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Der Kampf geht weiter

Hintergrund: Ägypten ein Jahr nach dem Sturz des Mubarak-Regimes

Von Karin Leukefeld *

Als Ende Januar das neue ägyptische Parlament in Kairo zu seiner ersten Sitzung zusammentrat, beendeten zwei verzweifelte junge Männer gewaltsam ihr Leben. Der 31jährige Mohamed Abdel Tawab stürzte sich am Morgen des 25. Januar vom Kairo-Turm in Zamalik. Wenige Stunden später warf sich der 33jährige Amr Mohamed Emam an einer Metrostation vor den Zug. Bereits am Samstag davor hatte sich ein Mann in der Provinz Daqhalia in seiner Gefängniszelle aufgehängt. Er war in Haft, weil er seine Schulden nicht zahlen konnte. Einer zentralen Statistik zufolge nehmen sich in Ägypten täglich 14 Menschen das Leben. Die Zahlen sind von 1160 im Jahre 2005 auf mehr als 5000 im Jahr 2009 gestiegen. In den meisten Fällen treiben wirtschaftliche Probleme die Menschen in den Tod.

Neben den politischen Auseinandersetzungen zwischen der in viele Fraktionen gespaltenen Opposition, den religiösen Parteien und dem Militärrat sind auch ein Jahr nach der ägyptischen Revolution auf dem Tahrir-Platz Armut und Erwerbslosigkeit weiterhin die schwerwiegendsten Probleme für die Ägypter. »Brot, Freiheit und soziale Gerechtigkeit«, hatten protestierende Arbeiter bei einer Kundgebung zur Parlamentseröffnung gefordert, doch Pläne für die wirtschaftliche Erholung Ägyptens gibt es nicht. Ein Streik, zu dem Oppositionsgruppen und Aktivisten zum ersten Jahrestag des Abgangs des früheren Präsidenten Hosni Mubarak aufgerufen hatten, verfehlte seine Wirkung. Der öffentliche Nahverkehr in Kairo sei normal verlaufen, berichteten Korrespondenten, Aktionen an den Universitäten hätten nur wenig Zulauf gehabt. Die Muslimbruderschaft hatte vor einer Teilnahme gewarnt, weil ein Streik der Wirtschaft schade; der Militärrat warnte davor, weil ein Streik das Land destabilisieren könne. Viele Ägypter blieben, der ständigen Unruhen müde, zu Hause. Kein Rad stand still in den lukrativen Häfen des Suezkanals oder an den Flughäfen, lediglich Studierende und Aktivisten revolutionärer Gruppen versammelten sich und forderten: »Nieder mit der Militärherrschaft«. Der Streik sollte eine Kampagne des zivilen Ungehorsams starten, »als Waffe, um die Rechte der Revolution umzusetzen«, sagte Ramy el-Swissy, Sprecher der Jugendbewegung 6. April, der britischen BBC. Doch der Militärrat »hört nicht auf unsere logischen Forderungen, geschweige denn erhalten wir eine Antwort«. Der Militärrat solle seine Macht an Zivilisten sofort abgeben und nicht erst nach den Präsidentschaftswahlen Anfang Juni.

In den Chefetagen der Armee denkt man gar nicht daran. Zwar sind sich die Militärs durchaus bewußt, daß sie seit Beginn der ägyptischen Revolution enorm an Vertrauen verloren haben. Gleichzeitig lassen sie verkünden, sie würden sich keinen Drohungen beugen. Die Zeit, als »Armee und Volk Hand in Hand« gingen, gehört der Vergangenheit an.

Selbst wenn der Militärrat tatsächlich die Macht an einen neu gewählten Präsidenten abgeben sollte, wird nach dem Willen der Armee vor allem eines unangetastet bleiben: ihr Wirtschafts­imperium. Darüber kontrollieren hochrangige Militärs fast jeden Bereich des Landes, worüber seit 30 Jahren der Mantel des Schweigens liegt. Daran soll sich auch in Zukunft nichts ändern. Nach dem Willen der Machthaber soll die Geheimhaltung des Militärhaushalts in der Verfassung verankert werden.

Bis zu 40 Prozent der ägyptischen Wirtschaft sollen in den Händen der Militärs liegen, schätzt Zeinab Abul Magd, die ausführlich über die Verbindungen von Armee und Wirtschaft in Ägypten recherchiert hat (Al Masri al Youm, 24.12.2011). Einige Firmen geben demnach bei ihrer öffentlichen Darstellung im Internet sogar stolz an, Militärs im Aufsichtsrat sitzen zu haben. Nudelfabriken, Abfüllanlagen für Mineralwasser und Tankstellen, aber auch Hotels und Ferienanlagen werden von Militärs kontrolliert. Sie sind an Bau- und Grundstücksfirmen beteiligt, an der Nahrungsmittelindustrie, Viehbetrieben, an Textilfirmen und natürlich an der Rüstungsindustrie, auch mit ausländischen Partnern. An erster Stelle stehen dabei die USA, die die ägyptische Armee jährlich mit 1,3 Milliarden US-Dollar unterstützt.

Ökonomie »außer Kontrolle«

Mit 82 Millionen Menschen ist Ägypten der bevölkerungsreichste Staat der arabischen Welt. Mit Niedrigstlöhnen ist das Land am Nil für internationale Investoren interessant. Gleichzeitig bieten 82 Millionen Menschen für alle Unternehmen einen vielversprechenden Markt, selbst wenn die Hälfte von ihnen arm ist. Aufgrund der unsicheren politischen Lage bleiben Investoren seit einem Jahr aus, Arbeitsplätze verschwinden. Nach Angaben des Wirtschaftsforschungszentrums in Kairo wuchs die ägyptische Wirtschaft bis 2011 jährlich zwischen sechs und sieben Prozent. In den letzten zwölf Monaten habe das Wachstum optimistisch geschätzt bei höchstens zwei Prozent gelegen, sagt Salah Goda, Direktor des Zentrums. Die Wirtschaft des Landes befände sich »in einem Zustand der Anarchie, außer Kontrolle«. Am härtesten traf es den Tourismussektor, die wichtigste Einkommensquelle des Landes. Offizielle Statistiken sprechen von einem Rückgang um 30 Prozent, etwa vier Milliarden US-Dollar. Reiseveranstalter bezeichnen diese Zahlen als geschönt. Ausländische Geldreserven, die im Januar 2011 bei 36 Milliarden US-Dollar lagen, sind in nur sechs Monate um mehr als die Hälfte auf 16,3 Milliarden gesunken. Nach Angaben ägyptischer Ökonomen fiel das Bruttoinlandsprodukt um mehr als zehn Prozent. Sollte das Land die Subventionierung der Preise für Brot, Speiseöl und Gas aufgeben, wird sich die Situation für die Ärmsten der Armen noch mehr verschlechtern.

Der Entwicklungsbericht der Vereinten Nationen gibt für Ägypten den Index für die humane Entwicklung (HDI) mit 0,644 an, damit liegt es heute auf Platz 113 von 187 Ländern. Gesundheit, Bildung und Einkommen gelten als wesentliche Faktoren, um die Lebensqualität eines Landes für seine Einwohner zu bewerten. Im arabischen Maßstab lag Ägypten vor 2011 oberhalb des Durchschnitts. Das spricht allerdings weniger für die gute Lebensqualität dort als vielmehr für die insgesamt schlechte Lebensqualität in der arabischen Welt.

Mindestens 40 Prozent der Ägypter leben an oder unterhalb der Armutsgrenze, die von den Vereinten Nationen mit zwei US-Dollar/Tag (1,50 Euro) angegeben wird. In früheren Jahren war es bereits zu Revolten gekommen, als die Regierung versucht hatte, den Preis für Brot anzuheben.

Ob wahr oder nicht, die kleinste Nachricht verbreitet sich bei der hoch sensibilisierten Bevölkerung in Windeseile. So hatten Gerüchte über einen Engpaß bei Benzinlieferungen im Januar tagelang für Autoschlangen vor den Tankstellen gesorgt. Sollte der Militärrat oder eine andere Regierung die Subventionen aufkündigen, könne das »zu einer politischen Katastrophe führen«, meint Ökonom Hamdi Abdelazim von der Sadat-Akademie für Management in Kairo. Ende Januar beantragte die Regierung beim Internationalen Währungsfonds einen Kredit in Höhe von 3,2 Milliarden US-Dollar, was sie wenige Monate zuvor noch kategorisch ausgeschlossen hatte. Bei der Weltbank bat sie zusätzlich um eine Milliarde US-Dollar. Nach Regierungsangaben braucht Ägypten allerdings zehn bis zwölf Milliarden US-Dollar, um die Wirtschaft am Laufen zu halten. Zwar hatten die reichen Golfstaaten finanzielle Hilfe versprochen, allerdings sei davon nie etwas angekommen, räumte Ministerpräsident Kamal Al-Ganzuri kürzlich auf Anfrage ein. Die finanzielle Hilfe aus Europa betrachten Skeptiker nur als Mittel, die Euro-Zone zu stabilisieren.

Kein Frühling für die Frauen

Viel gelobt worden war die Rolle der Frauen während des »arabischen Frühlings« in Ägypten. Seite an Seite leisteten Frauen auf dem Tahrir-Platz organisatorische und medizinische Hilfe, sorgten für Sicherheit bei den Einlaßkontrollen und waren zuständig für die Medienarbeit. Am Tag nach dem Sturz des alten Regimes säuberten sie mit Hingabe, unterstützt von vorwiegend jungen Männern, den zentralen Platz und umliegende Straßen von den Spuren der Auseinandersetzungen. Es scheint geradezu historisches Gesetz zu sein, daß Frauen in gesellschaftlichen Umbrüchen Führungsrollen einnehmen, die ihnen nach Erreichen des Ziels regelmäßig wieder genommen werden. Ein Jahr nach den Umwälzungen haben die ägyptischen Frauen nicht viel zu feiern. Inmitten gewaltsamer Auseinandersetzungen oder politischer Schachereien sind ihre Stimmen weitgehend verstummt. Der patriarchale Alltag hat sich der vielen Aktivistinnen bemächtigt; schon jetzt gibt es Zeichen, daß die Rechte ägyptischer Frauen sogar beschnitten und in Frage gestellt werden könnten. Von 508 Abgeordneten im neuen Parlament sind nur zehn Frauen.

So haben die meisten Parteien, die für die Parlamentswahlen kandidiert hatten, nach Angaben von Amnesty International (ai) verweigert, sich auf den Erhalt der Rechte für Frauen und ihre Gleichberechtigung zu verpflichten. 54 Parteien hatte ai vor den Parlamentswahlen aufgefordert, ein zehn Punkte umfassendes »Manifest für Menschenrechte« zu unterschreiben, in dem u.a. die Abschaffung von Folter und Todesstrafe, die Aufhebung des Ausnahmezustandes, Versammlungs- und Organisationsfreiheit und die freie Meinungsäußerung gefordert wurden. Nur die Sozialdemokratische Partei Ägyptens und die Vereinigte Sozialistische Volkspartei unterschrieben das Manifest ohne Einschränkungen. Zehn Parteien lehnten Garantien für die Rechte von Frauen und gegen Diskriminierung ab. Die Partei für Freiheit und Gerechtigkeit der Muslimbruderschaft, die mit 37,5 Prozent die Wahlen deutlich gewonnen hat, habe auf die Anforderung nicht regiert, hieß es. Die dogmatische islamische Al-Nur-Partei der Salafisten, zweitstärkste parlamentarische Kraft mit 27,8 Prozent, habe immerhin acht von zehn Punkten mündlich zugestimmt, nicht aber der Abschaffung der Todesstrafe und dem Schutz der Frauenrechte. Selbst die Partei der Freien Ägypter des Multimilliardärs Naguib Sawairis, eines Kopten, reagierte nicht auf die Anfrage von Amnesty.

Die rechtliche Lage arabischer Frauen gegenüber Männern ist allgemein ungleich schlechter. Frauen unterliegen Einschränkungen nicht nur bei der Partner- oder Berufswahl; selbst wenn sie reisen wollen, ist die Begleitung eines männlichen Angehörigen erforderlich. Hinzu kommen Einschränkungen durch die Zugehörigkeit zu bestimmten Familienclans, insbesondere in ländlichen Gebieten. Das Familienrecht (Eheschließungen, Erziehungs- und Erbrecht) regelt sich nach der Religionszugehörigkeit einer Person, das gilt für Muslime wie für Christen. Nirgends sind Frauen beim (sunnitisch-islamischen) Erbrecht den Männern gleichgestellt, sondern erhalten lediglich die Hälfte dessen, was etwa der Bruder eines verstorbenen Ehemannes bekommt. Bei schiitischen Muslimen und Christen gibt es andere Regelungen.

Die Analphabetenrate bei Mädchen und Frauen in Ägypten, die älter als 15 Jahre sind, beträgt 42,2 Prozent. Das geht aus einer Studie der UN-Organisation für Bildung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO) aus dem Jahr 2009 hervor. Die jahrhundertealten Traditionen und Regeln der arabischen Gesellschaften zu ändern, wird länger dauern, als es brauchte, einen Machthaber zu stürzen. Für die Mehrheit der ägyptischen Frauen sind politische oder Freiheitsrechte tatsächlich untergeordnet. Vorrangig ist, genug Essen und eine Wohnung für sich und die Kinder zu haben, die Familie gesundheitlich versorgen und die Kinder eines Tages in die Schule schicken zu können. Die Forderungen nach Gleichberechtigung der Frauen kommen nicht von den Millionen Frauen, die unter der Armutsgrenze in einem Slum überleben müssen, mit bloßen Händen Müll sortieren oder die sich als Saison- und Erntearbeiterinnen verdingen. Sie kommen von westlich geprägten Nichtregierungsorganisationen, Anwältinnen, Journalistinnen, Akademikerinnen, Studentinnen oder den wenigen Politikerinnen, die es gibt.

NGOs im Visier

Diese Kluft versuchen Organisationen der Zivilgesellschaft zu überwinden. Sie helfen Habenichtsen in den rund 1000 übervölkerten Armenvierteln, die Kairo wie ein Gürtel umschlingen, wo es kaum Strom oder sauberes Wasser gibt, keine Schulen, keine Krankenhäuser, keine Arbeit. Die Zahl der Slumbewohner, Kopten und Muslime, in und um Kairo wird auf bis zu elf Millionen geschätzt. Hier ist nicht die Welt von Facebook und Twitter, hier herrschen Unwissenheit und Gewalt, Abhängigkeit und Hunger. Manche der Armenviertel vor Kairos Stadttoren seien dennoch ein »Four Season Hotel im Vergleich zu dem, wie die Menschen am Oberen Nil leben«, sagt Youssef Zeki, ein Arzt und Anthropologe. Im Süden Ägyptens liegt die Armut bei über 60 Prozent, 85 Prozent der Frauen können nicht lesen und schreiben, Stammesstrukturen bevormunden die Menschen.

Das Regime Mubarak hatte vor zehn Jahren versprochen, die Armut im Land zu halbieren, doch die 180 Milliarden US-Dollar, die für entsprechende Hilfsprogramme vorgesehen waren, haben die Menschen nie erreicht. Auf dem Land helfen höchstens religiöse Stiftungen, während Hilfsorganisationen, viele mit westlicher Unterstützung, ihre Tätigkeit auf die Slums um Kairo und andere Städte des Landes konzentrieren. Viele dieser Nichtregierungsorganisationen waren aktiv an den Protesten auf dem Tahrir-Platz beteiligt, wofür sie viel Lob und finanzielle Unterstützung aus Europa und den USA erhielten. Die allerdings ist in Ägypten bis heute verboten, und mehrfach schon forderten ägyptische Organisationen, das restriktive und repressive Gesetz für die Arbeit ziviler Organisationen aufzuheben. Selbst die Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS), US-Institute und andere ausländische Einrichtungen bekamen den Arm des ägyptischen Gesetzes kürzlich in den eigenen Räumen in Kairo zu spüren. Bei Razzien wurden Computer und Akten beschlagnahmt, 43 Personen werden sich demnächst vor einem Gericht verantworten müssen. Sie hätten illegal ägyptische Nichtregierungsorganisationen finanziell unterstützt und damit die Unruhen in Ägypten wie auf dem Tahrir-Platz geschürt, lautet der Vorwurf. Sie hätten die Sicherheit Ägyptens gefährdet und ohne Lizenz gearbeitet.

Darüber verhandelte kürzlich US-General Martin Dempsey, als er sich in Kairo mit seinem Kollegen Feldmarschall Mohamed Hussein Tantawi, dem Vorsitzenden des Militärrates und amtierenden Präsidenten, traf. Der Amerikaner machte klar, daß weitere Hilfe für den Militärrat in Frage gestellt sei, sollten nicht die 43 Personen – darunter auch der Leiter und eine Mitarbeiterin der KAS – von jeder Schuld freigesprochen werden. Ein Sprecher des Weißen Hauses sagte, ein Prozeß gegen US-Bürger in Kairo könne sich auf das gesamte US-Hilfsprogramm für Ägypten negativ auswirken. Bundesaußenminister Guido Westerwelle bezeichnete das Vorgehen der staatlichen ägyptischen Sicherheitsbehörden als einen »bedauerlichen Rückschlag« für die Arbeit der KAS und sagte, es werfe ein »negatives Schlaglicht auf den Stand des Transformationsprozesses in Ägypten«.

Als »Partnerland der deutschen Entwicklungszusammenarbeit«, erhielt Ägypten vom Bundesministerium für Entwicklungszusammenarbeit im vergangenen Jahr 95 Millionen Euro. Schwerpunkte sind nach Angaben des Ministeriums der Umwelt- und Klimaschutz – mit einem Fokus auf der Förderung erneuerbarer Energien – sowie die Wasserver- und Abwasserentsorgung. Darüber hinaus fördert die Bundesregierung die Privatwirtschaft sowie das Berufsbildungswesen. Deutsche Stiftungen hatten in den vergangenen Jahren nach eigenen Angaben vor allem Projekte in den Bereichen Demokratie und Frauenrechte unterstützt. Unter unabhängigen Hilfsorganisationen der Entwicklungszusammenarbeit steht die Arbeit von Stiftungen immer wieder in der Kritik.

Der lange revolutionäre Prozeß

Die ersten Forderungen bei den Protesten auf dem Tahrir-Platz seien die nach »Arbeit, angemessenen Löhnen und sozialer Gerechtigkeit gewesen«, sagte Mamdouh Habashi vom Weltforum für Alternativen im Gespräch mit der Autorin unmittelbar vor dem Rücktritt Mubaraks vor einem Jahr. Der Sturz Mubaraks sei nicht der Sieg der ägyptischen Revolution, sondern der Beginn eines »langen Prozesses, um die Forderungen der Revolution tatsächlich zu erreichen«. Es gehe um einen »Machtkampf zwischen uns (den Revolutionären – K.L.) und dem Regime. Dafür haben wir keine anderen Waffen als das Volk, den Druck der Straße, unsere Einheit. Das Regime hat alles, nur keine Legitimität.« In einer »Übergangsperiode von ein, zwei Jahren« sollten sich Parteien, Medien, gesellschaftliche Gruppen entwickeln, die Revolution brauche »mehr Sauerstoff«, um wirklich freie Wahlen zu haben. Demokratie sei jedoch mehr, als freie Wahlen abzuhalten, sagte Habashi weiter, das Land brauche »einen radikalen Wandel hin zu sozialer Gerechtigkeit«. Umverteilung des Reichtums »von oben nach unten«, gerechte Löhne und eine Art Grundabsicherung für die Armen müßten schon in der Übergangszeit erreicht werden: »Das Volk kann mit seinen sozialen Rechten nicht bis zu freien Wahlen warten.«

Es sei »wie ein Traum«, sagte ein Demonstrant auf dem Tahrir-Platz vor einem Jahr einer Reporterin, »das Militär wird uns nie verraten«. Ein Jahr später fällt das Resümee der Revolutionäre bitter aus. Mubarak ist fort, doch sein System ist noch immer intakt. Durch die Installierung des Militärrates sicherte sich die Armee den Sieg in der ersten und entscheidenden Etappe, finanziell und politisch unterstützt von den westlichen Bündnispartnern Mubaraks. Die nächste bei den ersten Wahlen entschieden islamische religiöse Parteien für sich. Sollte der Militärrat tatsächlich bereit sein, im Juni die (politische) Macht an einen neuen gewählten Präsidenten abzugeben, könnte dieser aus den Reihen der Muslimbruderschaft kommen. Ob diese in der Lage sein werden, den wirtschaftlichen Absturz des Landes aufzuhalten, bleibt abzuwarten.

* Aus: junge Welt, 20. Februar 2012


Schwierige Beweislage

Mubarak vor Gericht

Schwierige Beweislage **


Der Prozeß gegen den früheren Präsidenten Hosni Mubarak begann am 3. August 2011. Wegen seines schlechten Gesundheitszustandes wurde Mubarak in einem Krankenbett in den Gerichtssaal gefahren, wo er den Prozeß in einem Käfig verfolgt. Mubarak ist angeklagt, im Januar/Februar 2011 das mörderische Vorgehen gegen die Demonstranten auf dem Tahrir- Platz angeordnet zu haben, bei dem 850 Menschen getötet wurden. Ebenfalls angeklagt sind der ehemalige Innenminister und sechs Sicherheitschefs. Sollten die Angeklagten für schuldig befunden werden, droht ihnen die Todesstrafe. Mit seinen zwei Söhnen Alaa und Gamal ist Hosni Mubarak auch der Korruption angeklagt.

Der Prozeß zieht sich in die Länge, wofür manche Beobachter das Anwaltsteam Mubaraks verantwortlich machen. Für Überraschung sorgte einer der Verteidiger, als er eine DNA-Analyse des Angeklagten forderte. Als Begründung gab er dem Vorsitzenden Richter Ahmed Refaat an, Mubarak sei schon vor Jahren gestorben, der Mann auf der Bahre sei ein Doppelgänger.

Schwierig ist die Beweislage in dem Verfahren, da wichtige Zeugen aus dem Innenministerium Aussagen und Zugang zu Einsatzunterlagen verweigern. Andererseits sprachen selbst Zeugen der Anklage Mubarak und seine Mitangeklagten vom Vorwurf des Mordes frei. Ein Polizeioffizier sagte aus, er habe den Befehl erhalten, die Demonstranten »wie Brüder« zu behandeln. Andere sagten, sie seien aufgefordert worden, während des Einsatzes keine Schußwaffen zu tragen.

Beobachter vermuten, der Militärrat habe die Anklage gegen Mubarak und seine Söhne, ihre Festnahme und das Gerichtsverfahren nur in Gang gebracht, um die Protestbewegung ruhigzustellen und weitere Kritik an den Militärs zum Schweigen zu bringen. Vor wenigen Tagen wurde die Verlegung Mubaraks von einem Militärhospital in das Krankenhaus des Tora-Gefängnisses außerhalb Kairos angeordnet.
(kl)

** Aus: junge Welt, 20. Februar 2012


Wahlen erst im Juni

Abstimmung über neuen Präsidenten in Ägypten geplant ***

Die Präsidentenwahl in Ägypten soll offenbar doch erst im Juni stattfinden. Die Abstimmung werde »in den ersten Junitagen beginnen« und im Falle einer Stichwahl »in der letzten Juniwoche abgeschlossen«, sagte Ahmed Schamseddin von der nationalen Wahlkommission der Tageszeitung Al-Masri Al-Jom (Sonntagausgabe). Ab dem 1. März laufe eine dreiwöchige Frist zur Anmeldung von Kandidaturen. Bislang war mehrfach der Mai als Termin für die Stimmabgabe genannt worden, zuletzt am Mittwoch vom Minister für parlamentarische Angelegenheiten, Mohammed Attija. Die Präsidentenwahl ist die erste seit dem Sturz des langjährigen Diktators Hosni Mubarak im Februar 2011.

Ägypten und der Internationale Währungsfonds (IWF) haben sich nach Angaben der Regierung in Kairo auf einen Vertrag für einen Kredit in Höhe von 3,2 Milliarden Dollar (2,4 Milliarden Euro) geeinigt. Wie staatliche Medien am Sonntag unter Berufung auf das Finanzministerium berichteten, soll das Geld in drei Raten ausgezahlt werden. Die erste Tranche werde der IWF bei Unterzeichnung des Vertrags im kommenden Monat überweisen, hieß es.

*** (jW, 20.02.2012)


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