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Westen setzt auf Mursi

Ägypten: Proteste gegen Clinton-Besuch in Kairo. Opposition bleibt skeptisch

Von Sofian Philip Naceur, Kairo *

US-Außenministerin Hillary Clinton hat bei ihrem Besuch in Ägypten am Wochenende nicht nur freundliche Worte gehört. Aufgebrachte Demonstranten bewarfen die Wagenkolonne der Politikerin am Sonntag in Alexandria mit Tomaten, Wasserflaschen und Schuhen als Zeichen der Verachtung. Mit Parolen wie »Support Liberty, not Theocracy« oder »Obama, You Killed the Arab Spring« hatten sich bereits am Samstag rund 500 Demonstranten vor der US-Botschaft in Kairo versammelt. Bis zum Abend weiteten sich die Proteste deutlich aus, und mehrere tausend Christen und Muslime demonstrierten gemeinsam gegen Präsident Mohammed Mursi und den Besuch Clintons in Ägypten.

Die US-Chefdiplomatin war zuvor mit dem neuen islamistischen Präsidenten Mursi zusammengetroffen, der den Muslimbrüdern und ihrem politischen Arm, der Freiheits- und Gerechtigkeitspartei (FJP), nahesteht. Auch mit dem Vorsitzenden des Obersten Militärrats (SCAF), Feldmarschall Hussein Tantawi, der seit der ägyptischen Revolution und dem Sturz des vom Westen protegierten Autokraten Hosni Mubarak das Land interimsmäßig führt, sprach Clinton. Mit ihrem Besuch wolle sie den demokratischen Übergang in Ägypten unterstützen, betonte die Politikerin. Sie äußerte sich wohlwollend über die »stabilisierenden Rolle der Militärs«, rief die Generäle jedoch dazu auf, sich wieder ihren sicherheitspolitischen Aufgaben zu widmen. Seit Mursis Amtseinführung ist ein offener Machtkampf zwischen Muslimbrüdern und SCAF ausgebrochen. Noch vor der Stichwahl im Juni hatte das Militär vorsorglich die Machtbefugnisse des Präsidentenamtes beschnitten und das von FJP und Salafisten dominierte Parlament auflösen lassen. Per Dekret setzte Mursi das Unterhaus vergangene Woche wieder ein, das sich nach einer symbolischen Sitzung auf unbestimmte Zeit vertagte.

Die andauernden Instabilitäten am Nil widersprechen jedoch westlichen Interessen. EU und USA versuchen, Ägypten innenpolitisch zu stabilisieren. Kairos Rolle im Nahostkonflikt und die strategische Bedeutung des Suez-Kanals für den europäischen Außenhandel lassen Berlin und Washington inzwischen deutlich aktiver werden. Letzte Woche hatte der deutsche Außenminister Guido Westerwelle (FDP) als erster westlicher Spitzenpolitiker Kairo besucht und Mursi Rückendeckung im Machtkampf mit dem SCAF gegeben. Nach Jahren der westlichen Strategie zur Isolierung moderater islamistischer Parteien im Nahen Osten vollziehen EU und USA derzeit einen Paradigmenwechsel.

Der arabische Frühling hat den gemäßigten Islamisten in der arabischen Welt massive Machtzuwächse beschert, EU und USA müssen sich mit den neuen einflußreichen Akteuren vor allem in Ägypten arrangieren, was ihnen ob der marktfreundlichen und gewerkschaftskritischen neoliberalen Haltung der Muslimbrüder nicht allzu schwer fallen dürfte. Die Staatsbesuche Westerwelles und Clintons in Kairo und ihr demonstrativer Schulterschluß mit Mursi sind Ausdruck ihrer fortgesetzten wirtschaftlichen und geopolitischen Einflußnahme am Nil. FJP und Muslimbrüder verstehen sich als Reformkräfte und nicht als revolutionäre Bewegung, sie wollen an die Macht und nicht wie Teile der pluralistischen Jugendbewegung das Fundament der ägyptischen Gesellschaft und Volkswirtschaft umbauen.

Teile der christlichen Minderheit blicken angesichts der Ergebnisse der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen sorgenvoll in die Zukunft, auch weil sich 2011 zeitweilig Übergriffe auf Kopten und Kirchen häuften. Säkulare und linke Kräfte sind zersplittert und derzeit keine Konkurrenz für die FJP. Trotz Mursis Ankündigungen, die Rechte der christlichen Minderheit zu respektieren, bleibt die Opposition skeptisch.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 17. Juli 2012


Tomaten auf Clinton in Alexandria **

US-Außenministerin Hillary Clinton hat bei einem Besuch in Israel den Umbruch in den arabischen Nachbarländern als »Chance« angepriesen. »Dies ist eine Zeit der Unsicherheit, aber zugleich auch eine Gelegenheit«, sagte Clinton am Montag vor Journalisten in Jerusalem, nachdem sie, gerade aus Ägypten kommend, vom israelischen Präsidenten Shimon Peres empfangen worden war. »Es bietet sich die Chance, unseren gemeinsamen Zielen der Sicherheit, der Stabilität, des Friedens und der Demokratie näherzukommen«.

Ägyptische Demonstranten hatten den Autokonvoi von Clinton am Vortag bei ihrem Besuch in Alexandria mit Schuhen, Tomaten und Wasserflaschen beworfen. Hintergrund der Proteste waren vermutlich Gerüchte, die USA hätten die Muslimbrüder nach dem Sturz des langjährigen Präsidenten Husni Mubarak unterstützt. Clinton sagte dazu bei einer Rede im Konsulat in Alexandria, sie wolle klarstellen, dass die USA keinerlei Einfluss auf Wahlen in dem Land genommen hätten. »Die USA haben nichts damit zu tun, wer (in Ägypten) gewinnt und wer verliert.« Bereits zuvor hatte es während Clintons Ägypten-Besuch am Wochenende Proteste gegen die US-Außenministerin und eine Einmischung der USA in die inneren Angelegenheiten Ägyptens gegeben. Clinton hatte während des Besuchs unter anderem Präsident Mohammed Mursi und den Chef des Obersten Militärrats, Hussein Tantawi, getroffen.

** Aus: neues deutschland, Dienstag, 17. Juli 2012


Durch den Schuh gesprochen

Von Roland Etzel ***

An politischen Selbstzweifeln leidet Hillary Clinton offenbar nach wie vor nicht die Spur. Tapfer erklärte sie gestern nach ihrem Ägypten-Besuch dem israelischen Präsidenten, sie sehe in den Umbrüchen im Nahen Osten eine große Chance für Demokratie und Freiheit. Dabei hatte ihr in Alexandria gerade eine nennenswerte Menge von Bürgern verdeutlicht, dass sich ihr Vertrauen in die US-amerikanischen Vorstellungen der Zukunft ihres Landes in letzter Zeit nicht erhöht hat. Im Gegenteil. Clintons einziger Trost könnte sein, dass die ihrem Autokonvoi mittels fauler Tomaten und alter Schuhe erwiesenen Gunstbeweise nicht unbedingt ihr persönlich, sondern recht prinzipiell der Politik des Weißen Hauses galten.

In der Tat klingen Clintons Beteuerungen vor allem merk- und weniger glaubwürdig. Das gilt besonders für ihre Behauptung »Die USA haben nichts damit zu tun, wer (in Ägypten) gewinnt und wer verliert«. Damit beleidigt sie die Ägypter schon, indem sie ihnen mehrheitlich wohl sogar ein Kurzzeitgedächtnis abspricht. Mit allen erdenklichen Mitteln hatte das US-Außenministerium im vergangenen Jahr versucht, den engen Verbündeten Mubarak vor dem Sturz zu bewahren. Noch eine Woche vor dessen Flucht aus dem Präsidentenpalast ließ Clinton über ihren Sondergesandten Wisner in Kairo vor »einem zu schnellen Rücktritt« warnen.

Man sollte sich also im State Department über die Ehrenbezeigung mit einem gezielten Schuhwurf nicht wundern. Der ist seit langem ein orientalisches Synonym für Betrüger oder Lügner.

*** Aus: neues deutschland, Dienstag, 17. Juli 2012 (Kommentar)


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