network. Mobile phones mean that government brutality is more likely to end up on YouTube, raising the costs of repression. The International Criminal Court encourages dictators to think twice before ordering troops to open fire.
Maybe the most critical technology — and this is tough for a scribbler like myself to admit — is television. It was Arab satellite television broadcasts like those of Al Jazeera that broke the government monopoly on information in Egypt. (...)
4.) Let’s live our values. We pursued a Middle East realpolitik that failed us. Condi Rice had it right when she said in Egypt in 2005: “For 60 years, my country, the United States, pursued stability at the expense of democracy in this region, here in the Middle East, and we achieved neither.”
(...)
After a long wishy-washy stage, President Obama got it pitch-perfect on Friday when he spoke after the fall of Mr. Mubarak. He forthrightly backed people power, while making clear that the future is for Egyptians to decide. Let’s hope that reflects a new start not only for Egypt but also for American policy toward the Arab world. Inshallah.

New York Times, February 12, 2011; www.nytimes.com


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