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Formierte Gegenaufklärung

Protagonisten in Die Linke sind im Begriff, sich von den antimilitaristischen Grundsätzen der Partei zu verabschieden. Derweil wird auf der Straße für den Frieden demonstriert. Aber dieser Protest ist nicht immer fortschrittlich

Von Sebastian Carlens *

Vor zehn Jahren erlebte die BRD etwas bis dahin für schwer möglich Gehaltenes. Die SPD, die staatlich und gewerkschaftlich verankerte deutsche Sozialdemokratie, bekam tatsächlich ernstzunehmende Konkurrenz von links. Es war ausgerechnet ihr ehemaliger Vorsitzender Oskar Lafontaine, der der neuen bundesweiten Linken, die 2005 aus PDS und WASG entstand, Gesicht und Stimme gab. Damals sprach Lafontaine auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz der jungen Welt von den »roten Haltelinien« seiner Partei, den Grenzen nach rechts, also zur SPD: nein zu Hartz IV und Agenda 2010, zur dauerhaften sozialen Ausgrenzung von Millionen Mittellosen; nein zu deutschen Militäreinsätzen im Ausland.

Heute, 2015, hat sich die Lage grundlegend verändert. Die Linke ist aus den westdeutschen Landtagen überwiegend verdrängt, stellt dafür mit Bodo Ramelow in Thüringen aber ihren ersten Ministerpräsidenten im Osten. Die Rechtsopportunisten in der Partei, die ein Unterlaufen eben jener »Haltelinien« anstreben, haben ganze Arbeit geleistet – selbst die Entsendung von Bundeswehrsoldaten in andere Länder ist nicht mehr tabu.

Das Kapital ist in der vergangenen Dekade in eine seiner schwersten Krisen überhaupt geraten. Seit 2008 wechseln die Bezeichnungen für deren Phänomene und die Orte, an denen diese sichtbar werden. Die Verwertung des Kapitals gelingt nicht mehr in ausreichendem Maße. Die wirtschaftliche Verödung Südeuropas, die Massenarbeitslosigkeit und die gleichzeitige Überproduktion sind untrügliche Zeichen dafür, dass die Widersprüche, die zur Herausbildung der Krise geführt haben, bis heute nicht substantiell gelöst wurden. Deren mögliche Überwindung unter imperialistischen Bedingungen aber heißt: Kapitalvernichtung, Staatskonsumption durch Aufrüstung – die stete Drohung mit Krieg. Die Gefahr einer militärischen Auseinandersetzung, in vielen Teilen der Welt längst wieder Realität, ist mittlerweile bis an die Haustür herangerückt. Die Bundesregierung betreibt gemeinsam mit den USA die Einkreisung Russlands, bei der auch vor der Kooperation mit Faschisten nicht mehr zurückgeschreckt wird.

Der Kampf um die Ukraine ist längst zu einem Stellvertreterkrieg eskaliert. Die Linken-Führung gefällt sich in Äquidistanz, geißelt einen »russischen Imperialismus« und legitimiert damit die aggressive Außenpolitik der Bundesregierung. Eine unparteiische Stellung gegenüber der eigenen Bourgeoisie ist schlechterdings unmöglich: Neutral bleiben heißt gewähren lassen.

Im Bundestag hat sich seit Jahren eine ganz große Koalition gebildet, deren Parteien in allen wesentlichen Fragen übereinstimmen und Unterschiede lediglich in Nuancen bei der Wahl der Mittel und im Tempo erkennen lassen: Wettbewerbsfähigkeit und Standortsicherung sind nach deren Lesart nur durch Existenz der EU, des Euro als Währung (und, stillschweigend dazu gedacht, nur unter deutscher Hegemonie) sowie durch Integration in die NATO, also im Bündnis mit dem US-Imperialismus, zu bewahren. In all diesen Fragen geht Die Linke bereits weitgehend konform. Nur der offene Einsatz des Krieges als scheinbar legitimes Mittel zur Fortsetzung der bürgerlichen Politik stößt – noch – auf ihren Widerstand. Für in ihr organisierte Anhänger Rosa Luxemburgs, Luxemburgisten im besten Sinne, wäre die Kriegsdebatte die Gretchenfrage, diejenige, die in den Mittelpunkt der innerparteilichen Auseinandersetzungen gehörte: Hier, wo der Kotau vor der herrschenden Klasse am heftigsten eingefordert wird, müsste parlamentarisch, vor allem aber außerparlamentarisch massiver Widerstand organisiert werden.

Die eklatante Schwäche der Linken steht in scharfem Kontrast zur gesellschaftlichen Bewegung, die vor allem im vergangenen Jahr entstanden ist. Unzweifelhaft hängt dies mit den geopolitischen Widersprüchen zusammen, in die die herrschende Klasse der BRD geraten ist bzw. in die sie sich hineinmanövriert hat. Der antirussische Kurs der Bundesregierung stellt eine neue Qualität der Zuspitzung dar: Es ist, und das betrifft das deutsche Kapital in besonderem Maße, nicht mehr möglich, nach allen Seiten hin gleich gute Geschäftsbeziehungen zu unterhalten, also Kapital zu exportieren und zu verwerten. Der politische Druck und das gegen Russland errichtete Sanktionsregime verhindern dies gegenwärtig. Die Gewinne aus dem transatlantischen Handel, aus dem Kapitalexport in die westliche Hemisphäre sind aber momentan so gewaltig, dass sie die Profite aus dem Russlandgeschäft vielfach übersteigen. Längst nicht alle deutschen Kapitalisten sehen das allerdings genauso: Gerade der sogenannte Mittelstand, also die nichtmonopolistische Bourgeoisie, ist tief ins Russlandgeschäft involviert, ihm droht mittelbar der Ruin. Aber auch Monopole sind von den Sanktionen gegen die Russische Föderation betroffen, manchmal gar dieselben, die von den nordamerikanisch-europäischen Freihandelsabkommen TTIP und CETA andererseits enorm profitieren werden. Der bürgerliche Staat ist eine Kompromissfindungsinstanz. Die Kapitalfraktionen verhandeln auf der Grundlage ihrer jeweiligen Stärke und Macht. Der Umstand, dass sich aktuell eine transatlantische Fraktion durchsetzt, heißt noch lange nicht, der deutsche Imperialismus sei »nicht souverän«. Das Bündnis mit den USA hält, weil der beiderseitige Nutzen den zwangsläufig entstehenden Schaden momentan überwiegt.

Inaktive Linkspartei

Der bürgerliche Staat als Wahrer des monopolkapitalistischen Gesamtinteresses ist kein homogener, kein widerspruchsfreier Block. Auch die unterlegenen Kapitalfraktionen organisieren sich, innerhalb der herrschenden Fraktion wechseln die Mehrheiten, nichtmonopolistische bürgerliche Kreise drängen auf Teilhabe. Die Zusammensetzung der Parlamente und Parteien bildet dies nur ab. Die Verengung des parlamentarischen Betriebs auf ein dauerhaftes Mehrparteienbündnis, einig in allen wesentlichen Fragen, unabhängig von der regierenden Koalition, schafft dem Kapital zunächst Handlungsspielräume, lässt die Unterschiede zwischen den einzelnen Parteien jedoch bis zur Unkenntlichkeit verschwimmen. Gleichzeitig grenzen sie sich als Block stärker nach außen ab: Die Linke, mitten im fließenden Übergang von Opposition zu Regierungsfähigkeit, ist diesem Konformitätsdruck erheblich ausgesetzt.

Ob der Zuspitzung der gesellschaftlichen Widersprüche ist vieles in der politischen Landschaft der BRD in Bewegung geraten. Mit der »Alternative für Deutschland« (AfD), die in diesem Jahr nach Hamburg auch in Bremen in einen zweiten westdeutschen Landtag einziehen könnte, hat sich eine bürgerliche Kraft rechts von der Union etablieren können. Sie steht bereits in Teilen für eine Abkehr vom klassischen Modell der bürgerlichen Honoratiorenpartei, für die Herausbildung einer neuen Massenbasis, aber sie spiegelt auch geopolitische Differenzen innerhalb der herrschenden Klasse wider.

Schon jetzt speist sich die rechtsbürgerliche Strömung, die viel breiter als die Anhängerschaft der AfD ist, auch aus dem großen Reservoir der Unzufriedenen, die sich bislang links richtig aufgehoben fühlten. Wenn es keine organisierte antimilitaristische Kraft mehr gibt, wird die taktisch motivierte AfD-Position gegenüber Russland, die etliche ihrer Anhänger aus ökonomisch eigennützigen Motiven favorisieren, auch zum Magneten für politisch ungefestigte Menschen werden.

Der Erhaltung des Friedens dient dieser Standpunkt allerdings nicht. Das Monopolkapital ist nur an der einen Frage interessiert, ob die neue Partei Mehrheiten für einen anstehenden Kurswechsel bereitstellen kann. Der Rest ihres Programms ist Beiwerk und Budenzauber und wird oftmals im Sinne eines antiaufklärerischen Kulturkampfes gegen den sich »liberal« gebenden, herrschenden Kapitalblock in Stellung gebracht: Die Renaissance eines überkommenen Familienbildes, der heraufbeschworene Kampf der Religionen und das Bekenntnis zum »christlichen Abendland« (in Konfrontation zum Islam), der Ruf nach »Law and Order« – es steht zu befürchten, dass der Verlust der Linkspartei als Oppositionskraft – bei ansonsten kaum wahrnehmbaren antimilitaristischen, linken und aufklärerischen Aktivitäten – auch zu einer massenhaften Stärkung solcher stockreaktionären Positionen führen wird.

Bislang äußert sich Unmut in der Bevölkerung vor allem gegenüber einer als gleichförmig und ideologisch motiviert empfundenen Art der Berichterstattung, insbesondere in bezug auf Russland. Diese zum Programm erhobenen Expansionsziele stoßen etlichen Menschen auf. Auch die im April 2014 zunächst in Berlin entstandenen »neuen Montagsdemonstrationen« konnten davon, wie von ausbleibenden Angeboten von links, zahlenmäßig profitieren: Tausende gingen mit bis dato unbekannten Veranstaltern auf die Straße, gegen Lügenpresse und Kriegshetze – aber in erster Linie gegen die transatlantische Orientierung der BRD. Das offizielle Demomotto – »gegen die tödliche Politik der FED« (der US-Zentralbank) – brachte dies zum Ausdruck. Gemeinsamer Nenner der Teilnehmer war, bei aller Heterogenität und allen pazifistischen Anliegen, ein diffuser Antiaamerikanismus. Eine starke Arbeiterbewegung wäre möglicherweise in der Lage gewesen, diesen oft spontanen, durch Versatzstücke bürgerlicher Ideologie geprägten Impuls im Sinne einer Systemkritik zu entwickeln, hätte reaktionäre Elemente durch ihre eigene Stärke neutralisieren können. Eine im Friedenskampf deaktivierte Linkspartei und eine heillos zersplitterte antimilitaristische und antifaschistische Bewegung sind dazu offensichtlich nicht in der Lage. Neue, andere Kräfte übernehmen die Kontrolle.

Als Beispiel für solche neuen Bewegungen nennt Hans-Christoph Stoodt in der Zeitschrift Theorie und Praxis neben den »Montagsdemos« auch die antiislamische »Pegida«-Bewegung. Ebenso bestehen augenfällige Gemeinsamkeiten zum AfD-Milieu. Die jeweiligen Mitläufer seien nicht über ein Leisten zu schlagen, betont er zu Recht, hätten jedoch »ihre sozialpsychologische Gemeinsamkeit als ›Wutbürger‹, deren öffentliche Äußerungen einen hohen Grad an Aggression und Irrationalität« aufweisen. Als gemeinsame Klassenbasis hinter Erscheinungen wie den Montagsdemos oder Pegida vermutet Stoodt mit Autoren wie Andreas Kemper und Helmut Kellershohn »eine soziale Basis von sogenannten mittelständischen Familienunternehmen, deren spezifische Interessen besonders in Zeiten der aktuellen Krise von der vermeintlich sozialdemokratisierten CDU nicht mehr angemessen vertreten seien«.

Neue Inflationsheilige

Genau diese Frage, nämlich die nach den Klassen hinter den Phänomenen, hat die marxistische Analyse zu stellen. Die unklare Rolle der benannten Kräfte im gesellschaftlichen Gefüge und im Verhältnis zu den Produktionsmitteln, ihre Funktion als Ausbeuter und (durch die Monopole) Ausgebeutete zugleich, oft auch nur als »Selbstausbeuter«, deren Produktionsmittel der Bank gehören, machen sie empfänglich für scheinradikale Rhetorik. Ihre Abstiegsangst lässt sie für zinskritische, pseudo-alternativwirtschaftliche und antisemitische Theorien empfänglich werden; den Kapitalismus an sich wollen sie nicht in Frage gestellt sehen. »Weder rechts noch links« ist die Parole, die die ganze illusionäre Strategie, die rückständigen Vorstellungen dieser neuen Bewegungen unter Beweis stellen. Vergesellschaftete Planwirtschaft und internationaler Sozialismus sind ebenso Feindbilder, die aktuell nur deshalb nicht vermehrt angegriffen werden, weil sie, dank der Schwäche der Linken, schlicht keine Konkurrenz darstellen. Ihr Antikommunismus äußert sich eher in Parolen wie gegen eine »EUdSSR« als angebliche Diktatur Brüssels, als Gleichsetzung des europäischen Ausbeutungsbündnisses mit der Sowjetunion.

Wie in den zwanziger Jahren, als das Kapital ebenfalls in eine tiefe Krise geriet, treten erneut sogenannte Inflationsheilige auf, die gleichsam marktförmig um die Gunst und den Zuschlag der großen Monopole und ihrer politischen Vorfeldorganisationen ringen – denn sonst ist in dieser Gesellschaft keine neue bürgerliche Bewegung zu etablieren. Diese Selbstanbieter und -vermarkter, zu denen sich auch die Führer der »Montagsmahnwachen« und der »Pegida«-Aufmärsche rechnen lassen, sind individuell von den unterschiedlichsten Vorstellungen beseelt, objektiv aber haben sie die Funktion von Testballons, die die Massentauglichkeit bestimmter Slogans ausprobieren oder den letzten verbliebenen Widerstand gegen die Entsolidarisierung der Gesellschaft provokant in Frage zu stellen versuchen. Vielfach stürzen diese politischen Ich-AGs wieder ab, erweisen sich als unfähig, zu übermütig oder als unkontrollierbar. Keines dieser Phänomene sollte daher, für sich genommen, überbewertet werden. In der Summe allerdings stellen sie eine Drohung des Kapitals in Form eines durch das Plebiszit der Straße abgesicherten Durchregierens dar (Forderungen nach »direkter Demokratie«, die im Kapitalismus doch nur die direkte Herrschaft der bürgerlichen Massenmedien wäre, flankieren dies). Die geschickteren unter ihnen sammeln genug Anhang, um irgendwann eine Bewegung herauszubilden, die schließlich als Kraft der Straße nicht mehr übergangen werden, den politischen Gegner ernsthaft terrorisieren und Wahlergebnisse beeinflussen kann. Einen solchen Alternativplan könnte das Kapital gebrauchen, und sei es zur Erpressung der Werktätigen in Lohnkämpfen. Den im Parlament gebundenen Kräften wird die eigene Ohnmacht und stete Abrufbarkeit so fortwährend vor Augen geführt.

Exemplarisch für viele weitere dieser neuen Inflationsheiligen seien an dieser Stelle der Publizist Jürgen Elsässer und der ehemalige Radiomoderator Ken Jebsen erwähnt. Ersterer, der seinen Weg ganz links begann, ist mittlerweile – als Einpeitscher bei »Legida«, dem Leipziger Ableger des antiislamischen Dresdner »Pegida«-Bündnisses – weit rechts gelandet. Dass es dem Compact-Chefredakteur Elsässer noch einmal gelingen könnte, in organisierte linke Zusammenhänge einzubrechen und nach Anhang zu fischen, scheint derzeit unwahrscheinlich, er hat sich längst auf nationalistische Agitation verlegt. Als Querfront, die ausgehend von rechts und unter Ausnutzung linker Schwächen, rechte und linke Positionen und Personen zusammenführen soll, lässt sich die Bewegung um den Blattmacher daher nicht mehr treffend beschreiben. Anders ist es mit Jebsen, der Verbündete in der Partei Die Linke finden konnte. Den Ursprung der »Montagsdemos« zu Beginn des Jahres 2014 in Berlin schildert er folgendermaßen. Der Anmelder, ein gewisser Lars Mährholz, sei durch die naive Frage eines kleinen Mädchens, warum denn niemand etwas »für den Frieden« mache, auf die Idee zu einer Demonstration gekommen. »Lars Mährholz sprach, mit einem kleinen batteriebetriebenen Lautsprecher verstärkt, davon, dass er sich das Ende der FED und damit den Ausstieg aus einer globalen Zinspolitik wünsche«, so Jebsen auf seiner Webseite. Aus dem »kleinen batteriebetriebenen Lautsprecher« sollte schnell ein professionelles Equipment, mit Bühne und Verstärkeranlage, werden. Vor rund 2.000 Zuhörern sprach schließlich auch Elsässer im April 2014 in Berlin und zählte die »wenigen reichen Familien« auf, die die Welt unter ihrer Kontrolle hätten: die Rothschilds, die Rockefellers. Die amerikanische Zentralbank FED, laut Lars Mährholz schuld an »allen Kriegen der letzten hundert Jahre«, sei letztlich deren Privatbank – eine interessante Theorie, die mit Kapitalismuskritik gar nichts gemein hat. Gegenüber Elsässer, der mittlerweile unverhohlen zur Abschiebung von Flüchtlingen aufruft, hat Jebsen jahrelang keinerlei Berührungsängste gezeigt. Distanziert hat er sich von dieser Kooperation bis heute nicht, im Gegenteil. Auf einer von der Startseite seines Webauftritts abrufbaren »Klarstellung« macht Jebsen das mehr als deutlich und hält seinen Kritikern entgegen: »Ich möchte mich an dieser Stelle vor allem von Ihnen distanzieren.«

Nach dem Niedergang der »Montagsdemo«-Bewegung haben diese Kräfte zeit- und teilweise Unterschlupf unter neuen Dächern gefunden: Im vermeintlich breiten Bündnis »Friedenswinter 2014/15« konnten sie Personen aus dem Umfeld der Friedensbewegung gewinnen. Von seiten der Linkspartei signalisierten einzelne, insbesondere zentristische Kräfte Kooperationsbereitschaft. Doch auch dieses Bündnis liegt bereits in Trümmern. Mit der rechts offenen Flanke bietet die Bewegung stete Angriffsfläche, mit Provokationen aus den eigenen Reihen werden immer wieder Argumente – gerade an den rechten Flügel der Linkspartei – frei Haus geliefert, die gegen jedwede friedenspolitische Aktivität, zur Diskreditierung der pazifistischen und antimilitaristischen Linke-Mitgliedern, benutzt werden können. Ken Jebsen erklärte am 16. März auf der kleinen Berliner Montagsmahnwache, die »Feinde in diesem Land« seien die »sogenannte linke Presse«, die Publizistin Jutta Ditfurth und der Sprecher der Deutschen Friedensgesellschaft (DFG-VK), Monty Schädel (jW dokumentierte Auszüge dieser Rede auf »Abschrieben« in ihrer Ausgabe vom 18.3.). Die denunziatorischen Angriffe, wie sie zum Beispiel durch Jebsen und dessen publizistisches Umfeld, leider auch durch ehemals linke Kreise, gefahren werden, drücken lediglich die immanenten, unüberbrückbaren Widersprüche aus. Darüber kann langfristig kein Aktivismus hinwegtäuschen. »Über künftige Formen der Zusammenarbeit müssen wir uns sicher im weiteren den Kopf zerbrechen – aber jetzt geht es um die Aktion«, schrieb der Linken-Abgeordnete Wolfgang Gehrcke gemeinsam mit Reiner Braun, einem der Sprecher der »Kooperation für den Frieden«, mit Blick auf die »Friedenswinter«-Demonstration und ihre Kritiker im Dezember 2014. Also Bewegung um jeden Preis, zurückschauen später?

Schatten der Vergangenheit

Dies könnte ein gefährlicher Kurs sein, rutschen doch Jebsen und Freunden immer wieder Aussagen heraus, die mehr verraten, als sie sollen. Die Verachtung der Massen, damit auch des eigenen Publikums, der überhebliche Glaube an die Manipulierbarkeit der Straße: »Gustave Le Bon, der große französische Ethnologe und Soziologe, lag schon vor über 100 Jahren verdammt richtig, als er schrieb: ›Die Massen urteilen gar nicht oder falsch. Die Urteile, die die Massen annehmen, sind nur aufgedrängte, niemals geprüfte Urteile‹«, schreibt Jebsen über den rassistischen französischen Sozialphilosophen des 19. Jahrhunderts, der nicht nur ihm, sondern auch ganz anderen Leuten als Stichwortgeber diente. So heißt es in einer programmatischen Kampfschrift aus der Weimarer Zeit: »Die Aufnahmefähigkeit der großen Masse ist nur sehr beschränkt, das Verständnis klein, dafür jede Vergesslichkeit groß. Aus diesen Tatsachen heraus hat sich jede wirkungsvolle Propaganda auf nur sehr wenige Punkte zu beschränken und diese schlagwortartig so lange zu verwerten, bis auch bestimmt der letzte unter einem solchen Worte das Gewollte sich vorzustellen vermag«. Das schrieb Adolf Hitler in »Mein Kampf«. Seine propagandistischen Ideen waren nicht zufällig wesentlich von Le Bons Manipulationstheorie inspiriert. Ebenso wenig ist es Zufall, dass dieser heute vergessene Schriftsteller bei Jebsen seinen späten Widerhall findet. Es geht, das sei ausdrücklich betont, nicht um subjektive Überzeugungen oder Weltbilder, sondern um die objektiven Möglichkeiten und Bedingungen für die Schaffung neuer bürgerlicher Massenbewegungen. Diese Bedingungen werden durch die Macht diktiert, und sie sind, im Deutschland der 1920er Jahre ebenso wie heutzutage, kapitalistisch definiert.

Die Schatten der Vergangenheit waren bei der Montagsbewegung allerorten präsent. Der Goldhändler Andreas Popp pries in Berlin sein alternatives Wirtschaftsprogramm namens »Plan B« und den 1883 in Würzburg geborenen Gottfried Feder. Feder, eines der ersten Mitglieder der »Deutschen Arbeiterpartei« (DAP), später NSDAP, gilt als Verfasser des demagogischen Naziparteiprogramms mit seiner grotesken Trennung zwischen »schaffendem«, produktivem deutschen, und »raffendem«, jüdisch-spekulativen Kapital. Letzteres könne abgeschafft werden, ohne den Kapitalismus an sich überwinden zu müssen, behauptete er. Eine von Feder 1919 vorgelegte Schrift inspirierte die deutschen Faschisten zu ihrer Parole von der »Brechung der Zinsknechtschaft« – also die Illusion, bestimmte Erscheinungen in der Zirkulationssphäre des Kapitalismus abschaffen zu können, ohne die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen zu überwinden. Hitler würdigte Feders Einfluß ausdrücklich in »Mein Kampf«. Selbstverständlich hat der Mann nach 1933 Karriere gemacht. Doch »heute wird dieser große Wirtschaftstheoretiker leider noch immer mit dem Nationalsozialismus in Verbindung gebracht«, bedauerten Popp und sein Koautor Rico Albrecht – bis nach kritischen Veröffentlichungen ihr »Plan B« von der Jubelpassage auf den Nazi Feder bereinigt wurde. Solche Fehler passieren gelegentlich, und sie sprechen Bände.

Warum fühlen sich Linke, mit oder ohne Parteibuch, bemüßigt, für solche Figuren in die Bresche zu springen? Es ist von einem »Zusammengehen« von »alter und neuer Friedensbewegung« die Rede, von »breiten Mehrheiten«, die für den Frieden geschaffen werden sollen. Falsch ist beides. Es gibt keine »alte Friedensbewegung« mehr, ihre Zeit war in den 80er Jahren, unter dem Eindruck der Blockkonfrontation und der NATO-»Nachrüstung«. Es existierte eine DDR und eine UdSSR, in der BRD konnte die DKP Einfluss auf Teile der Bewegung nehmen. Heute sind lediglich einige Strukturen übriggeblieben, denen der Anhang fehlt. Die immer wieder vollmundig geforderte breite Mehrheit gegen den Krieg hingegen ist längst da: Mehr als 50 Prozent der BRD-Bürger sind gegen Auslandseinsätze, gegen NATO-»Missionen«, gegen Aufrüstung und Waffenexporte. Es gelingt allerdings nicht, diesen Unmut in politische Bahnen zu lenken.

Mit der Linken als Partei wird dies nicht mehr funktionieren. Der bereits zitierte Linken-Politiker Gehrcke bringt seine Überlegungen folgendermaßen auf den Punkt: »Es ist kein Geheimnis: Grüne und SPD knüpfen ihre Bereitschaft, über eine Regierungsteilhabe der Linken überhaupt nur nachzudenken, an die Bedingung, dass Die Linke ihre friedenspolitischen Grundsätze verlässt und mehr Verantwortung übernimmt als Teil der Allparteienkoalition der Kriegsbefürworter. Doch damit würde sich Die Linke überflüssig machen, weil austauschbar.« Welche Schlussfolgerung zieht Gehrcke aus dieser richtigen Einschätzung? Ausbau der Linken zur entscheidenden Friedenskraft, die die Wut der Menschen von der Straße ins Parlament trägt und außerparlamentarisch organisiert? Mitnichten: »Bestärkt durch die Meinungsmehrheit gegen Krieg, kann Die Linke jetzt ihrerseits Druck ausüben auf SPD und Grüne, die dramatisch falsche Weichenstellung in der Außenpolitik zu korrigieren und zu ihren Wurzeln zurückzukehren, zu Karl Liebknecht und Willy Brandt, zur Friedensbewegung der 80er Jahre.« Doch weder Liebknecht noch Luxemburg bilden die Wurzel der heutigen SPD. Dort finden sich Gustav Noske und Philipp Scheidemann, die Arbeitermörder. Bei den Linken in der Linkspartei steht der Beweis noch aus, ob wirklich mehr Vordenker als vielleicht gerade noch Willy Brandt zu ihren Ahnherren zu rechnen sind. Nämlich genau dann, wenn auch die Linke im Bundestag dem ersten Kriegseinsatz zustimmt.

Es wird sich zeigen, ob die organisierte revolutionäre Bewegung wenigstens einen Kern an Wissen, Personal und Erfahrung retten und konsolidieren kann. Ohne organisatorische Eigenständigkeit, ohne eigene Mobilisierungsfähigkeit und ohne aufklärerische Gegenangebote an die Menschen, die die drohenden Gefahren erahnen und denen grundsätzlich und mehrheitlich, das zeigt bislang noch jede Umfrage, an Frieden gelegen ist, wird dies scheitern.

* Aus: junge Welt, Samstag, 21. März 2015


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