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"Wir wollen keinen Gottesstaat"

Ägyptische Muslimbruderschaft gab in Kairo ihre erste öffentliche Pressekonferenz

Von Karin Leukefeld, Kairo *

Der arabische Nachrichtenkanal Al-Dschasira kann wieder mit amtlichem Segen in Ägypten empfangen werden. Die Regierung in Kairo hatte vor mehr als zwei Wochen, nach Beginn der Proteste gegen Präsident Mubarak, die Übertragung der Programme des Senders über den Satelliten Nilesat abgestellt. Das Al-Dschasira-Büro in Kairo war von Geheimdienstschlägern gestürmt worden. Nun sind die Kollegen wieder offiziell mitten im Geschehen.

Manial ist die zweitgrößte Nilinsel in Kairo. Schmale Straßen führen durch hohe Häuserschluchten, Autos und Lieferwagen drängen sich neben Pferdekarren durch das Labyrinth. An einer Ecke der Al-Akshad-Straße liegt eine alte Moschee. eingekeilt von gigantischen Wolkenkratzern: Hier ist das Pressezentrum der Muslimbruderschaft. Die Pressekonferenz fängt überpünktlich an, der kleine Raum ist völlig überfüllt, Fotografen und Kameraleute fallen fast übereinander, um die besten Bilder zu erhaschen, ein Strauß bunter Mikrofone von Fernsehsendern aus aller Welt ist vor den Rednern aufgebaut.

Man trete für Demokratie und Gerechtigkeit in Ägypten ein, sagt Mohammed Mursi, einer der Sprecher. Die Muslimbruderschaft habe nicht vor, einen Kandidaten zu den nächsten Präsidentschaftswahlen zu benennen. Man strebe nicht die Macht an, beruhigt Mursi, »wir wollen teilhaben, nicht dominieren«. Angst vor einem islamischen Staat in Ägypten wies Mursi zurück. »Wir lehnen die Idee eines Religionsstaates ab«, betonte Mohammed Katatny, der bis zu den Wahlen 2010 Fraktionsvorsitzender der Parlamentsgruppe der Muslimbruderschaft war. Seine Organisation sei »nicht verantwortlich für das Gerede und die Stellungnahmen anderer Länder«, meint Katatny. Das Regime von Husni Mubarak habe die Muslimbruderschaft benutzt, um Angst zu schüren. »Sie wollten sich als die Einzigen darstellen, die dem Land Sicherheit bringen«, so Katatny. Doch das Regime habe die Forderungen des Volkes ignoriert.

Tatsächlich fordern die Ägypter und mit ihnen die Muslimbrüder seit mehr als zwei Wochen den Rücktritt von Husni Mubarak und Wahlen, niemand allerdings erklärt sich für einen islamischen Gottesstaat wie in Iran. Wen immer man fragt auf dem Tahrir-Platz oder an anderen Orten Kairos, ob Muslime oder Christen, ob reich oder arm, keiner hat Angst vor den Muslimbrüdern. »Ich glaube, diese Angst ist Ihr Problem in Europa«, antwortet Amir, ein junger Kopte im Stadtteil Zamalek auf die Frage, ob er als Christ Angst vor den Muslimbrüdern habe. »Sie sind ein Teil dieser Gesellschaft. Und wenn wir eines Tages wirklich eine neue Verfassung und freie Wahlen haben und die Ägypter würden sich tatsächlich für die Muslimbruderschaft entscheiden, dann werde ich das auch respektieren, das ist schließlich Demokratie.«

Die Anhängerschaft der Organisation wird in Ägypten auf höchstens 20 Prozent geschätzt. Bei den Wahlen 2005, als erstmals Muslimbrüder erstmals kandidieren durften – zwar auf anderen Listen oder als Einzelpersonen, aber ohne ihre politische Heimat zu verschweigen – kamen auf Anhieb 88 von ihnen ins Parlament. Bei den Wahlen 2010 allerdings machte das Regime Mubarak den Muslimbrüdern das Leben schwer. Ihre Kundgebungen und Veranstaltungen wurden von Polizeikräften aufgelöst, Hunderte wurden verhaftet. Im ersten Wahldurchgang schaffte kein einziger der Kandidaten den Sprung ins Parlament, im zweiten schaffte es einer. Der wiederum protestierte gegen die offensichtlich gefälschte Wahl und wies sein Mandat zurück.

Die Muslimbruderschaft – Ikhwan al-Muslimin in Arabisch – ist die älteste und größte muslimische Organisation in Ägypten. Die kleinere Karama-Partei ist eine moderate, westlich orientierte Abspaltung der Bruderschaft, die eine weit geringere Rolle spielt. Gegründet wurde die Bruderschaft 1928 und war bald im antikolonialen Kampf gegen die Briten involviert.

Wegen Bedrohung von britischen und jüdischen Interessen in Ägypten wurde die Ikhwan 1948 verboten. Das muslimische Recht der Scharia, das der Bruderschaft im Westen als Zeichen für ihre »undemokratische« Haltung vorgehalten wird, ist keine Besonderheit der Organisation, sondern steht in der ägyptischen Verfassung. Mit dem Slogan »Der Islam ist die Lösung« hat die Bruderschaft viele muslimische Organisationen im Nahen und Mittleren Osten beeinflusst. Mit Al Qaida haben die Muslimbrüder dagegen nichts zu tun. Die Qaida-Gründungsväter standen der CIA und dem saudischen Königshaus weit näher als die Ikhwan.

Seit die Demokratiebewegung Ägypten und die Welt in Atem hält, hat sich die muslimische Organisation auffällig zurück. Sie habe die Proteste nicht organisiert, unterstütze sie aber. Tatsächlich waren weder in Alexandria, dem Zentrum der Muslimbruderschaft, noch auf dem Tahrir-Platz in Kairo oder bei anderen Protesten Fahnen oder Embleme der Organisation zu sehen.

* Aus: Neues Deutschland, 10. Februar 2011


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