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"Alte Machtstrukturen dominant"

Kampf gegen Mubarak-Regime muß weitergehen: Führung in Fabriken und Ministerien auswechseln. Linke vor Novemberwahlen zersplittert. Ein Gespräch mit Mamdouh Habashi *


Mamdouh Habashi ist außenpolitischer Sprecher der Ägyptischen Sozialistischen Partei.

An der Spitze des Obersten Militärrats in Kairo steht mit General Hussein Tantawi ein Mann, der unter Präsident Hosni Mubarak 20 Jahre lang Verteidigungsminister war. Sind eine solche Person und auch der Militärrat insgesamt geeignet, den Übergang zu einer wirklich demokratischen Ordnung zu schaffen?

Überhaupt nicht. Dieser Militärrat ist und bleibt ein Teil des alten Regimes. Ich spreche von der Militärführung, dieser dünnen Schicht, die eine ziemlich große Rolle auch unter Mubarak gespielt hat. Seit dem Staatsstreich Nassers 1952 herrschen in Ägypten Militärs, es war zu keinem Zeitpunkt auch nur annähernd demokratisch. Der Oberste Militärrat spielt jetzt eine politische Rolle. Es geht darum, möglichst viele der alten Strukturen beizubehalten, nur mit etwas mehr Nachhaltigkeit, denn die Form der direkten Diktatur ist einfach nicht mehr haltbar.

Gab es tatsächlich einige revolutionäre Schritte?

Ja, das würde ich sagen, weil tatsächlich einiges erreicht wurde – nur: Was erreicht worden ist, wurde unter dem Druck der Straße erreicht und nicht, weil der Militärrat von den Forderungen überzeugt war. Am Anfang, als die Bewegung noch ihre Wucht hatte, wollten die Militärs sogar das alte, durch gefälschte Wahlen eingesetzte Parlament beibehalten und das von Mubarak eingesetzte Kabinett. Sie wollten auch Mubarak und seine Clique nicht vor Gericht stellen, aber das wurde verhindert, und das nenne ich revolutionäre Errungenschaften. Die Bewegung muß mehr ins Detail gehen und den eigentlichen Slogan der Bewegung »Das Volk will das Regime stürzen« verwirklichen. Das Regime stürzen, bezieht sich ja nicht nur auf den Kopf des Regimes, sondern auf alle, die ihm jahrelang gedient haben. Ins Detail gehen heißt, die Führung in Fabriken, Krankenhäusern und Ministerien auswechseln. Dort sitzen noch die Leute, die das Mubarak-Regime getragen haben. Um diese zu entmachten, ist es notwendig, zu streiken und auf die Straße zu gehen, und das geschieht bis jetzt. Die Leute gründen Organisationen und Gewerkschaften, das ist die neue Bewegung. Dem Militärrat ist das ebenfalls bekannt, und er weiß auch, daß den Menschen bekannt ist, daß in der Armee genausoviel Korruption geherrscht hat wie in der Gesellschaft. Mindestens ebensoviel, wenn nicht sogar noch mehr, ich behaupte, noch mehr, denn in der Gesellschaft gab es, wenn auch scheinheilig, Behörden, die darauf geachtet haben, wohin das öffentliche Geld geht, aber im Militär gab und gibt es das nicht, nicht einmal nominell.

Das heißt, daß auch die Milliarden, die aus den USA kamen, nicht in den Haushalt flossen, sondern direkt an die Armee gingen?

Genau, und das geschieht bis heute. Die jährlich 1,3 Milliarden US-Dollar für die ägyptische Armee standen zur freien Verfügung des Oberbefehlshabers. Mit diesem Geld wurde die Militärführung zu einem Teil der herrschenden Klasse gemacht, sie erhielt viele wirtschaftliche Privilegien. Eine Kompradorenbourgeoisie.

Über 70 Parteien wollen bei den Ende November angesetzten Parlamantswahlen kandidieren, obwohl viele, wie auch die Sozialistische Partei, noch nicht die offizielle Zulassung durch die Wahlkommission haben. Für viele dürfte es schwer werden, die Übersicht zu behalten. Spielen die Medien dabei eine konstruktive Rolle?

Die Medien sind wie immer in den Händen der Herrschenden, auch hier. Teilweise tragen die Medien meiner Meinung nach dazu bei, mehr Verwirrung zu schaffen. Daß eine ziemlich große Zahl von Parteien zu den Wahlen antreten wird, ist nicht unnatürlich, nach kurzer Zeit wird sich das auf eine überschaubare Größe reduzieren. Etwa zehn Parteien haben Chancen, ins Parlament einzuziehen, und leider sind die Chancen hauptsächlich vom Geld bestimmt. Seit der Entmachtung Mubaraks ist sehr viel Geld in das Land geflossen mit dem Ziel, etwas zu schaffen, das den Schein einer Demokratie hat, eine Art Gütesiegel für den Westen.

Eine große Gefahr besteht offenbar darin, daß sich Funktionäre des Mubarak-Regimes unter dem Namen neuer Parteien wieder einen Teil der Macht sichern.

Noch mehr als das. Es ist nicht nur eine Schein-Wahlurnendemokratie, sondern die Machtstrukturen des alten Regimes sind beibehalten worden. Das bedeutet zum Beispiel, daß der megagroße Apparat der Staatssicherheit weiter da ist, man hat nur seinen Namen verändert. Ich gehe auch davon aus, daß die Infrastruktur für die Fälschung der Wahlen noch vorhanden ist. Daß die jetzigen Machthaber internationale Wahlbeobachter immer noch ablehnen, ist ein Zeichen dafür.

Sehen Sie die Möglichkeit, daß die Muslimbruderschaft bei den Wahlen die meisten Stimmen bekommt?

Damit rechne ich. Sie haben eine gute Infrasruktur und bekommen viel Geld aus dem Ausland.

Worin bestehen die Hauptunterschiede zwischen Ihrer Sozialistischen Partei und den anderen Parteien?

Wir gehen sehr viel weiter mit unseren sozialen Forderungen. Wir halten die Einführung eines Mindestlohns von 1200 Ägyptischen Pfund (ca. 156 Euro) für erforderlich. Demgegenüber will die jetzige Regierung innerhalb von vier Jahren einen Mindestlohn von 700 Pfund (91 Euro) einführen. Zu einem gesetzlichen Mindestlohn gehört unserer Ansicht nach aber auch ein gesetzlicher Maximallohn. In Ägypten gibt es eine Reihe von Beratern in Ministerien, die bis zu 750000 Pfund (monatlich über 94000 Euro) erhalten!

Auch in unserer Auffassung von Demokratie unterscheiden wir uns von den anderen Parteien. Wahlen allein sind für uns noch keine Demokratie, wir sehen sie vielmehr als einen Prozeß auf allen Ebenen der Gesellschaft, der niemals ganz abgeschlossen sein wird. Wir lehnen außerdem eine Sonderrolle des Militärs ab, wie es sie seit Jahrzehnten gibt. Die Armee darf nicht über der Politik stehen, sondern muß von ihr kontrolliert werden. Außenpolitisch sind wir gegen die Abhängigkeit vom Westen im allgemeinen und von den USA und Israel im besonderen.

Die Linke in Ägypten ist zerstritten und tritt mit mehreren Parteien an. Muß Konkurrenz untereinander nicht die Wahlchancen mindern?

Ja, die Linke ist zerstritten, leider, und der Prozeß der Zusammenarbeit stockt noch. Dennoch betrachten wir die anderen Linksparteien nicht als Konkurrenten, für uns sind sie Genossen, und auch sie betrachten uns als Genossen. Es gibt Unterschiede in der Sichtweise, das respektieren wir. Es wäre auch unnatürlich nach 60 Jahren Diktatur und Untergrundarbeit der Linken, daß plötzlich eine solche Öffnung kommt, und alle sind sich ganz einig. Zudem gibt es alte und neue Parteien. Die Ägyptische Sozialistische Partei gehört zu den neuen Parteien, unsere Gründung war am 18. Juni dieses Jahres. Genauso alt wie wir ist die Sozialistische Volksallianz. Eine andere neue Partei ist die Demokratische Arbeiterpartei, das sind Trotzkisten, es gibt die alte ägyptische KP. Und andere kleine Gruppen, die unbedeutend sind.

Aber birgt das nicht die Gefahr, daß am Ende kein Abgeordneter einer Linkspartei im neuen Parlament vertreten sein wird?

Nein, das erwarte ich nicht – aber ich weiß auch nicht, wie stark die Wahlfälschungen sein werden. Wenn die Wahlen geordnet verlaufen, gibt es gute Chancen, daß dem neuen Parlament einige linke Abgeordnete angehören werden. Aber sie werden nicht die Politik mitbestimmen können.

Am 9. Oktober gab es schwere Auseinandersetzungen in Kairo zwischen Demonstranten und Armee. Bild und CDU sprechen von »Christenverfolgung«. Was ist tatsächlich passiert?

Die religiösen Spannungen in Ägypten nehmen zu. Bereits zu Beginn des Jahres und noch unter Expräsident Mubarak ist die Kirche Al-Quiddissin in Alexandria in Brand gesetzt worden. Wider besseren Wissens ist bis heute keiner der Verantwortlichen juristisch verurteilt worden. Der Grund hierfür liegt sicherlich in der Beteiligung des Sicherheitsapparates an diesem Vorfall. Parallelen lassen sich zum Massaker von Maspiro vom 9. Oktober finden. Durch Augenzeugenberichte und Videoaufnahmen konnte inzwischen widerlegt werden, daß die vorwiegend koptischen Demonstranten aggressiv und gewaltsam gegen Soldaten vorgegangen sind. Anstelle dessen setzt sich das Wissen durch, daß erneut Sicherheitsorgane oder Komplizen der Sicherheitsorgane provozierten.

Das Massaker von Maspiro mit 24 Toten und mehr als 300 Verletzten offenbart damit die eigentlichen Machtverhältnisse. Die gängigen und staatsfinanzierten Print- wie auch TV-Medien verstehen sich nach wie vor als Diener der Machthaber. Statt investigativ den Ereignissen nachzugehen, wurden und werden die Meinungsbilder entsprechend der Regierungsposition reproduziert. Einmal mehr zeigte sich auch, daß der Militärrat und dessen Übergangsregierung nicht das Ziel verfolgen, Ägypten sicher und geordnet auf einen demokratischen Weg zu bringen. Ihre Reaktion läßt vermuten, daß ihr Interesse darin besteht, landesweit für Verunsicherung zu sorgen, gerade durch religiöse Spannungen, so daß der Ruf nach Sicherheit und Ordnung lauter wird und sich gegen die progressiven Kräfte wendet.

Interview: Rolf-Henning Hintze

* Aus: junge Welt, 18. Oktober 2011


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