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Rebellion gegen Mursi

"Tamarod"-Tag am Nil: Widerstand gegen regierende Muslimbrüder in Ägypten wächst. Landesweite Proteste am 30. Juli vorbereitet

Von Mamdouh Habashi *

In Ägypten braut sich etwas zusammen. Wir stehen seit dem Aufstand vom 25. Januar 2011 vor einem neuen Phänomen. Es ist konkurrenzlos in der Weltgeschichte der Revolutionen. Eine jugendliche Avantgarde hatte ein Datum festgelegt, um eine Volksbewegung zu starten bzw. die gesamte Bevölkerung in Bewegung zu setzen. Sie konnte nicht wissen, daß sich das zu einem massiven Volksaufstand entwickeln und soweit gehen wird, bis sie das Regime stürzt, wie das mit der Hubschrauberflucht des ägyptischen Langzeitpräsidenten Hosni Mubarak am 11. Februar 2011 schließlich der Fall war. Im Gegensatz dazu wetten die demokratischen Kräfte heute mit ihrem »Tamarod«-Aufruf am 30. Juni eindeutig auf den Sturz des Regimes.

Die Unzufriedenheit mit den regierenden Muslimbrüdern in Äypten ist enorm. Früher als Oppositionelle verfolgt haben sie die ihnen verliehene Macht nicht zum Wohle des Volkes, sondern zur Selbstbereicherung und zur Festigung ihrer Position ausgenutzt. Knapp ein Jahr nach der Wahl von Mohammed Mursi zum Präsidenten haben die Menschen die Nase voll vom Niedergang der Wirtschaft, dem Verfall der Währung und dem Zusammenbruch des Außenhandels, von leeren Versprechungen und dem Ausverkauf von Staatseigentum. Die Zeit ist reif für eine neue Revolutionwelle.

Am 30. Juni, am ersten Jahrestag der Ernennung Mursis zum Präsidenten, soll der Unmut des Volkes über die schlechte Regierung der Muslimbrüder auf vielfältige Weise zum Ausdruck gebracht werden. Seit Wochen schon sammeln landauf, landab Ägypter aller Gesellschaftsklassen und religiöser Ausrichtung Unterschriften, um den Rücktritt des Präsidenten und Neuwahlen zu verlangen. Mittlerweile haben mehr als über 17 Millionen Menschen unterzeichnet. Dies allein schon ist ein großer Erfolg der von jungen Menschen ins Leben gerufenen Bewegung »Tamarod«, zu Deutsch »Rebellion«.

Die Bestimmung des Zeitpunkts für den Sturz des Regimes hat Vor- und Nachteile. Erstere bestehen darin, die Stärke der revolutionären Kräfte durch die Herausforderung zu demonstrieren und die Öffentlichkeit dafür zu sensibilisieren, daß alle Teillösungen bzw. irgendwelche »Last Minute«-Verhandlungen nicht im Sinne der Revolu­tion sein können. Der Nachteil ist der Verzicht auf das Element der Überraschung – ein wesentliches Element für den Erfolg jeder Taktik, militärisch wie politisch. Die Regierung bereitet sich dementsprechend vor, und hat eine Schutzmauer direkt um ihre Haupteinrichtungen gebaut. Daß diese allerdings das Volk davon abbringen könnte, die Forderungen der Revolution noch einmal mit Nachdruck durchzusetzen, erscheint den Menschen in Ägypten lächerlich.

Die Muslimbrüder haben zwar mit dem Präsidentenamt die wichtigste Institution in Ägypten erobert. Aber ihre überraschend schlechte Leistung und die Fernsteuerung des Präsidenten durch die Führung der Bruderschaft hat diese Institution in ihre schlimmste Situation seit Jahrzehnten gebracht. Mursis Problem: Hätte er einen charismatischeren Stil, könnte er damit einige Schwächen der Politik der Bruderschaft kompensieren. Deren größtes Problem ist, die Lage der verarmten Massen nicht einmal ansatzweise verbessern zu können und damit den Verlust ihrer sozialen Basis selbst zu befördern. Mit Blick auf die Klasseneigenschaften der Führungsriege aller islamistischen Parteien und Strömungen aus Muslimbrüdern, Salafisten und Dschihadisten verwundert das nicht. Es handelt sich in erster Linie um Finanz-, Handels-, Immobilien- und Dienstleistungskapital, interessenverflochten unter anderem mit dem Kapital der Erdölstaaten am Golf und der Türkei.

Lange Schlacht

Fast alle demokratischen Kräfte sind davon überzeugt, daß sie eine lange, schwere und blutige Schlacht erwartet, bis die Muslimbrüder die Macht wieder preisgeben. Denn die Bruderschaft weiß jetzt sicher, daß sie im Juni 2012 die einmalige Chance bekommen hat, das Land zu regieren. Sie wird das nie wieder können, weder durch Wahlen noch mit Gewalt. Ein Jahr Herrschaft der Muslimbrüder hat die Ägypter immun gegen sie gemacht – für immer.

Die Bruderschaft hat das Problem, daß sie mit Unterstützung der USA an die Macht gekommen ist und durch diese an der Macht bleiben kann. Am 19. Juni hat die US-Botschafterin in Kairo, Anne Paterson, zwar eine Erklärung zur offensichtlichen Unterstützung des Präsidenten abgegeben. Sie verwies darauf, daß Mursi durch Wahlen an die Macht gekommen ist. Gleichzeitig wachsen im Weißen Haus offensichtlich die Zweifel, ob die Muslimbrüder in der Lage sind, gegebene Versprechungen auch einzuhalten: Versprechungen gegenüber den westlichen Interessen im allgemeinen und dem Staat Israel im besonderen, aber auch die, die sich radikalisierenden Protestbewegungen im Land in Schach zu halten …

Neben der abnehmenden US-Unterstützung steht die Bruderschaft vor weiteren Herausforderungen. Da ist zum einen die Sicherheitslage in Sinai, insbesondere durch terroristische Gruppen und kriminelle Banden, und die Erweiterung des Einflusses palästinensischer Islamisten. Es mehren sich auch die Anzeichen von sektiererischen Unruhen unter den Slum-Bewohner, die bürgerkriegsähnliche Ausmaße anzunehmen drohen. Hinzu kommt Äthiopien mit dem Bau des Staudamms am Nil, der wichtigsten Lebensader für die Ägypter.

Die Muslimbrüder sind sich all dieser Schwierigkeiten bewußt und auch nicht tatenlos geblieben. Sie haben unter Nutzung ihrer großen finanziellen und ideologischen Möglichkeiten und ihrer auswärtigen Beziehungen Wahlerfolge erzielt und den Widerstand einiger Institutionen im Staatsapparat neutralisiert. Es ist ihnen auch gelungen, Oppositionsbündnisse und Jugendbewegungen zu spalten. Sie kooptierten einige »gemäßigte« Führer und Gruppen, die früher mit dem Mubarak-Regime verbündet waren.

Gemeinsame Front

Auf der anderen Seite steht das Lager der revolutionären Kräfte besser da. Unmittelbar nach dem Mursi-Dekret vom 22. November 2012, in dem faktisch alle drei Gewalten in seine Hand konzentriert und dem Präsidenten Immunität für alle Zeit gegeben werden sollten, formierte sich die sogenannte Rettungsfront. Sie besteht aus gut einem Dutzend Parteien und Organisationen aus den drei nicht-islamistischen politischen Lagern: den Liberalen, den Nationalisten und den Linken. Ein solch heterogenes Gebilde konnte sich aber lediglich auf den Sturz der Herrschaft der Muslimbrüder einigen, sonst nichts.

Die linken Kräfte der »Rettungsfront« spielten eine immens wichtige Rolle. Sie sorgten dafür, daß das Bündnis und die Polarisierung im Land »Islamisten gegenüber dem Rest des Volkes« aufrechterhalten worden ist. Es fehlt aber noch vieles, bis die Linken die führende Rolle in Ägypten spielen können. Diese Erkenntnis ist bei den meisten angekommen, was sie zu erhöhter Form der Zusammenarbeit drängt, ja – aufgrund der enormen Gefahren – zur Einheit zwingt.

Für den »Tamrod«-Aufstand am Sonntag, die landesweite Rebellion gegen Mursi und die Muslimbrüder, konnte man sich auf die minimalen Forderungen einigen:
  • Sofortige Erhöhung des Mindestlohns auf 1500 Ägyptische Pfund (gut 160 Euro) im Monat, Reduzierung des Höchstlohns auf maximal das 15fache des Mindestlohns.
  • Umverteilung der Last der Wirtschaftskrise, damit die Reichen mehr tragen als die Armen, durch ein progressiven Steuersystem und Steuererleichterung bzw. -befreiung für die niedrigeren Einkommen.
  • Freiheit sofort. D.h. Recht auf Gründung politischer Parteien, lediglich per Anmeldung und ohne jede Hürden, die sie sonst auf die Reichen begrenzt. Auflösung aller Parteien, Gruppierungen oder Vereinigungen, die über bewaffnete Milizen verfügen und/oder religiöse Agitation und Anstiftung zur sektiererischen Gewalt und Blasphemie betreiben.
  • Freiheit sofort. D.h. Recht auf Gründung von Gewerkschaften, lediglich per Anmeldung, sofortige Verabschiedung des Gesetzes für gewerkschaftliche Freiheiten und die Anerkennung aller bereits gebildeten unabhängigen Gewerkschaften.
  • Freiheit sofort. D.h. Recht auf Gründung von Nichtregierungsorganisationen.
  • Reform des Bildungs- und Gesundheitswesen beginnend mit der sofortigen Verdoppelung des Budgets.
  • Ratifizierung des Streikrechts, des Versammlungs- und Demonstrationsrechts und der Pressefreiheit.
  • Reform des Landrechts; Bauern dürfen nicht enteignet und von ihrem Land vertrieben werden, Verabschiedung eines Gesetzes für die landwirtschaftlichen Pachtverträge, Schuldenerlaß für die kleinen und mittleren Agrarbetriebe, Rückkehr zum demokratischen System von Kooperativen bzw. Bauerngenossenschaften.
  • Wiederverstaatlichung privatisierter Betriebe, über die entsprechende Gerichtsurteile gefällt worden sind.
* Mamdouh Habashi ist außenpolitischer Sprecher der Ägyptischen Sozialistischen Partei.

Aus: junge Welt, Mittwoch, 26. Juni 2013


Chronologie: Ein Jahr Mursi

24. Juni 2012: Die Wahlkommission erklärt Mursi von der Muslimbruderschaft zum Sieger über Ahmed Schafik bei der Stichwahl. Am 30. Juni legt Mursi vor dem Verfassungsgericht seinen Amtseid ab.

12. August: Mursi setzt Verfassungszusätze außer Kraft, mit denen seine Macht zugunsten des Militärs eingeschränkt wurde.

22. November: Dem Verfassungsgericht spricht Mursi die Kompetenz ab, über die Rechtmäßigkeit des von Islamisten dominierten Verfassungskomitees zu entscheiden.

23./24. November: Die Empörung unter Mursis politischen Gegnern wächst. Hunderttausende gehen auf die Straße.

29. November: Im Eilverfahren peitscht das Verfassungskomitee seinen Entwurf einer neuen Verfassung durch. Islamisches Recht (Scharia) soll Hauptquelle der Gesetzgebung sein. Die Massenproteste halten an.

8. Dezember: Im Konflikt mit der Opposition gibt Mursi nach und annulliert seine Sondervollmachten.

15. Dezember: In zehn Provinzen beginnt die erste Abstimmungsrunde über den Verfassungsentwurf. Die Opposition wirft den Islamisten Manipulation vor. Am 22. Dezember beginnt die zweite Runde. Am 25. Dezember teilt die Wahlkommission mit, es hätten 63,8 Prozent für die Verfassung gestimmt.

25. Januar 2013: Am zweiten Jahrestag der Revolution protestieren landesweit mindestens 500000 Ägypter gegen Mursi.

26. Januar: In Kairo werden 21 Menschen wegen ihrer Beteiligung an Fußballkrawallen mit 74 Todesopfern in Port Said im Februar 2012 zum Tode verurteilt. Nach dem Urteil eskaliert in Port Said die Gewalt. Es gibt Dutzende Tote und Hunderte Verletzte. Mursi verhängt den Ausnahmezustand über Port Said, Suez und Ismailia am Suez-Kanal.

11. Februar: Am zweiten Jahrestag des Mubarak-Rücktritt gehen Zehntausende Ägypter auf die Straße.

8. März: Die Wahlkommission beschließt eine Verschiebung der Parlamentswahl. Wenige Tage später legt Mursi Einspruch dagegen ein.

2. Juni: Das oberste Verfassungsgericht spricht dem von Muslimbrüdern und Salafisten dominierten Oberhaus des Parlaments die Legitimität ab. Auch die von Mursi durchgeboxte Verfassung sei unter nicht gesetzeskonformen Umständen zustande gekommen, heißt es.

7. Juni: Mursi weist Rücktrittsforderungen zurück: »Das Gerede über vorgezogene Präsidentenwahlen ist absurd und illegal.«

17. Juni: Mursi macht sieben Muslimbrüder und ein Mitglied der militanten, in den USA und in der EU als Terrorgruppe eingestuften Gamaa Islamija zu Provinzgouverneuren.

Aus: junge Welt, 26. Juni 2013




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