"Ein selbstverwalteter Raum für soziale Bewegungen"
Vom 21. bis 24.Juli findet in Erfurt das erste Sozialforum in Deutschland statt - Weg vom passiven politischen Konsum, hin zur prozesshaften Arbeitsweise
Von Angela Klein
Das 1.Sozialforum in Deutschland nimmt Gestalt an. Das Grundgerüst steht. Die Planungen gehen von 5000 Teilnehmenden aus, aber die Tagungskapazitäten (Räume und Übernachtungen) ermöglichen bis zu 10000 Beteiligte. Nun hängt alles davon ab, in den kommenden Wochen das Interesse an der Beteiligung, an der Veröffentlichung von Diskussionsangeboten und am Aufspüren von Diskussionspartnern zu wecken. Denn das Sozialforum will nicht nur ein Markt der Möglichkeiten sein – es will vor allem dazu dienen, die Zersplitterung der sozialen Bewegungen und der Linken zu überwinden und aus dem Nebeneinander ein Miteinander zu machen.
Die Örtlichkeit eignet sich bestens dazu. Die mittelgroße thüringische Landeshauptstadt mit der wunderschönen Altstadt bietet nicht nur Schulen, die Fachhochschule, die Zitadelle, den Domplatz und die Thüringenhalle an – sie bietet auch eine Vielzahl größerer und kleinerer öffentlicher Plätze, die sich bestens für künstlerische Darbietungen, Aktionsgruppen und alle Formen von Veranstaltungen eignen, welche den direkten Kontakt zur Bevölkerung suchen.
Für Übernachtungen stehen neben zahlreichen Pensionen und Hotels (Erfurt ist eine Touristenattraktion) ein großer Zeltplatz, Turnhallen und Privatunterkünfte zur Verfügung. Sollte es dennoch zu eng werden, kann man auch ins nahegelegene Weimar ausweichen, der Zug braucht keine 20 min. dorthin.
Erfurt wird am Wochenende vom 21.–24.Juli vom Sozialforum besetzt sein – es finden keine anderen Veranstaltungen parallel statt. So ist es mit der Stadtverwaltung vereinbart, die sich darauf eingestellt hat, das Sozialforum logistisch zu unterstützen. Der Oberbürgermeister ist von der CDU, er verspricht sich aber einen Imagegewinn für Erfurt und sicher auch einen Bonus bei den im Herbst anstehenden OB-Wahlen.
Die Struktur des Sozialforums ähnelt konzentrischen Kreisen. Der Kern gliedert sich entsprechend der Tradition des Europäischen oder Weltsozialforums in vier Themenbereiche, die versuchen, das Diskussionsangebot zu bündeln. Diese lauten:
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Arbeitswelt und Menschenwürde
- Globalisierung und die Rolle Deutschlands in der Welt
- Menschenrechte und politische Teilhabe
- Eine lebenswerte Welt – anders leben.
Diese Formulierungen ermöglichen, dass ähnliche Fragestellungen aus ganz unterschiedlichen Milieus und Sachbereichen heraus formuliert werden. Die Diskussion gemeinsamer Themen aus unterschiedlicher Perspektive soll damit verstärkt werden.
Zu den vier Themenbereichen können Arbeitsgruppen, Seminare und auch Großveranstaltungen angeboten werden. Getreu internationalem Vorbild werden Arbeitsgruppen dabei als (meist) kleinere Veranstaltungen definiert (um die 25 Personen), die (auch) von einzelnen Gruppen angeboten werden; Seminare als etwas größere Veranstaltungen (zwischen 80 und 200 Personen), die auf jeden Fall von mehreren Gruppen gemeinsam angeboten werden sollen.
In eigener Regie wird der Vorbereitungskreis des SF keine Großveranstaltung durchführen. Er hat allerdings die Initiative ergriffen, dass es zu jedem Themenschwerpunkt auf jeden Fall eine Großveranstaltung geben soll. Dazu haben sich Arbeitsgruppen gebildet. Den Stand der Vorbereitungen kann man auf der Webseite verfolgen; dort wird auch zur Mitarbeit eingeladen.
Die Veranstaltungen zu den vier Themenbereichen folgen einem Zeitschema von jeweils 2 Stunden in fünf über den Tag verteilten Blöcken (von 9h bis 21h). Kulturbeitäge sind in dieses Zeitschema integriert. Am Ende sollen die Diskussionen in einem Infopool zusammengeführt werden. Indymedia wird durch die Aufstellung einer eigenen Computerplattform dabei behilflich sein.
Eine gesondere Vernetzungsphase am Abend ermöglicht VeranstalterInnen und Teilnehmenden, ihre Wege zu kreuzen, Infos auszutauschen und gemeinsame Initiativen zu verabreden. In dieser Zeit soll auch die Versammlung der sozialen Bewegungen vorbereitet werden.
Das 1.Sozialforum in Deutschland folgt damit dem, was in Porto Alegre als "neue Methodologie des Sozialforums" entwickelt wurde: Weg von passivem Konsum und folgenlosem Ideenaustausch hin zu einer Arbeitsweise, die prozesshaft angelegt ist. Das Sozialforum will Anstöße geben, die über die Zusammenkunft in Erfurt hinausweisen. Denn das Sozialforum ist kein Selbstzweck: Es will den sozialen Bewegungen, die in Opposition zum Neoliberalismus stehen, einen selbstverwalteten Raum bieten, in dem sie gemeinsame Strategien diskutieren und Aktionsvorschäge entwickeln können. Es will sie zur Überwindung der Zersplitterung und zur Stärkung ihrer Handlungsfähigkeit ermuntern.
Neben dem Kern der vier Themenbereiche gibt es einen Kranz von selbst verwalteten Räumen, die eigene Abläufe haben. Angemeldet wurden bisher ein FrauenRaum und ein Sozialforum von unten.
Über die Stadt verstreut werden vielfältige Kulturveranstaltungen und aktionsbezogene Darbietungen stattfinden. Die OrganisatorInnen sind in Verhandlungen mit dem Kommunalen Kino und dessen Umwandlung in ein Sozialforumskino. Christliche Basisgemeinden bieten Gebete und Meditation an. Es wird einen Raum geben, in dem sich die bestehenden lokalen und regionalen Sozialforen koordinieren können. Und auch das Essen soll nicht allein unter dem Gesichtspunkt der Versorgung, sondern in seiner Bedeutung als Kulturträger und als gesundheitlicher und ökologischer Faktor thematisiert werden.
Hauptinstrument der Kommunikation wird in den nächsten Monaten das Internet sein. Alle Angebote für Veranstaltungen müssen auf die Webseite gestellt werden. Dort steht auch, wie das Anmeldeverfahren für Unterstützende, VeranstalterInnen und Teilnehmende funktioniert und wie sich das Sozialforum finanzieren will. Als Werbemittel steht ein Einladungsflyer im Netz abrufbar bereit. In einem Internet-Shop können weitere Werbemittel wie Taschen, Käppis, T-Shirts u.a. bestellt werden.
Es wird angeregt, dass der aus dem Verkauf erzielte Erlös für die Unterstützung der Fahrt- und Teilnahmekosten von Menschen mit extrem niedrigem Einkommen (ALGII-Beziehende oder MigrantInnen) verwendet wird. Die Finanzierung des Sozialforums geschieht, wie alles andere auch, aus der Tasche derer, die es aktiv unterstützen. Andere Finanzmittel gibt es nicht. Auch keine Mäzene, die uns großzügig finanzieren. Es stehen deshalb auch nicht von vornherein Finanztöpfe bereit. Manche empfinden das als Belastung. Es ist aber auch ein Stück Freiheit, weil es uns finanziell unabhängig macht. Da wir also für die Unterstützung von Menschen mit sehr geringem Einkommen gesonderte Mittel brauchen, müssen wir diese selber organisieren. Am einfachsten geht es vor Ort, wo die Strukturen bekannt sind, die Interessierten direkt angesprochen und auf zahlreichen Veranstaltungen Sammelaktionen durchgeführt werden können.
Es hat sich herumgesprochen, dass das Sozialforum keine Beschlüsse faßt. Alles, was hier verabredet wird, bindet ausschließlich die Gruppen und Personen, die diese Verabredungen tragen, nicht das Sozialforum als Ganzes. Der Drang, die Niederlage im Widerstand gegen die Hartz-Gesetze aufzuarbeiten, Strategien und Organisationsformen zu diskutieren und die Bewegung gegen den Neoliberalismus ein Stück voran zu bringen, ist jedoch groß. Deshalb wird es am Sonntag mittag eine Versammlung sozialer Bewegungen geben. Diese will vorbereitet sein. Dazu wird auf die Forumsseite der Homepage ein Diskussionsbeitrag eingestellt, der sich mit der Frage befasst: Wie weiter mit den sozialen Bewegungen in Deutschland? Auch diesen Beitrag verantworten nur diejenigen, die ihn unterzeichnen. Er soll aber zu Antworten und Erwiderungen reizen, damit bereits im Vorfeld eine Debatte aufkommt, wie es hierzulande nach der Durchsetzung der Agenda 2010 weiter gehen soll. Ergebnisse dieser Debatte sollen in eine Erklärung einfließen, die auf dem Sozialforum in der Vernetzungsphase diskutiert und auf der Versammlung der sozialen Bewegungen verabschiedet wird. Darüber hinaus sollen Vorschlägen für Aktionen und Kampagnen vorgetragen und über einen kommenden zentralen Aktionstag beraten werden.
Das Sozialforum beginnt am Donnerstag abend um 18 Uhr mit einer Eröffnungsveranstaltung. Hier stellt sich das Sozialforum dar – eingebettet in das WSF und ESF. Dazu gibt es Redebeiträge aus Brasilien, aus dem europäischen Ausland und vom Thüringer Sozialforum, welches die Einladung nach Erfurt ausgesprochen hat. Eine Begrüßung in den Sprachen, die von den in Deutschland lebenden Nationalitäten gesprochen werden, wird unterstreichen, warum wir von einem Sozialforum in Deutschland, nicht von einem deutschen Sozialforum reden. Die Veranstaltung soll den Charakter eines Open-Air-Festivals haben, auf dem die Kulturbeiträge überwiegen. Sie sollen die Vielfalt der hier ansässigen Kulturen widerspiegeln und verschiedene Generationen ansprechen.
Am Samstag nachmittag von 14.30h bis 16.30h versammeln wir uns zu einer Demonstration, zu der auch die Bevölkerung in Erfurt und in Thüringen eingeladen ist. Abends um 19h schließt sich ein großes Konzert an.
So baut sich das 1.Sozialforum in Deutschland allmählich auf. Als Forum gegen den Neoliberalismus will es alle gesellschaftlichen Gruppen ansprechen, die vom Großkapital angegriffen werden – also „sozial“ im umfassenden, nicht im eingeschränkten Wortsinn sein. Letzten Endes geht es darum, nach dem Scheitern des sog. real existierenden Sozialismus und dem Überlaufen der Sozialdemokratie ins Lager des Liberalismus ein neues, gesellschaftsveränderndes Subjekt zu schaffen. Dies ist ein langfristiges Projekt, in dem die sozialen Bewegungen Hauptakteure sein wollen.
Das Verhältnis zu den Parteien ist konfliktbeladen, da braucht man nicht drum herum zu reden. Weniger denn je fühlen sich soziale Bewegungen heute von Parteien vertreten, das gilt auch für die Parteien, die sich in Opposition zu den Parteien im Bundestag sehen. Das ist kein Grund, die Diskussion über das Verhältnis der sozialen Bewegungen zu den Parteien zu vermeiden. Es ist jedoch ein Grund, auch in Deutschland den Grundsatz der
Charta von Porto Alegre zu beherzigen, der da heißt: „Weder Repräsentanten von Parteien noch militärische Organisationen können am Forum teilnehmen.“ Konkret bedeutet das, dass Parteien auf den Sozialforum keine Veranstaltungen durchführen können – nur Jugendorganisationen, Stiftungen und Medien. Auf der Webseite wird eingeladen zu einer Arbeitsgruppe, die den Dialog der sozialen Bewegungen mit den Parteien vorbereitet.
Das Sozialforum in Deutschland sieht sich von Anfang an im Kontext des WSF und des ESF. Das Ausland signalisiert hohes Interesse an Erfurt, und wir wollen unsere Freundinnen und Freunde aus den Nachbarländern und von weiter her einladen, mit uns zusammen zu diskutieren. Denn eine der Grundüberzeugungen, auf denen das Sozialforum beruht, ist, dass wir unsere gesellschaftlichen Probleme nicht mehr im nationalstaatlichen Rahmen lösen können.
Quelle: Presseartikel in "contraste".
Auf der Website des Sozialforums 2005: http://sozialforum2005.de/meldungen/presse.2005/">http://sozialforum2005.de
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