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Wir haben den Platz zu früh verlassen

Vier Wochen vor den Parlamentswahlen regiert in Ägypten die Ungewissheit über die Ziele des Militärs

Von Juliane Schumacher, Kairo *

Die ägyptische Jugend hat ihren »Pharao« gestürzt. Doch viele glauben, die Revolution sei ihnen inzwischen gestohlen worden.

»Damals«, sagt der Aktivist Said mit einem bitteren Unterton, »damals dachten wir, jetzt wird Ägypten das Paradies.«

Damals, das waren die ersten Wochen nach der Revolution, als von jedem Balkon die Nationalflagge wehte, Plakate an den Fenstern der »Jugend Ägyptens« dankten, an jeder Straßenecke die Menschen standen und diskutierten, ungläubig noch gegenüber ihrer neuen Freiheit. Die ersten Wochen nach der Revolution, Tage und Nächte voll Euphorie.

Zehn Monate ist es her, dass Präsident Hosni Mubarak zurücktrat. 30 Jahre lang hatte er Ägypten mit harter und gieriger Hand beherrscht, 18 Tage Demonstrationen und Straßenschlachten brachten ihn zu Fall. Der Tahrir-Platz in Kairo, Platz der Befreiung, wurde zum Symbol der Hoffnung einer ganzen Region, zum Symbol eines neu eröffneten Raumes politischer Aktion, der bis in den hintersten Winkel der Gesellschaft ausstrahlte. Die Revolution veränderte auf einen Schlag die Perspektive, das Bild von außen, die Identität einer ganzen Generation.

Nicht die Revolutionäre herrschen in Kairo

Zehn Monate später ist die Euphorie für viele, die damals ihr Leben gegeben hätten für »ihr Land«, als das sie Ägypten auf einmal sahen, nur noch Erinnerung an einen Traum, den ihnen die Realität schmerzhaft austrieb: dass sie in 18 Tagen die Freiheit gewinnen, ein Regime stürzen könnten. »Es war ein Fehler, den Platz nach Mubaraks Rücktritt zu verlassen«, sagt Said. »Wir hätten uns weigern müssen, nach Hause zu gehen, bis die Reste des Regimes gegangen sind. Vor allem das Militär.«

Vor allem das Militär, die Generäle, die nach Mubaraks Rücktritt die Macht übernommen haben, kommissarisch, wie sie erklärten. Das Militär, das vom Ausland gelobt und vom Volk geliebt wurde, weil es sich geweigert hatte, auf die eigene Bevölkerung zu schießen. Das Militär, dem die Bewegung bedingungslos vertraute. Und das ihr, wie es viele heute sehen, die Revolution gestohlen hat.

»Wenn eine Revolution gewinnt, herrschen die Revolutionäre«, sagte eine ägyptische Richterin auf einem Podium der Amerikanische Universität Kairo schon vor einigen Monaten verzweifelt. »Aber in Ägypten haben wir die Revolution gewonnen - und es herrscht das Militär.« Das Vertrauen in die hoch geachtete Armee bekam schon nach wenigen Wochen Risse. Am 9. März stürmten Soldaten den Tahrir-Platz, nahmen rund 200 Protestierende fest, folterten sie brutal.

Doch während sich die Revolutionsbewegung von Woche zu Woche offener gegen das Militär wandte und eine zivile Übergangsregierung forderte, schaffte es der herrschende Militärrat, sich in der breiten Bevölkerung als Garant für Sicherheit, Stabilität und Zusammenhalt des Landes zu verkaufen.

Es waren alte Methoden, auf die er zurückgriff: Warnung vor katastrophaler Verschlechterung der Wirtschaftslage bei andauernden Protesten, Diskreditierung der Jugendbewegungen als von Israel, den USA, dem Westen orchestriert und bezahlt; das Anheizen religiöser Konflikte. Auch Mubaraks Geheimdienste hatten Kirchen gesprengt, um Zusammenstöße zwischen Christen und Muslimen zu provozieren und damit Festnahmen und Ausnahmezustand zu rechtfertigen. Eine Strategie, die das Militär fortsetzte und die am 9. Oktober, dem Schwarzen Sonntag, ihren Höhepunkt fand: Mindestens 25 Menschen wurden von Soldaten erschossen, von Panzern überrollt, als das Militär eine Demonstration koptischer Christen und muslimischer Unterstützer in Kairo angriff.

Strikte Zensur der Presse beendete die große Freiheit nach der Revolution rasch wieder: Schon im April verbot der Militärrat den Zeitungen, ohne Genehmigung über Angelegenheiten des Militärs zu berichten. Das Fernsehen, für die meisten Ägypter Hauptinformationsquelle, ist wieder ein reines Propagandainstrument der Militärregierung, im September und Oktober stürmte das Militär insgesamt 18 Fernsehstationen, entzog ihnen die Lizenzen, nahm Mitarbeiter fest.

Die Bewegung, die zunächst von der Jugend bis zu islamischen Gruppierungen reichte, spaltete sich. Islamische Gruppen wie Muslimbrüder oder Salafisten gingen bald ein Bündnis mit dem Militärrat ein, der ihnen im Tausch gegen Loyalität eine bevorzugte Stellung bei den Wahlen versprach. Auch wenn manche den Bruch mit den Islamisten als befreiend empfanden - der Bewegung ging so ein großer Teil ihrer Masse und Verbindung mit der Bevölkerung verloren. Der Zusammenschluss mit der aktiven Streikbewegung glückte den Jugendbewegungen nicht, sie blieben ihrerseits voneinander isoliert, auf partielle Forderungen beschränkt.

Was soll sich verändern durch die Wahlen?

Ende Oktober steht das Land kurz vor den Wahlen, die den Umbruch besiegeln, der Republik das Gütesiegel »geprüfte Demokratie« verpassen sollen. Und während Journalisten ins Land strömen, während alteingesessene und neue Parteien um ihr Stück vom Kuchen der Macht feilschen, sagt Khaled, der Anwalt und Aktivist, spöttisch: »Ach, Wahlen. Wahlen sind wir ja schon gewöhnt. Man geht hin, macht brav sein Kreuz, wo man soll, und hofft, dass man auf dem Rückweg nicht von bezahlten Schlägern verprügelt wird.«

Die jungen Aktivisten vom Tahrir-Platz, die Träger der Revolution, haben dem parlamentarischen Prozess immer skeptisch gegenübergestanden, und nicht nur sie. Wahlen, das waren in Ägypten immer Zeiten der Gewalt, in der die herrschenden Parteien Schläger anheuerten und mögliche Kritiker einschüchterten, eine Zeit, in der man lieber den Mund hielt und zu Hause blieb. Das Parlament, das war ein Ort für die, die sich selbst bereichern wollten. Politik, das hat die Erfahrung gelehrt, wird auf der Straße, auf den Plätzen gemacht.

Und was soll man sich von diesen Wahlen erhoffen? Den Termin hat das Militär hinausgezögert, erst im September gab es bekannt: Ab 28. November wird in drei Runden das Parlament gewählt. Das Wahlsystem wird seither munter weiter verändert. Es ist noch immer unklar, wer überhaupt wählen darf, wo, mit welchem Dokument.

Ohnmächtig musste die Demokratiebewegung mit ansehen, wie viele Errungenschaften der Revolution zunichte gemacht wurden, wie die Angst wieder einkehrte. Treffen in Cafés, auf der Straße, das freie Diskutieren und Kritisieren im Netz, ein stolzes Auftreten als Teil der »Jugend vom Tahrir« - zu gefährlich. Der eine Teil des alten Regimes, Mubaraks Familienclan, seine Nationaldemokratische Partei, ist zumindest für den Moment zerschlagen - der andere Teil, das Militär, ist weiter an der Macht.

Während auf der Ebene der Parteien, unter Intellektuellen weiter Hoffnung besteht, die Wahlen mögen den Übergang zur zivilen Herrschaft ebnen, stürzt die Bewegung zunehmend in Verzweiflung. Das Parlament hatte noch nie viel Macht in Ägypten, die entscheidenden Präsidentschaftswahlen wurden erneut um mindestens ein Jahr verschoben, das Militär hat mittlerweile schon verlauten lassen, dass es bis dahin die Macht nicht aus den Händen geben will. Und die Hinweise mehren sich, dass Feldmarschall Mohammed Hussein Tantawi, der Vorsitzende des Militärrates, womöglich selbst als Präsident kandidieren wird.

Manche haben sich zurückgezogen, sagen: »Ich habe mit alldem nichts mehr zu tun.« Andere fordern ein radikaleres Vorgehen; in Blogs, auf Twitter kursieren Slogans wie »Freiheit oder Tod«. An eine freiwillige Machtübergabe glaubt unter den Aktivisten fast niemand mehr.

Doch die Erfahrung vom Tahrir-Platz bleibt

Dennoch ist die Situation nicht wie zuvor, auch wenn die äußeren Bedingungen, die Zensur, das Notstandsrecht, die willkürlichen Verurteilungen ähnlich scheinen. Aber anders als damals hat Ägypten jetzt eine hoch politisierte Bevölkerung, eine aktive Jugend, die sich den Traum von einem besseren Ägypten nicht einfach wieder nehmen lassen wird. Die Erfahrung des Tahrir lässt sich nicht rückgängig machen, die Erfahrung, dass ein anderes Zusammenleben möglich ist und es sich dafür zu kämpfen lohnt, ist eine Erfahrung, die die jetzige Erstarrung unter der Militärherrschaft schwerer erträglich macht. Die zugleich aber lehrt, dass kein System in Stein gemeißelt, Wandel immer möglich - und manchmal unvorhersehbar ist.

* Aus: neues deutschland, 26. Oktober 2011


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