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Hätt’ ich einen Hammer ...

Der Folkmusiker und Aktivist Pete Seeger ist tot *

Er hat über 100 Alben aufgenommen, wurde verleumdet, aus dem Radio verbannt, eingesperrt und totgeschwiegen. Doch statt in Bitterkeit oder Resignation zu verfallen, schnappte er sich lieber das Banjo und zupfte eine weitere Weise, die dann von Generation zu Generation überliefert wurde wie die Staffelstäbe des Widerstands. Dafür wurde er auf der ganzen Welt geliebt. Am Montag ist Pete Seeger, der Folkmusiker, Sänger, Songbewahrer, Friedens- und Umweltaktivist, der Komponist ewiger Protestsongs wie »If I had a Hammer« oder »Where have all the Flowers gone«, mit 94 Jahren in New York verstorben.

Seinen ursprünglichen Berufswunsch hat Seeger nicht verwirklicht: Als kommunistisch engagierter Student wollte er eigentlich Journalist werden. Ein Glücksfall? Wahrscheinlich – obwohl er sicherlich auch mit spitzer Feder statt mit der Gitarre seinen solidarischen und kämpferischen Botschaften Gehör verschafft hätte.

Möglicherweise schlug bei der Berufswahl die familiäre Prägung durch: der Vater Komponist und Musikwissenschaftler, die Mutter Konzertgeigerin, die Stiefmutter ebenfalls Komponistin. Wahrscheinlicher aber ist, dass vor allem die Freundschaft mit Woody Guthrie und das gemeinsame Leben als Tramps das gesellschaftliche und kulturelle Selbstverständnis der 1919 in New York geborenen Protestikone formte. Anfang der 40er Jahre gründeten die beiden die Almanac Singers – und wurden für die amerikanische Folkmusik zu Schlüsselfiguren, ohne die die Entwicklung Bob Dylans, ja der gesamten Popmusik anders verlaufen wäre.

»Mein Job ist es zu zeigen, dass es gute Musik auf dieser Erde gibt und dass sie helfen kann, den Planeten zu retten, wenn sie richtig eingesetzt wird«, sagte er 2009 der »New York Times«. Spricht hier etwa ein naiver Weltverbesserer? Von wegen. Denn selbst wenn man das Mobilisierungspotenzial von Popmusik für überschätzt hält: Seegers Songs, mit denen die Kinder engagierter Eltern auf der ganzen Welt aufwachsen, gehören zum linken Kanon, der ganz konkret auf die Menschen wirkt – und so tatsächlich die Welt verändern kann. Ein davon Inspirierter ist der US-Dokumentarfilmer Michael Moore. Der hat, neben zahllosen anderen Prominenten, Seeger nun gewürdigt und dessen Leistung auf den Punkt gebracht: »Er sprach es aus und sang es und lebte es vor. Unsere Wege kreuzten sich oft und ich bin dadurch zu einem besseren Menschen geworden.«

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 29. Januar 2014


Lob dem Aktivisten

Pete Seeger ist tot. Seine Lieder vom Kampf der Klassen, gegen Krieg und Rassismus bleiben

Von Gerd Schumann **


Pete Seeger ist tot, verstorben am Montag in New York, jener Stadt, in der er am 3. Mai 1919 das Licht der Welt erblickt hatte. Er sei eine »Folklegende« heißt es nun in allerhand wohltönenden Nachrufen – eine Kategorisierung, die nur unvollkommen die Bedeutung des hageren, knorrigen, bis zum Ende aufrechten Musikers trifft. Tritt doch mit Seeger einer der letzten Alten aus einer ganz besonderen Künstlergeneration ab, die das Wort »Aktivist« als Lob verstand.

Der Sänger mischte sich ein, zeigte Flagge, sah in seinen Songs, den Auftritten immer auch etwas Politisches, von seinem Publikum Geteiltes und Weitergetragenes. Kurz: Eine Kunst, die sich einmischte und niemals in jene peinliche Beliebigkeit nichtssagender Oberflächlichkeit abrutschte, die die kommerzielle Unterhaltungsindustrie ihren Produkten zumutet. Seeger wurde zum Symbol, als er für die Gewerkschaftsbewegung sang, für die schwarzen und roten Bürgerrechtler. Noch 2012 trat er mit seinem Bruder im Geiste, Harry Belafonte, mit Jackson Browne und anderen für den seit über 37 Jahren eingeknasteten Leonard Peltier vom American Indian Movement auf.

Lange boykottiert

Seeger selbst mußte ins Gefängnis, verurteilt zu zehn Jahren, nachdem er 1955 seine Aussage vor den Gesinnungsschnüfflern des Kommunistenjägers McCarthy verweigert hatte. Dem Komitee für unamerikanische Umtriebe, vor das zu Kalte-Kriegs-Zeiten auch Brecht, Eisler und andere deutsche Antifaschisten gezerrt worden waren, mußte auf Seegers Worte verzichten – und der auf seine Freiheit außerhalb der Kerkermauern. Die erhielt er auch nach seiner frühzeitigen Begnadigung ein Jahr danach nur eingeschränkt zurück: Alle öffentlichen Medien boykottierten den einst gefeierten Freiheitskämpfer für lange 17 Jahre, er erprobte eine »kulturelle Guerillataktik« – wie er es nannte – mit meist kleinen Auftritten an der Basis, der er sich zugehörig fühlte (siehe Spalte). Noch 1967 schnitt CBS seinen Antikriegssong »Waist Deep In The Big Muddy« aus dem Programm.

Da lief die kleine Zeitenwende bereits auf Hochtouren, der Protest gegen die Folterer und Flächenbombardierer in Südostasien unter Führung des »Völkermörders Johnson« (Degenhardt). Pete Seeger reihte sich vorne ein – und auf immer unvergessen, wenn es gegen Krieg und Unterdrückung geht, werden seine wichtigsten Lieder bleiben. »Turn turn turn«, der großartige Aufruf an alle, endlich umzukehren, Leid und Elend zu überwinden, Liebe und Frieden zu erringen. »Ich schwöre, es ist nicht zu spät«, sangen die »Byrds« aus allen Jukeboxes und vor allem: aus den Radios.

Der Seeger-Boykott in den USA wankte, derweil in der alten BRD Marlene Dietrichs Rückkehr auf deutsche Bühnen geschmäht wurde. »Sag mir, wo die Blumen sind«, sang der Weltstar und interpretierte eines der wichtigsten Friedenslieder überhaupt auf ihre ganz eigene, lakonische, Tränen in die Augen treibende Art und Weise – speziell für das westdeutsche Publikum. Pete Seeger, der Geächtete, auf deutsch vorgetragen von einer im postfaschistischen Deutschland Unwillkommenen. »Where have all the flowers gone?«, 1955 von Seeger geschrieben, bis heute ungezählte Male aufgeführt – ein pazifistisches Monument.

Wegen »Pazifismus« hatte schon sein Vater Charles, ein Musikwissenschaftler, 1918 seine Professur an der Berkeley-Universität verloren – öffentliche Äußerungen gegen die US-Beteiligung am Ersten Weltkrieg führten zum erzwungenen Abtritt. Zwanzig Jahre später flog Pete, Student der Soziologie, vom Harvard College – wegen politischer und musikalischer Betätigung. Auf den Spuren seines Vaters, der als einer der ersten überhaupt musikethnologische Forschungen betrieben hatte, sammelte er nunmehr die verstaubten, in etablierten Chorgesellschaften konservierten oder vergessenen Volkslieder zusammen, widmete sich dem Südstaaten-Blues, lernte die Worksongs von den Cotton Fields. Das erzwungene Ende seines Studiums erwies sich als Glücksfall für die Musikgeschichte.

Musikalische Hochkaräter

»We shall overcome« in neuem Gewand. 1941 entstanden zunächst »The Almanacs«, bei denen Seeger auf Woody Guthrie traf, und im Laufe der wirren Zeiten auch auf andere, der linken Bewegung in den USA eng verbundene musikalische Hochkaräter wie Leadbelly und Paul Robeson. Die als »kommunistisch« abgestempelten Almanacs – Seeger war 1942 Mitglied der KP geworden, entfernte sich dann nach eigenen Aussagen »langsam« in den fünfziger Jahren – gerieten nach Pearl Harbor wegen ihrer »Organizing songs« (Joan Baez) für die Trade ­Unions, gegen den Krieg ins Visier des FBI. Auch wenn sie schließlich dem Kampf gegen Nazideutschland ihre sonstigen Ziele unterordneten: In der Vergangenheit habe er manche Meinungsverschiedenheit mit dem Präsidenten gegeben, sang Seeger. Aber, Mister President, das sei nunmehr alles nicht wichtig: »Wir müssen Mr. Hitler schlagen, und bis das gelingt, müssen andere Dinge warten.« (Dear Mister President).

Pete Seeger trat mit seinem fünfsaitigen Banjo als Truppenbetreuer im pazifischen Raum auf, doch folgte der Volksfront mit historischer Zwangsläufigkeit die Repression der Linkskräfte in manchem westlichen Land. Die Almanac-Nachfolger »The Weavers« erreichten zwar mit dem Leadbelly-Song »Goodnight, Irene« die Spitze der Charts, hatten weitere Erfolge. Das 1949 von Seeger geschriebene »If I Had a Hammer« wurde im Zuge auch der Neuinterpretation von Peter, Paul and Mary 1962 zu einer Hymne der Bürgerrechtsbewegung. Doch waren zu dem Zeitpunkt auch die »Weavers« längst gebannt.

Mit der Organisation »Peoples Songs«, die Seeger 1942 gegründet hatte, wollte er den Menschen ihre originäre Musik zurückgeben – deutlich abgegrenzt »von den gelehrten Volksmusikgesellschaften«. Im Rückblick fällt hierzu eine gewisse Parallelität zu Seegers Auftritt 1967 an der Westberliner »Schaubühne« am Halleschen Ufer auf: Sein Umgang mit dem US-Folk, aber auch mit den Liedern der Inter­brigaden in Spanien und den jüngeren Werken eines Bob Dylan inspirierte auch die westdeutsche Liedermacherszene. In der DDR trat Seeger 1986 beim »Festival des Politischen Liedes« auf, auf der Compilation ist »Turn, turn, turn« vertreten.

Im September 2008 demonstrierte Seeger noch einmal vor einem Millionenpublikum seine Fähigkeit, Geschichte von unten in Liedern zu erzählen und die Menschen – selbst vor den Bildschirmen – zu begeistern. Ausgerechnet in der meist mit einer unangenehm-frotzeligen Witzigkeit daherkommenden »Late Night Show« von David Letterman präsentierte er seinen überkommenes »Hootenanny«-Singout – in der DDR von Perry Friedman bekannt gemacht. Text hiphop-mäßig improvisiert, der eingängige Refrain mehrfach wiederholt – sing along gefälligst! Und also vermittelt Seeger den Widerstand gegen die Apartheid, Alabama 1955, noch zu Quasisklavenhalterzeiten, als »ein junger Baptistenprediger einen Busboykott leitete«. Martin Luther King eben – und alle singen mit: »Sag nicht, das geht nicht / Die Schlacht hat grad begonnen / (Über)nimm es von Dr. King« (Take it from Dr. King).

Das war vor Obamas Wahlsieg, als die Hoffnung auf »Change« wie eine Droge grassierte, und Seeger und Bruce Springsteen noch einmal gemeinsam Guthries »This land is your land« anstimmten mit einer halben Million am Lincoln-Denkmal. Dabei hätte mindestens der große Alte unter den Künstleraktivisten wissen müssen, daß jedes Ding seine Zeit hat. Also weiter: »There is a season – turn, turn, turn!«

** Aus: junge welt, Mittwoch, 29. Januar 2014


Stimmen von Weggefährten ***

Durch ihn wurde das Gospellied »We shall overcome« zur Hymne der Bürgerrechtsbewegung – zunächst in den USA, dann weltweit: Pete Seeger. Am Montag starb der Folksänger im Alter von 94 Jahren in New York. Weggefährten erinnern sich an Begegnungen mit dem Künstler.

This Land is your Land

Von Hannes Wader

Pete Seeger ist tot, darüber bin ich traurig, freue mich aber, dass er so alt geworden ist. Noch vor nicht mal einem halben Jahr, im September 2013, sang er auf dem Farm-Aid-Concert in Saratoga Springs, gemeinsam mit Willy Nelson und Neil Young, den wohl amerikanischsten Song, der je geschrieben wurde: »This Land is your Land«, von seinem alten Weg- und Kampfgefährten Woody Guthrie.

Wie Woody war Pete zeitlebens politisch hoch motiviert. Jedes Kinderlied, jeder Folksong, jedes Liebeslied, jedes Anti-Kriegslied, das Pete Seeger je gesungen hat, war von ihm als Ermutigung für die Armen und Entrechteten dieser Erde gedacht. Waren auf Woodys Gitarre die Worte eingebrannt: »This Machine kills Fascists«, stand auf Petes Banjo: »This Machine surrounds Hate and forces it to surrender«.

Keine Frage, dass Pete Seeger mir in meiner Jugend ein Vorbild war und es heute noch immer ist. Ausgerechnet von ihm, einem Amerikaner, hörte ich zum ersten Mal in meinem Leben »Die Moorsoldaten«. Außer ein paar Ostermarschierern kannte in der Bundesrepublik der 1960er Jahre noch niemand dieses Lied. Dank Pete ist es mittlerweile auch Teil meines Repertoires.

1986 in der DDR konnte ich Pete Seeger live auf der Bühne erleben. 1990 lernten wir uns in Dänemark persönlich kennen. Erfreut und auch etwas beschämt musste ich feststellen, dass er über mich fast mehr wusste als ich über ihn. Unter anderem kannte er meine Fassung seines Liedes »Sag mir, wo die Blumen sind«. Wenn ich behaupte, dass Pete in meinem Leben immer irgendwie präsent war, ist das nicht nur so dahingesagt. Vor etwa zwei Jahren habe ich noch sein Lied »Turn, Turn, Turn« ins Deutsche übertragen und aufgenommen. Ich werde es in Erinnerung an ihn auf meiner nächsten Tournee wieder ins Programm nehmen.

Der Musiker Hannes Wader, 1942 in Bielefeld geboren, gilt als einer der letzten großen deutschen Liedermacher im traditionellen, sozialkritischen Sinne.


Where have all the Flowers gone?

Von Walter Kaufmann

Wer kennt sie nicht, die Songs von Pete Seeger, die ihn zum Vater des Folkrevivals machten. Immer trat er für die Sache der Arbeiter ein, für Rassengleichheit, Frieden und Bürgerrechte. Als Kommunist geriet er zwischen die Mühlsteine der politischen Verfolgung und Justiz der McCarthy-Ära, was ihn 17 Jahre lang vom US-amerikanischen Rundfunk verbannte. Er fand andere Wege, sang in Schulen, bei Jugendtreffen, vor Gewerkschaftern...

Ich sehe mich als jungen Mann von Melbourne nach Sydney zum Fest der Eureka Youth League trampen, an die 1000 Kilometer in Wind und Wetter, und immer an der Küste entlang, vorbei an Port Phillips Bay bis hin nach Wonthaggi, wo ich bei einer Bergarbeiterfamilie unterkam, und am Morgen weiter bis Bairnsdale am Tasmansee, und von dort weiter in einem Plymouth, den ein raubeiniger Unternehmer fuhr, der sich Jack nennen ließ und eine Mary als Begleiterin hatte, die irgendwie verzweifelt wirkte. Die beiden brachten mich bis Batemans Bay am Pazifik, von wo es, gemessen an australischen Entfernungen, nicht mehr weit bis Sydney war.

Dort fand ich mich auf einer großen Wiese mit schattigen Eukalyptusbäumen ein, und schon von fern schallte mir »If I had a Hammer« entgegen, und ja, es war ein Fest der Jugend, mit Losungen und Fahnen, und ob ich in den Nächten zwischen Freitag und Montag mehr als zehn Stunden schlief, ist fraglich. Drei verwegene Typen brachten mich in einem klapprigen Ford zurück nach Melbourne, was fünf Tage dauerte, wegen der Pannen, aber auch der trampenden Mädchen wegen, mit denen die drei den Ford überfrachteten. In unseren Köpfen war Pete Seeger mit seinen Liedern.

Jahre später, im Jahr 1955, auf der »Neptunia«, die uns von Sydney nach Genua brachte, war es wieder so. Einer in der Gruppe besaß ein Songbook mit Petes Liedern. Er sang los, und wir sangen mit, übten uns, um bei den Weltfestspielen in Warschau bestehen zu können – »Where have all the Flowers gone …«

Zwei Mal erlebte ich den Sänger im Berliner Osten, hörte ihn live – diese Kraft in der Stimme, die Überzeugungskraft, und wie er virtuos Gitarre und Banjo zum Klingen brachte. »Turn, turn, turn …«

Jahre danach im Central Park, New York, bei einer Rally for Peace, war die Menge um Pete Seeger so dicht, meine Entfernung zu ihm so weit, ich sah ihn wie durch ein umgekehrtes Fernrohr. Doch über die Lautsprecher hörte ich ihn gut – das Lied vom Hammer und das von den Blumen, und »Turn, turn, turn«. Das war das dritte und letzte Mal, dass ich ihn live erlebte.

Aber er war noch oft überall zugegen. Nach dem Mord an Martin Luther King am 4. April 1968 beim Poor Peoples March von Memphis, Tennessee bis Washington D. C., dort schallten seine Lieder durch die Lautsprecher über die Köpfe der Menge weg bis hin zum Weißen Haus. In San Franciscos Berkeley, als Studenten zu Tausenden gegen den Vietnamkrieg auf die Straße gingen. Und in Los Angeles nach dem Freispruch von Angela Davis, und später im Madison Square Garden in New York, als ihr Sieg gefeiert wurde. Mit Blick ins Tal über den Hudson River lebte Pete Seeger in Beacon, einem kleinen Ort knapp zwei Stunden nördlich von New York City, in einem Blockhaus, das er sich selbst gebaut hat. Im hohen Alter von über 90 durfte er sagen: »Ich habe von meiner Musik gelebt. Ich bin für die Menschen aufgetreten, die mit mir singen wollten. Was mehr kann man sich wünschen?«

Der 1939 aus Nazideutschland emigrierte Schriftsteller, Jg. 1924, kam 1957 aus Australien in die DDR.


Long time ago

Von Reinhold Andert

Als die traurige Nachricht kam, legte ich noch einmal ein Video in den Recorder, eine kostbare Rarität: Pete Seeger 1967, das erste Mal in der DDR. Ein Konzert in einem kleinen Raum in der Sporthalle Karl-Marx-Allee. Zwei Wochen zuvor hat er im Madison Square Garden vor 3000 Menschen gesungen. Wir waren etwa 50, die meisten vom Hootenanny-Club Berlin. Ich sah in junge Gesichter, leuchtende Augen. Dann kam er herein, unser Gott. Auf unseren Veranstaltungen hatten wir etliche seiner Lieder gesungen, jetzt das Original! Aber kein Gott, nicht mal ein Star, sondern ein bescheidener Mann mit Banjo und Gitarre stand auf der Bühne. Aber wenn er eines der Instrumente in die Hand nahm und zu spielen anfing, wurde er doch Gott und Star, unerreichbar für uns Anfänger!

Die Leichtigkeit, mit der er ernste und traurige Lieder wie »Die Moorsoldaten« oder »Sag mir, wo die Blumen sind« sang, berührte uns tief. Wir haben später versucht, ihm hierin nachzueifern. Was wir aber vergaßen von ihm zu lernen, war, wie man andere zum Mitsingen animieren kann. Man sieht es im Film: Pete Seeger forderte nicht laut zum Mitsingen auf, er wurde leise, wirkte fast hilflos, so dass man ihn unterstützen wollte und mitsang. Das hätte man auch anderweitig von ihm lernen und nachahmen sollen.

Der Liedermacher, Jg. 1944, war Mitglied des legendären Oktoberklubs.


Schtille die Nacht

Von Victor Grossman

Mit Pete Seeger bin ich aufgewachsen. Als unbekannter Neuling sang er an unserer Schule, an der seine Tante lehrte. Er brachte die Achtklässler zum begeisterten Mitsingen von linken Liedern. Das war sein Zauber: Bei ihm klatschten die Menschen nicht mit, sie stimmten ein. Auch in Berlin, wo er im West- und Ostteil sang und zwischendurch Stuttgart besuchte und feststellte, dass sein Ur-Urgroßvater zur gleichen Schule ging wie Schiller.

Vor dem großen Konzert in der Berliner Volksbühne wusste er nicht, was ihn beim ostdeutschen Publikum erwartete. Was wusste man 1967 vom Land hinter der Mauer? Er spielte »Schtille die Nacht«, ein jiddisches Lied. Berührtes Schweigen. Dann sang er die »Moorsoldaten«. Und der ganze Saal sang mit. Ein Lied vom Spanienkrieg – das Gleiche.

Im Restaurant, vor dem Auftritt in der Volksbühne, lag plötzlich vor ihm eine fein gefaltete Serviette mit einem Kärtchen, das ich ihm übersetzte: »Herr Seeger, ich liebe Ihre Musik. Kann ich ins Konzert kommen?« Unterschrieben: »Ein Kellnerlehrling«. Der Konzertmanager winkte ab: »Es gibt keine Karten mehr, nicht mal für hohe Funktionäre!« Pete schaute seine Frau Toshi an, sie nickte, er sagte: »Er kommt ins Konzert, und wenn er mir das Banjo trägt!« Was auch geschah.

Der Journalist und Dolmetscher wurde 1928 in New York geboren und lebt in Berlin.

*** Diese vier Erinnerungen sind alle im "neuen deutschland" vom 29. Januar 2014 erschienen.

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This Land is Your Land
Zum 90. Geburtstag Pete Seegers, des Titanen der amerikanischen Folkmusik / Pete Seeger: Elder Statesman of Topical Song (3. Mai 2009)




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