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Kairo in Flammen

Militär und Polizei gehen mit äußerster Brutalität gegen Proteste in Ägypten vor

Von Juliane Schumacher *

Auch am Sonntag (18. Dez.) gingen das ägyptische Militär und die Polizei gegen Demonstranten in Kairo vor.

Manche Details der letzten Tage in Ägypten sind an Brutalität kaum zu übertreffen: Das Bild und Video einer verschleierten jungen Frau, der Soldaten bis auf den BH die Kleider vom Leib reißen, auf sie eintreten und sie dann nackt und leblos auf der Straße liegen lassen. Die Geschichte einer anderen jungen Frau, die zuerst eine Ältere zu schützen versucht, dann von Soldaten weggezerrt wird - und am nächsten Tag berichtet, die Soldaten hätten ihr nicht nur die Haare bis auf die Kopfhaut abgesengt, sondern ihr auch ein T auf den Hinterkopf gebrannt, T wie Armeechef Hussein Tantawi.

Willkommen im neuen Ägypten. Ein Ägypten, in dem gerade die angeblich ersten freien Wahlen stattfinden - am Sonntagabend sollten die Ergebnisse der zweiten Runde bekannt gegeben werden. Es spielt wohl für den Fortgang der Revolution keine Rolle mehr. Selbst jene Aktivisten, die bis zuletzt das Militär immer wieder verteidigt haben, in der naiven Hoffnung, es möge auch in der Armee revolutionsnahe Kräfte geben, sprechen offen von einem Militärputsch.

Am Freitag (16. Dez.) hatten gegen vier Uhr morgens Straßenkämpfe vor dem Regierungssitz begonnen, eine Straße vom Tahrir-Platz in Kairo entfernt. Dort hatten Demonstranten seit der letzten Protestwelle Ende November ein Protestcamp errichtet, um gegen die Ernennung von Al Gansuri zum neuen Ministerpräsidenten zu demonstrieren. Gansuri gilt als Vertrauter des Militärs und des alten Regimes, er war bereits in den 90er Jahren Premier, unter Mubarak. Soldaten versuchten das Camp zu räumen, sie schossen scharf, schlugen zahlreiche Protestierende zusammen, diese antworteten mit Steinwürfen. Zahlreiche Protestierende erlitten schwere Verletzungen, als Soldaten vom Dach des Regierungssitzes massenhaft Steine, Glas- und Porzellanscherben auf die Protestierenden warfen. Am frühen Samstagmorgen stand, neben anderen Gebäuden, das historische Wissenschaftliche Nationalinstitut in Flammen. Die Feuerwehr traf Augenzeugen zufolge erst spät ein, Tausende teils jahrhundertealter Schriften verbrannten. Das Staatsfernsehen berichtete, Demonstrierende hätten das Gebäude angezündet, diese dementieren dies. Am Sonntag tauchte im Internet ein Foto auf, das einen Mann mit einer Fackel zeigt, offenbar ein Soldat. Bis zum Sonntagabend versuchen Freiwillige, zumeist aus Reihen der Protestierenden, wertvolle Schriften aus dem Gebäude zu retten.

Am Samstag um die Mittagszeit (17. Dez.) griff das Militär den Tahrir-Platz an. Es brannte die Zelte der Protestierenden nieder. Trupps von Soldaten griffen wahllos Demonstranten, teils auch Passanten auf, prügeln sie bewusstlos oder tot und ließen sie auf der Straße liegen. Aktivisten berichteten, es seien gezielt Frauen angegriffen worden, zahlreiche Videos zeigen sexuelle Übergriffe. Zur gleichen Zeit stürmte Militärpolizei die umliegenden TV-Sendestationen und von Journalisten angemietete Wohnungen, zerstörte Equipment und verhaftete Mitarbeiter. Informationen aus dem Internet zufolge wurden Mitarbeiter einer revolutionsnahen Oppositionspartei in ihrer Parteizentrale verhaftet, sie kamen nach einigen Stunden frei, waren aber teils schwer verletzt.

Das Gesundheitsministerium sprach am Sonntagmittag von zehn Toten und etwa 500 Verletzten. Die Zahlen dürften Aktivisten zufolge wesentlich höher liegen. Auch die Zahl der Verhafteten ist unklar, die Anwältin Ragia Omran erklärte, bei den Straßenschlachten nahe des Tahrir am Samstagabend seien allein 160 Menschen festgenommen worden, darunter neun Frauen.

Das Staatsfernsehen berichtete ausführlich über die Proteste, es sprach von Protestierenden als »Verbrechern«, die vom Ausland bezahlt und gesteuert seien und zum Ziel hätten, das Land zu zerstören. »Die Informationslücke zwischen der Masse der Bevölkerung und den Leuten, die vor Ort sind oder sich übers Internet informieren, ist eklatant«, sagte ein Aktivist am Sonntagnachmittag. Ein anderer äußert große Sorgen: »Wir sind isoliert. Eine solch brutale und skrupellose Gewalt habe ich noch nie erlebt. Und es wird nicht besser werden, wenn die Wahlen vorüber sind. Im Gegenteil.«

* Aus: neues deutschland, 19. Dezember 2011


Armee stürmt Tahrir

Von Karin Leukefeld **

Beim gewaltsamen Vorgehen der Militärpolizei gegen Demonstranten sind am Wochenende in der ägyptischen Hauptstadt Kairo mindestens zehn Menschen getötet und mehr als 500 zum Teil schwer verletzt worden. Das teilte das ägyptische Gesundheitsministerium am Sonntag mit. Aufnahmen, die über das Internet und arabische Medien schnell Verbreitung fanden, zeigten unter anderem den Angriff von acht komplett ausgerüsteten Militärpolizisten auf eine junge Frau, die sie traten und über den Boden zerrten. Unter den Toten war auch der bekannte Prediger Imad Effat, der nach Angaben seiner Frau erschossen wurde. Hunderte Trauernde folgten am Samstag seinem Sarg und riefen »Nieder mit der Militärherrschaft«. Während der Auseinandersetzungen brach am Samstag in einem Gebäude des Ägyptischen Instituts ein Feuer aus, bei dem Hunderte alter Schriften verbrannten. Der Versuch von Demonstranten, Material aus den Archiven zu retten, wurde von manchen Medien als Plünderung dargestellt.

Auslöser für die Proteste war das gewaltsame Vorgehen der Militärpolizei am vergangenen Freitag gegen eine friedliche Sitzblockade von mehreren hundert Menschen vor dem ägyptischen Parlament. Die Streitkräfte begründeten dieses mit Übergriffen, die von den Demonstranten ausgegangen seien. Der von der Armee kürzlich eingesetzte Ministerpräsident Kamal Al-Ganzouri sagte, vor dem Parlamentsgebäude seien 30 Sicherheitskräfte von den Demonstranten verletzt worden. Was derzeit in Kairo geschehe, sei »keine Revolution, sondern ein Angriff auf die Revolution«.

Der Sitzprotest vor dem Parlament hatte bereits vor drei Wochen begonnen. Die Demonstranten fordern, die politische Macht vom Militärrat an eine zivile Übergangsregierung zu übergeben. Schon damals waren bei Auseinandersetzungen 42 Menschen getötet worden. Das erneute brutale Vorgehen der Militärpolizei am Freitag hatte am Wochenende Tausende neue Demonstranten auf die Beine gebracht.

Am Sonntag (18. Dez.) konzentrierten sich die Auseinandersetzungen auf eine Zugangsstraße zum Tahrir-Platz, an der die Militärpolizei über Nacht eine Betonmauer errichtet hatte. Einer der Demonstranten, Mustafa Fahmy, berichtete in einem Telefongespräch mit der palästinensischen Nachrichtenagentur Maan News von einem »Katz-und-Maus-Spiel«. Die Armee presche vor, um sich dann wieder zurückzuziehen.

Ein erst kürzlich eingesetztes ziviles Beratungsgremium des Militärrates setzte aus Protest seine Treffen aus und forderte, die Verantwortlichen zu bestrafen und alle Festgenommenen freizulassen. Die Muslimbruderschaft forderte von der Armee eine »klare und schnelle Entschuldigung für die Verbrechen, die begangen wurden«. Die Protestbewegung beschuldigt derweil den Militärrat, sich genauso zu verhalten, wie die Sicherheitskräfte unter Hosni Mubarak. Der Zorn richtet sich vor allem gegen Feldmarschall Mohammed Hussein Tantawi, der unter dem im Februar gestürzten Staatschef zwanzig Jahre lang Verteidigungsminister gewesen war.

Allerdings berichten ägyptische Journalisten auch von Wortgefechten zwischen Demonstranten und Anwohnern des Tahrir-Platzes, die das Vorgehen der Militärpolizei unterstützen. Manche vermuten hinter den Protesten geheimdienstliche Auftraggeber, hieß es in der Tageszeitung Al-Masri Al-Youm. Die Demonstranten würden dafür bezahlt, »Chaos im Land zu stiften«.

** Aus: junge Welt, 19. Dezember 2011


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