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Küsse für Mursi, Schläge für Kritiker

Die politischen Lager in Ägypten stehen sich unversöhnlich gegenüber

Von Oliver Eberhardt, Kairo *

Am ersten Freitag des Fastenmonats Ramadan hatten Befürworter und Gegner des abgesetzten Präsidenten Mursi in Ägypten zu Großdemonstrationen aufgerufen; Zehntausende kamen. Vor allem in der Tamarud-Bewegung ist man besorgt, denn das Militär übernimmt zunehmend die Kontrolle; die Öffentlichkeit ist weitgehend ausgeschlossen.

Sie hatten sich viel versprochen. »Eine anständige Verfassung«, so ein junger Mann, Politikstudent, wie er sagt. »Mitspracherechte«, erklärt eine junge Frau, Anwältin von Beruf. »Streikrechte«, fordert ein Arbeiter.

Stattdessen haben die drei, die sich am Freitagnachmittag mit mehreren Zehntausend anderen Ägyptern erneut auf den Weg ins Stadtzentrum von Kairo gemacht haben, das bekommen: einen Mann als Präsidenten, den vor zehn Tagen wirklich nur Insider kannten; einen Regierungschef, von dem selbst Mitarbeiter des Präsidialamtes nicht genau sagen können, wie er ausgewählt worden ist. Und vor allem: Einen Generalstabschef, der über all dies als neuer starker Mann wacht, mit der Begründung, die Revolution müsse verteidigt, der Willen des Volkes vertreten werden. Vor zweieinhalb Jahren war es eben dieses Militär, das auf die Bevölkerung feuerte.

Das bereitet vielen von denen, die vor zehn Tagen für die Absetzung von Präsident Mohammed Mursi demonstrierten, nun Sorgen. Das hat sie am Freitag, dem ersten im Fastenmonat Ramadan, in die Innenstadt von Kairo getrieben. Die Bewegung Tamarud (Rebellion) hat erneut zu einer Massenkundgebung aufgerufen. Und das nicht mehr allein wie bei vorangegangenen Demonstrationen, um einen Gegenpol zu den Massenprotesten der Muslimbruderschaft zu bilden, die sich tagtäglich in Sadr City vor den Toren des Zentrums und anderswo im Land abspielen. Dieses Mal, sagen Tamarud-Leute, gehe es auch darum, der neuen Führung zu zeigen, dass sie die Öffentlichkeit nicht einfach ausklammern kann. Denn das Gefühl, dass den Mursi-Gegnern die Revolution entgleitet, dass weder sie noch die Gegenseite, also die Muslimbruderschaft, wirklich Einfluss haben, ist allgegenwärtig. Die Wut der beiden Lager richtet sich nicht mehr, wie noch vor einigen Tagen, als die ersten bereits einen Bürgerkrieg prophezeiten, gegeneinander, sondern sie richtet sich zunehmend gegen das Militär. Es geht das Gerücht um, dass Generalstabschef Abdalfatah al-Sisi selbst mit der Führung des Landes liebäugele, dass er für das Amt des Präsidenten kandidieren werde. Möglicherweise könnte er aber die vor einigen Tagen angekündigten Wahlen auch ganz absagen. Seine Sprecher bestreiten das, sagen, das Militär garantiere nur eine geordnete Rückkehr zur Demokratie. Doch die Zeichen für eine Machtübernahme durch das Militär sind da, und am deutlichsten scheinen sie im Änderungsentwurf für die neue Verfassung durch, der wie alles andere im stillen Kämmerlein geschrieben wurde: Das Militär erhält darin die Befugnis, »zur Verteidigung der Revolution« einzuschreiten. Ein Sprecher von Übergangspräsident Adli Mansur verteidigt die geforderte Veränderung: Man könne Ägypten nicht mit Europa vergleichen; jemand müsse die Demokratie beschützen, weil sie sonst jederzeit ausgehebelt werden könne.

Während sich die Bevölkerung, in beiden Lagern sorgt, ist öffentliche Gegenrede selten: Radio- und Fernsehsender, die der Muslimbruderschaft nahe stehen, senden nach wie vor nicht; Zeitungen erscheinen nicht. Und die Medien, die veröffentlichen, verfolgen die Vorgänge absolut kritiklos. So wird die offizielle Version vom Tod der mehr als 50 Menschen vor dem Hauptquartier der Republikanischen Garden am Montagmorgen als Fakt dargestellt – und das, obwohl sie ganz offensichtlich eine Lüge ist. In einer Pressekonferenz behauptete ein Sprecher, die Muslimbruderschaft habe auf Dächern vor der Basis Scharfschützen postiert. Nur: Es gibt dort gar keine Dächer. Die Nähe der Journalisten zum Militär ging sogar so weit, dass dem Sprecher am Ende der Pressekonferenz applaudiert wurde, nachdem ein Journalist des Nachrichtensenders Al-Dschasira fluchtartig den Saal hatte verlassen müssen. Kollegen hatten ihm für seine kritischen Berichte Schläge angedroht.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 13. Juli 2013


Neue Proteste in Ägypten

Islamisten sammeln sich nach Freitagsgebet, auch Mursi-Gegner demonstrieren **

Islamisten aus ganz Ägypten sind am Freitag zum »Marsch der Millionen« in die Hauptstadt Kairo geströmt. Zu der Kundgebung hatten die Muslimbrüder aufgerufen, deren politischer Arm, die Partei für Freiheit und Gerechtigkeit (FJP) das Land bis vorige Woche regiert hatte. Sie forderten, daß der gestürzte Präsident Mohammed Mursi (FJP) wieder in sein Amt eingesetzt wird. Mursi wird seit seiner Absetzung ohne Anklage von der Armee festgehalten. Gegner der Islamisten riefen zu einer Großdemonstration auf dem zentralen Tahrir-Platz auf. Sie hatten in der Vorwoche Millionen Menschen gegen Mursi mobilisiert und damit entscheidend zu dessen Entmachtung durch das Militär beigetragen.

Angesichts der Polarisierung fürchteten Beobachter erneut gewaltsame Auseinandersetzungen. Die Armee errichtete an den Zufahrtstraßen zur Hauptstadt Kontrollpunkte. Am zentralen Kundgebungsort der Mursi-Anhänger im östlichen Stadtteil Nasr-City sammelten sich zum ersten Freitagsgebet im Fastenmonat Ramadan Tausende Menschen. Die Muslimbruderschaft kündigte an, solange auf die Straße zu gehen, bis ihre Forderungen erfüllt seien. Eine Beteiligung an der vom Militär anvisierten Übergangsregierung hatten sie am Dienstag abgelehnt.

Das Militär fährt ansonsten eine harte, bisweilen brutale Linie gegen die Bruderschaft. Am Montag waren bei schweren Kämpfen zwischen Armee und Mursi-Anhängern 51 Menschen getötet worden. Am Dienstag waren Haftbefehle gegen die Führungsriege der Muslimbrüder ergangen. Angesichts der tödlichen Unruhen und massenhaften Festnahmen mahnte UN-Generalsekretär Ban Ki Moon die ägyptischen Behörden zur Einhaltung der Menschenrechte. Er sei »tief besorgt« wegen fortgesetzter Festnahmen, sagte Ban am Donnerstag nach einem Telefongespräch mit Ägyptens Außenminister Kamel Ali Amr. Er habe ihn an internationale Verpflichtungen erinnert und daran, daß Ägypten Versammlungs- und Redefreiheit garantieren müsse.

Derweil verzögert sich die Bildung einer Übergangsregierung offenbar weiter. Der geschäftsführende Ministerpräsident Hasem Al-Beblawi will am Sonntag mit entsprechenden Gesprächen beginnen und erwartet nach Angaben vom Freitag eine Vereidigung des neuen Kabinetts bis zum Ende kommender Woche. Ursprünglich hatte er den Wochenbeginn anvisiert.

** Aus: junge Welt, Samstag, 13. Juli 2013


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