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Jahrestag eines Massakers

Ägypten: Tausende gedenken der Opfer von Maspero und fordern Strafen für verantwortliche Militärs

Von Sofian Philip Naceur, Kairo *

Rund 4000 Menschen haben sich am Dienstag in Kairos Innenstadt vor dem Gebäude des staatlichen Rundfunks, genannt Maspero, versammelt und der bis zu 28 Opfer des Massakers vom 9. Oktober 2011 gedacht. Damals zogen vornehmlich koptische Christen aus dem Arbeitervorort Shubra in Richtung Stadtzentrum, um gegen die seit dem Sturz Mubaraks zunehmende sektiererische Gewalt in Ägypten zu demonstrieren. Seit der Revolution 2011 hatten teils gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Christen und Muslimen und Anschläge auf koptische Kirchen massiv zugenommen.

Bei den friedlichen Protesten vor dem Maspero-Gebäude 2011 rasten gepanzerte Fahrzeuge der Sicherheitskräfte in die Menge und töteten mindestens 14 Menschen, mindestens neun Demonstranten wurden erschossen, unter ihnen der 19jährige Mina Danial, der seither zum Symbol der Proteste gegen Polizei- und Militärgewalt geworden ist. Bei dem Massaker starben nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur 23 Christen und ein Soldat, über 300 Menschen wurden verletzt. Nichtregierungsorganisationen sprechen von 28 Toten.

Noch während der gewaltsamen Übergriffe von Polizei und Militär berichtete das Staatsfernsehen, bewaffnete Christen hätten drei Soldaten erschossen und rief damit indirekt dazu auf, gegen die angeblich gewalttätigen Kopten zu protestieren. Am selben Abend wurden Christen von einem Mob durch die Kairoer Innenstadt gejagt.

Die Instrumentalisierung sektiererischer Auseinandersetzungen in Ägypten gehört zum Standardrepertoire der alten Kader im Staatsapparat. Im Zuge des Aufstands gegen den damaligen Präsidenten Hosni Mubarak im Februar 2011 tauchten Dokumente auf, die belegen, daß das alte Regime vorsätzlich versuchte, Gewalt zwischen Christen und Muslimen zu schüren um die Opposition zu entzweien.

Zu den Kundgebungen zum Jahrestag des Massakers hatten die koptische Jugendorganisation Maspero Youth Union (MYU), die linksliberale Bewegung des 6. April und zahlreiche andere Gruppen aufgerufen. Am Nachmittag versammelten sich zunächst einige hundert vor dem Rundfunkgebäude an der Nilpromende, das seit dem Massaker 2011 mit Stacheldraht umzäunt ist und, zumeist von einem Aufgebot an Paramilitärs und Polizei bewacht, eher einer Festung gleicht. Die Sicherheitskräfte hielten sich dieses Mal zurück. Am Abend formierte sich ein weiterer Demonstrationszug zum Maspero-Gebäude, der Verkehr kam zum Erliegen.

Die Demonstranten forderten die »Säuberung« des staatlichen Rundfunks und daß die Verantwortlichen für das Massaker endlich zur Rechenschaft gezogen würden. Lediglich drei Soldaten sind zu Haftstrafen von zwei und drei Jahren wegen fahrlässiger Tötung und Totschlag verurteilt worden, Offiziere und führende Mitglieder der nach Mubaraks Sturz herrschenden Militärrats blieben unbehelligt. Inzwischen sind zwei Dutzend Zivilklagen gegen den ehemaligen Vorsitzenden des Rates, Hussein Tantawi, den abgesetzten Stabschef Sami Annan sowie den ehemaligen Chef der Militärpolizei, Hamdy Badeen, an den Justizminister übergeben worden. Ob es zu Anklagen kommen wird, ist zweifelhaft, schließlich sind die Beschuldigten nach wie vor eng mit dem Regime verbunden oder selbst in politischen Ämtern.

Bereits in der vergangenen Woche stellte die Menschenrechtsorganisation Amnesty International zwei Berichte zu Polizeigewalt in Ägypten unter der Militärherrschaft vor und fordert darin die lückenlose Aufklärung des Massakers vom 9. Oktober und ein konsequentes Vorgehen gegen die Folterpraktiken von Polizei und Militär. Ob der Appell an Staatspräsident Mohamed Mursi, grundlegende Reformen des Polizei- und Militärapparates einzuleiten, Gehör findet, ist fraglich, schließlich regiert Mursi das Land faktisch gemeinsam mit den Militärs und kann es sich nicht leisten, die Generäle zu brüskieren.

* Aus: junge welt, Donnerstag, 11. Oktober 2012#


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