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"Mit allen Mitteln" in Ägypten

Mehr als 60 Tote und Hunderte Verletzte bei Zusammenstößen

Von Oliver Eberhardt, Kairo *

Elf Angehörige von Armee und Polizei wurden am Montag in Ägypten von mutmaßlichen Extremisten getötet. Damit gingen die blutigen Zusammenstöße zwischen Armeeanhängern und Islamisten vom Sonntag weiter.

In Ägypten hatte es am 40. Jahrestag des Beginns des Jom-Kippur-Krieges erneut schwere Ausschreitungen gegeben. Bei Auseinandersetzungen zwischen Gegnern der Übergangsregierung und Sicherheitskräften starben am Sonntag mindestens 55 Menschen. Das Gesundheitsministerium zählte 271 Verletzte. Die Polizei nahm mehr als 400 Menschen fest.

Am Montagmittag ist in Kairo wieder Ruhe eingekehrt; die Menschen gehen ihren Geschäften nach. Doch entspannt ist die Lage nicht. Nahezu stündlich treffen neue Meldungen von Anschlägen gegen Polizeiwachen und Militärposten vor allem im Süden und auf der Sinai-Halbinsel ein. Dem Innenministerium zufolge sind dabei mindestens sechs Sicherheitskräfte getötet worden.

Ministeriumssprecher Hani Abdel Latif erklärt, man werde mit aller Härte gegen die Täter vorgehen. Er dämpft gleichzeitig die Hoffnung auf baldigen Erfolg: »Ägypten steht vor einer sehr großen Herausforderung.« Denn die Gräben zwischen den Befürwortern und den Gegnern der Übergangsregierung werden immer tiefer und die Stimmung vor allem bei den Gegnern wird immer aggressiver.

Wie gespalten das Land ist, wie stark sich die Gewaltbereitschaft nun unter den Anhängern des Anfang Juli abgesetzten Präsidenten Mohammad Mursi ausgebreitet hat, wurde am Tag zuvor deutlich sichtbar.

Es war der Tag der zwei Tahrir. Auf dem unscheinbaren Platz, der zum Symbol für die Revolution Anfang 2011 geworden ist, hatten sich Zehntausende versammelt, um an den 40. Jahrestag des Beginns des Jom-Kippur-Krieges zu erinnern, der in Ägypten allgemein als gewonnen gewertet wird. Ägyptische Fahnen, Poster mit dem Konterfei von Generalstabschef und Verteidigungsminister Abdelfattah al-Sisi dominierten.

Nur wenige hundert Meter weiter, auf der Tahrir-Straße, marschierten derweil Zehntausende Gegner der Übergangsregierung auf. Anders als bei vorangegangenen Demonstrationen fielen immer wieder Teilnehmer auf, die offen Waffen trugen, während nur wenige Schritte weiter Kinder Slogans gegen die Regierung skandierten.

Wenig später kam es zur Konfrontation. Die Sicherheitskräfte versuchten den Demonstrationszug mit Straßensperren vom Tahrir-Platz abzuhalten. Als das nicht funktionierte, wurde Tränengas und später scharfe Munition eingesetzt. Insgesamt verloren 53 Menschen ihr Leben, mindestens zwei weitere starben in den folgenden Stunden.

Der Versuch, die Muslimbruderschaft durch die Festnahme ihrer Führung und das Verbot der Organisation zu lähmen, sei fehlgeschlagen, heißt es auch aus dem Umfeld der Regierung. Doch man will an der harten Gangart gegen die Organisation und ihre Unterstützer festhalten. »Wir werden die Demokratie mit allen Mitteln schützen«, sagt Abdel Latif.

Dabei zeichnet sich die nächste Konfrontation bereits ab. Es ist sehr wahrscheinlich, dass der 50-köpfige Verfassungsrat, in dem nur zwei Islamisten vertreten sind, die Verfassung – anders als geplant – nicht nur verändern, sondern komplett neu schreiben will.

Viele Unterstützer der Muslimbruderschaft, deren deutliche Handschrift die Anfang Juli ausgesetzte alte Verfassung trägt, sind vehement dagegen. »Wir werden uns mit allen Mitteln gegen einen solchen Schritt zur Wehr setzen«, sagt der Pro-Mursi-Journalist Saber Nafi: »Wir werden Nein zum Militärputsch sagen und die Freiheit zurückbringen.«

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 8. Oktober 2013


Wieder Tote in Ägypten

Angriffe auf Polizei und Armee. Zahl der Todesopfer vom Sonntag auf 53 angestiegen

Von Sofian Philip Naceur, Kairo **


Auch nach dem blutigen Wochenende hielt am Montag die Gewalt in Ägypten an. Nach Angaben aus Sicherheitskreisen starben fünf Polizisten, als in der Stadt Al-Tur eine Autobombe auf dem Gelände der Sicherheitsdirektion der Provinz Süd-Sinai detonierte. 50 Menschen seien als Folge der Explosion verletzt worden. In dem Gebäude fand gerade eine Sitzung hochrangiger Offiziere statt. Bislang ist weder bekannt, wer die Täter waren, noch wie das Fahrzeug auf das Gelände gelangte. Berichte, wonach der Sprengsatz in einem gestohlenen Polizeiauto versteckt worden war, bestätigte das Innenministerium zunächst nicht. Bei einem Angriff auf eine Militärpatrouille in der Provinz Ismailija wurden am Montag sechs Soldaten erschossen und 36 Menschen verletzt. In einer Vorstadt von Kairo haben Attentäter Granaten auf eine staatliche Satellitenstation gefeuert. Zwei Menschen seien bei dem Anschlag in Maadi verletzt worden, hieß es am Montag aus Sicherheitskreisen. Zu dem Angriff bekannte sich zunächst niemand.

Bereits am Sonntag hatten sich Anhänger der jüngst gerichtlich verbotenen Muslimbrüder und Gegner der Absetzung von Expräsident Mohamed Mursi heftige Straßenschlachten mit Polizei und Armee geliefert, während Zehntausende den Aufrufen von Übergangsregierung und Militärführung gefolgt waren und an den Feierlichkeiten des 40. Jahrestages des Beginns des Jom-Kippur-Krieges gegen Israel teilnahmen. Nach offiziellen Angaben starben bei diesen Ausschreitungen landesweit mindestens 53 Menschen, 30 davon in Kairo und 19 in Giza. Auch aus Alexandria, Beni Suef und Minya wurden Zusammenstöße zwischen Demonstranten und der Polizei gemeldet.

Trotz expliziter Warnungen des Innenministeriums, auf jede Störung des offiziellen Feiertages würde mit voller »Härte« reagiert werden, riefen die Muslimbrüder zu Protesten gegen die Armeeführung und Mursis Absetzung auf und zogen in Richtung Tahrir-Platz in Kairo, dem zentralen Schauplatz der Feierlichkeiten zum Kriegsbeginn am 6. Oktober 1973. Am Sonntag nachmittag begannen heftige Straßenschlachten zwischen Anhängern der Muslimbruderschaft und der Polizei in der Ramsesstraße nahe dem Tahrir-Platz und in Dokki, einem Stadtteil Gizas. Die Zentralen Sicherheitskräfte (CSF), eine dem Innenministerium unterstellte paramilitärische Polizeieinheit, und die Armee setzten massiv Tränengas und Gummigeschosse ein. Vereinzelt wurde auch vom Einsatz scharfer Munition berichtet.

Die Ausschreitungen konzentrierten sich später auf Dokki, da die Armee auf den Nilbrücken Stellung bezogen hatte und die Anhänger der Bruderschaft daran hinderte, in Richtung Stadtkern vorzustoßen. Nach offiziellen Angaben verhaftete die Armee in Kairo und Giza über 400 Menschen. Anwohner bewarfen die Demonstranten mit Eiern und Gemüse.

** Aus: junge Welt, Dienstag, 8. Oktober 2013


Machtprobe

Von Olaf Standke ***

Abdelfattah al-Sisi hat sich kürzlich für eine baldige Wiederherstellung der Demokratie in Ägypten ausgesprochen. Der Übergangsprozess müsse schnell ein Ende finden, so der Militärchef. Nur, wann ist das gegeben? Wenn Thomas Cook und Alltours ihre Reisen ans Rote Meer wieder aufnehmen? Mit wie vielen Toten darf so eine Rückkehr belastet sein? Auf über 60 stieg am Montag die Zahl der Toten nach den Unruhen vom Wochenende zwischen Unterstützern des vom Militär abgesetzten Präsidenten Mohammed Mursi und dessen Gegnern.

Tausende Anhänger der Muslimbrüder hatten die Warnung der Übergangsregierung ignoriert und für ihre inzwischen nahezu vollständig inhaftierte Führung demonstriert. Die Bewegung, die nach der vom Volk erzwungenen Abdankung Mubaraks an der Wahlurne siegreich war und mit ihrer Politik dann neue Massenproteste provozierte, ist seit rund zwei Wochen faktisch verboten. Sie suchte die Machtprobe an jenem Tag, an dem sich die Armee 40 Jahre nach dem Oktoberkrieg gegen Israel feiern lassen wollte. Doch unter den heutigen Umständen ist das eben nicht der so gern beschworenen nationale Festtag für »alle Ägypter«. Am Ende gab es einen erneuten blutigen Beleg dafür, wie tief die Gräben im Lande sind. Beide Seiten verweigern sich jeglichem Dialog, Hass dominiert, längst haben die Auseinandersetzungen Alltag und Arbeitsplatz erreicht. Daran wird auch die neue Verfassung wenig ändern, die demnächst vorgelegt werden soll. Denn sie entstand ohne Muslimbrüder.

*** Aus: neues deutschland, Dienstag, 8. Oktober 2013 (Kommentar)


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