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"Besonders schwerer Fall politisch motivierter Rechtsverdrehung"

Friedensbewegung im Visier des Verfassungsschutzes - Brief an den Bundeskanzler

Im Folgenden dokumentieren wir eine Presseerklärung des Bundesausschusses Friedensratschlag zur Erwähnung dieser Organisation im Verfassungsschutzbericht 2002.


Pressemitteilung
  • Friedensbewegung im Verfassungsschutzbericht
  • Antikriegshaltung als verfassungsfeindlich denunziert
  • Auch die Bundesregierung im Visier des Verfassungsschutzes? - Brief an Bundeskanzler
  • "Besonders schwerer Fall politisch motivierter Rechtsverdrehung"
  • Observierung der Friedensbewegung "sofort einstellen!"
Der Bundesausschuss Friedensratschlag protestiert in einem Brief an den Bundeskanzler gegen die neuerliche Aufnahme seiner Organisation in den vom Innenministerium herausgegebenen "Verfassungsschutzbericht 2002". Der Bundesausschuss Friedensratschlag befindet sich dort - zwischen VVN-BdA (der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes) und PDS - zwar in einer durchaus ehrenwerten Gesellschaft, vermutet aber, dass die Verfasser des Verfassungsschutzberichts dies nicht so positiv gemeint haben.

Der "Friedensratschlag" wurde 1994 gegründet und versteht sich als Kommunikationsnetzwerk Hunderter von Friedensinitiativen aus dem ganzen Land. Er war maßgeblich beteiligt bei der Mobilisierung von Protest anlässlich des Besuchs des US-Präsidenten Bush im Mai vergangenen Jahres, er war Mitinitiator der großen Friedensdemonstration, die am 15. Februar in Berlin mehr als 500.000 Menschen auf die Straße brachte, und er gehört zur breiten Opposition gegen jegliche Militarisierung der deutschen und europäischen Außenpolitik, sei es in Form der "neuen Bundeswehr", einer "Armee im Einsatz" (Struck), sei es in Form der Schaffung einer Europäischen Streitmacht mit weltweiten Interventionsabsichten.

Aus der pazifistischen und am Völkerrecht und der UN-Charta orientierten Politik des "Friedensratschlags" macht der Verfassungsschutzbericht in denunziatorischer Absicht eine "in erster Linie antiamerikanischen und gegen das westliche Bündnis gerichtete ´Friedensbewegung`". Konkret wird dem Friedensratschlag vorgeworfen, er habe im Kampf gegen den drohenden Irakkrieg "den USA unterstellt, sie beabsichtigten weder einen ´Antiterror-Kampf` noch die Beseitigung von Massenvernichtungswaffen oder die Herstellung von Demokratie und Menschenrechten. Es gehe ihnen vielmehr um die Durchsetzung geostrategischer und wirtschaftlicher Interessen in einer der energiereichsten (Öl-)Regionen der Welt." (Verfassungsschutzbericht 2002, S. 135)

Der Bundesausschuss Friedensratschlag stellt hierzu fest:
  1. Dieser Satz, der sich kritisch mit der Irakkriegspolitik der US-Regierung befasst, fand Eingang in den offiziellen Aufruf der Friedensbewegung zur bisher größten Friedensdemonstration in der Geschichte der Bundesrepublik am 15. Februar 2003. Er wurde und wird - in abgewandelter Form - in Hunderten und Aberhunderten Leitartikeln deutscher und amerikanischer Zeitungen, wissenschaftlichen Büchern und Aufsätzen sowie essayistischen Beiträgen in diversen Medien veröffentlicht und diskutiert. Mit anderen Worten: Er ist Teil des herrschenden friedenspolitischen Diskurses dieses Landes und der Vereinigten Staaten. Mit "Antiamerikanismus" hat er genauso wenig zu tun wie etwa die Behauptung, das Eintreten für den Gedanken der Ökumene sei gegen die katholische Kirche gerichtet.
  2. Dem Verfassungsschutz bleibt es vorbehalten, in der dem Friedensratschlag vorgeworfenen "Agitation gegen eine mögliche militärische Intervention der USA gegen den Irak" eine staatsgefährdende Haltung zu erblicken. Der Irakkrieg der USA und ihrer Kriegsallianz selbst entbehrte jeder verfassungsrechtlichen Grundlage. Er verstieß gegen das Gewaltverbot der UN-Charta und damit gegen das Völkerrecht, und er verstieß somit auch gegen das Friedensgebot des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland (Art. 26). Da nach Art.25 des Grundgesetzes Bestimmungen des Völkerrechts bindend sind für die deutsche Exekutive und Gesetzgebung, befinden sich die Kriegsgegner in voller Übereinstimmung mit Völkerrecht und Grundgesetz.
  3. Der Verfassungsschutz muss sich hingegen fragen lassen, ob er auf dem Boden dessen operiert, was er eigentlich schützen sollte: das Grundgesetz. Kriegsgegner allein deswegen der Verfassungsfeindlichkeit zu verdächtigen, weil sie die Vorbereitung und Durchführung eines völkerrechtlichen Angriffskrieges ablehnen und dagegen protestieren, ist ein besonders schwerer Fall politisch motivierter Rechtsverdrehung. Ist es möglich, dass die Bundesregierung selbst mit ihrer den Krieg ablehnenden Haltung ins Visier der "Verfassungsschützer" gerät oder schon geraten ist? In einem Brief an Bundeskanzler Schröder verlangt der Bundesausschuss Friedensratschlag Auskunft darüber. (Der Brief an den Kanzler befindet sich im Anhang.)
Der Bundesausschuss Friedensratschlag kann über die Machenschaften des Verfassungsschutzes nicht einfach hinwegsehen. Denn hier geht es um viel mehr als nur um die Verunglimpfung einer einzelnen Organisation (auch die wollen wir uns natürlich nicht gefallen lassen). Im Visier des "Verfassungsschutzes" ist die gesamte Friedens- und Antikriegsbewegung sowie die globalisierungskritische Bewegung (hierzu S. 157f), sind alle Stimmen, die sich kritisch mit der "präventiv"-kriegerischen Politik der Vereinigten Staaten auseinandersetzen, sind alle Meinungen, die in einem Angriffskrieg einen schweren Verstoß gegen das geltende Völkerrecht sehen.

Innenminister Schily kann nicht einmal mehr zugute gehalten werden, dass er sich zu wenig um seine Verfassungsschutzbehörde kümmere oder dass die Observierung des Friedensratschlags gewohnheitsmäßig einfach noch aus der Zeit der CDU-Regierung weitergeführt worden sei. Spätestens seit der NPD-Pleite hätte er auf seine Behörde ein schärferes Auge werfen können, und die Aufnahme des Friedensratschlags in den Verfassungsschutzbericht ist jüngeren Datums: Für die Kohl-Regierung kein Thema, taucht der Friedensratschlag erstmals im von Schily verantworteten Verfassungsschutzbericht 1999 auf!

Der Bundesausschuss Friedensratschlag fordert den Innenminister auf, die Observierung der Friedensbewegung durch den Verfassungsschutz sofort einzustellen. Etwaige frei werdende personelle Kapazitäten sollten besser auf fremdenfeindliche, rassistische und kriegsverherrlichende Bestrebungen "umgelenkt" werden. Hier ist großer Bedarf vorhanden. Übrigens besteht auch deshalb kein Anlass, den Friedensratschlag zu observieren, weil er alle seine Erklärungen, Broschüren, Memoranden und Buchveröffentlichungen an Regierungsstellen und Abgeordnete zur gefälligen Kenntnisnahme schickt und zu seinen Veranstaltungen nicht nur die Öffentlichkeit, sondern regelmäßig auch Bundespolitiker einlädt (und man stelle sich vor: sie kommen auch!)

Für den Bundesausschuss Friedensratschlag:
Peter Strutynski (Sprecher)
Kassel, den 26. Mai 2003

*****

Anhang: Brief an den Bundeskanzler

An den
Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland
Per e-mail

Sehr geehrter Herr Bundeskanzler,

mit Genugtuung konnten wir registrieren, dass Sie in Ihrem Bundestagswahlkampf 2002 Themen aufgenommen hatten, um die sich die Friedensbewegung in diesem Land schon seit längerem bemüht hatte. Der Vorwurf des Antiamerikanismus mit dem Sie in diesem Zusammenhang bedacht wurden ist uns als Teil der Friedensbewegung dabei nicht neu.

Ebenso fühlten wir uns durch Ihre ablehnende Haltung zur Frage des Irak-Krieges ohne UNO-Mandat, die wir ebenso vertreten, bestätigt. Zur Erinnerung hierzu ein paar Zitate von Ihnen und von Mitgliedern Ihres Kabinetts:
  • "Wir sind zu Solidarität bereit. Aber dieses Land wird unter meiner Führung für Abenteuer nicht zur Verfügung stehen." (Bundeskanzler Schröder bei einer Wahlkampfveranstaltung am 5. August in Hannover)
  • "Wenn die Gefahr besteht, dass unsere Soldaten (in Kuwait) in eine kriegerische Auseinandersetzung gegen den Irak verwickelt würden, wäre das durch den Bundestagsbeschluss nicht mehr gedeckt. Dann müssten sie abgezogen werden." (Verteidigungsminister Peter Struck am 29. August zur "Berliner Zeitung")
  • "Es bleibt dabei: Unter meiner Führung wird sich Deutschland an einer Intervention im Irak nicht beteiligen." (Bundeskanzler Schröder am 4. September in Berlin)
  • "Das kann niemand vorhersagen, da keiner weiß, wie und unter welchen Begleitumständen der Sicherheitsrat sich hiermit befassen wird. Fest steht, dass wir uns militärisch an einer Intervention nicht beteiligen." (Außenminister Fischer im "Spiegel" (30. Dezember) auf die Frage, ob Deutschland im UN-Sicherheitsrat gegen einen Irak-Krieg stimmen wird)
  • "Rechnet nicht damit, dass Deutschland einer den Krieg legitimierenden Resolution zustimmen wird. Rechnet nicht damit!" (Bundeskanzler Schröder am 21. Januar auf einer SPD-Kundgebung im niedersächsischen Goslar)
  • "Es gibt noch eine Alternative zum Krieg. Der Einsatz von Gewalt kann nur ein letztes Mittel darstellen." (Aus der gemeinsamen Erklärung von Deutschland, Russland und Frankreich zum Irak vom 10. Februar)
Als weitgehende Übereinstimmung haben wir es auch gewertet, dass Mitglieder des Deutschen Bundestages und auch Angehörige Ihrer Regierung an unserer Demonstration vom 15. Februar 2003 teilgenommen haben, auf der die selben Inhalte vertreten worden sind.

Mit Befremden mussten wir nun feststellen, dass eine Reihe von Positionen, die wir, der Bundesausschuss Friedensratschlag, und auch Sie in dieser Frage artikuliert haben, nun im letzten Bundesverfassungsschutzbericht (2002) als verdächtig denunziert werden. So heißt es etwa, wir seien Teil einer "in erster Linie antiamerikanischen und gegen das westliche Bündnis gerichteten ´Friedensbewegung`" (Verfassungsschutzbericht 2002, S. 134). Als Beleg hierfür dient dem Verfassungsschutz ein Zitat, in dem den USA unterstellt wird, in ihren Kriegsplanungen gegen den Irak "beabsichtigten (sie) weder einen ´Antiterror-Kampf` noch die Beseitigung von Massenvernichtungswaffen oder die Herstellung von Demokratie und Menschenrechten. Es gehe ihnen vielmehr um die Durchsetzung geostrategischer und wirtschaftlicher Interessen in einer der energiereichsten (Öl-)Regionen der Welt" (ebd. S. 135). Ist eine solche Meinungsäußerung - sie befand sich übrigens im zentralen Aufruf zur Demonstration vom 15. Februar - mit der Verfassung unseres Landes unvereinbar?

Wir können das nicht nachvollziehen. Heißt das nun, dass demnächst auch die Bundesregierung resp. der Bundeskanzler in einem der nächsten Berichte des Bundesamtes für Verfassungsschutz als eine zu beobachtende Organisation bzw. Person auftauchen wird?

Wir wären Ihnen diesbezüglich für einige klärende Ausführungen sehr verbunden.

Mit freundlichen Grüßen
Peter Strutynski
(Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag)
Kassel, den 25. Mai 2003


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