"Und diese 'Truppe' soll in Afghanistan die Demokratie einführen?"
Rostocker Friedensbündnis protestierte mit einer Mahnwache / Friedensratschlag kommentiert das Abtimmungsergebnis im Bundestag
Am 28. Januar debattierte der Bundestag über die Verlängerung des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan. Am Ende der Debatte wurde abgestimmt (das Ergebnis der namentlichen Abstimmung können Sie hier ansehen: pdf-Datei.
Im Vorfeld und am Tag der Abstimmung gab es zahlreiche Aktionen der Friedensbewegung, so auch in Rostock. Den dortigen Aufruf dokumentieren wir im Folgenden.
Dem schließt sich eine Presseerklärung des "Friedensratschlags" an, die unmittelbar nach der Abstimmung veröffentlicht wurde.
28. Januar 2011
Heute soll im Deutschen Bundestag über die erneute Verlängerung des Afghanistanmandats der Bundeswehr abgestimmt werden.
Heute halten wir von 8 bis 9 Uhr Mahnwache auf dem Rostocker Universitätsplatz.
Die diesjährige Verlängerung des Afghanistanmandats der Bundeswehr ist nicht nur einfach die nächste Verlängerung der Kriegsbeteiligung der Bundesrepublik Deutschland in Afghanistan, obwohl auch das schon skandalös genug wäre. Der Einsatz soll auch ausgeweitet werden. Statt jetzt 4800 in Afghanistan stationierter Bundeswehrsoldaten soll die Maximalzahl von 5350 ausgeschöpft werden. Während die Soldaten neben einzelnen Einsätzen zur „Aufstandsbekämpfung“ weitgehend kaserniert im Norden verbleiben und sich dort auch kaum noch ohne Schutz aus den Camps wagen können, ist die deutsche Freiheit über den Wolken grenzenlos: Deutsche Tornado-Flugzeuge sollen im gesamten ISAF-Gebiet operieren. 700 Angehörige der Bundesluftwaffe stehen in Afghanistan dafür bereit. Diskutiert wird auch schon über deutsche Awacs-Flugzeuge in Afghanistan. Ein Mandat für sie dürfte im Frühjahr 2011 vom Bundestag verlangt werden.
Vom angekündigten Abzug der Bundeswehr Ende 2011 wird immer seltener gesprochen. Laut dem „Fortschrittsbericht“ der Bundesregierung über Afghanistan bleibt das Land „eine langfristige Aufgabe“. Wie sie gelöst werden soll, wird militärisch bestimmt. Selbst nach einem Abzug sollen Polizeikräfte im Land verbleiben. Schon jetzt sollen über 800 deutsche „Entwicklungshelfer“ zusätzlich ins Land kommen und die zivil-militärische Zusammenarbeit stärken. Ob die Afghanen sich dann weniger besetzt fühlen werden, ist die Frage.
Vierundvierzig Bundeswehrsoldaten sind bereits in Afghanistan umgekommen. Drei Polizeibeamte sind tot. 2010 war das Jahr mit den meisten ISAF-Toten, 2011 dürfte ihm in nichts nachstehen. Niemand zählt die afghanischen Opfer, Militärs wie Zivilisten. Für nicht wenige von ihnen ist auch die Bundeswehr verantwortlich. Das Massaker von Kundus im September 2009, wo über hundert Menschen bei einem Luftangriff starben, befahl ein deutscher Offizier.
Die Befürworter des Afghanistaneinsatzes sagen, Deutschlands Sicherheit werde am Hindukusch verteidigt. Deutschlands Sicherheit? Wohl kaum. Wenn man Hass und Vergeltungswillen in einem fremden Land fördern will, tut man das am besten durch einen Militäreinsatz. Die Sicherheit für die Afghanen selbst kann auch nicht gemeint sein – die Lage ist so schlecht wie nie zuvor und die Besetzung sorgt dafür, dass sie so bleibt. Von der sozialen Lage ganz abgesehen: Einfachste Dinge wie der Zugang zu sauberem Trinkwasser sind nach wie vor für die wenigsten gewährleistet. Die Justiz ist korrupt. Wahlen werden gefälscht. Der Drogenanbau blüht - was soll er auch sonst tun, er ist ja fast der einzige eigene Produktionszweig. Darüber hinaus ist Afghanistan mit seinem zwangsweise geöffneten Markt ein Paradies für den Absatz ausländischer Waren und wäre es wohl auch für ausländische Investoren, wäre da nicht das Sicherheitsproblem. Wenn man das weiß, wird schon klarer, wessen Sicherheit am Hindukusch verteidigt wird!
70 Prozent der bundesdeutschen Bevölkerung sind gegen den Afghanistaneinsatz. Er ist unpopulär. Um das zu ändern, wurde eine Talkshow mit Minister am Ort des Geschehens veranstaltet, werben Filme und Fernsehsendungen um Verständnis für Traumatisierte und bemühen sich Bundeswehr-Werbetrucks und Jugendoffiziere in den Schulen, kritische Fragen der nachkommenden Generation gleich im Keim zu ersticken. Krieg soll etwas Normales werden und die Bevölkerung soll Einschränkungen ihrer Rechte klaglos hinnehmen, damit er weitergeführt werden kann. Auf diesem Hintergrund läuft jede Verlängerungsdiskussion ab. Die jetzige Abstimmung über die Verlängerung des Mandats findet aber außerdem in einer Zeit statt, in der immer mehr deutlich wird, welche Zustände in der Bundeswehr herrschen. In Afghanistan gibt es einen ungeklärten Todesfall im Camp, Feldpost wurde geöffnet, das Ausbildungsschiff der Marine wurde aus dem Verkehr gezogen. Die Moral der Armee kommt in einem Krieg, der schon länger dauert als der zweite Weltkrieg, immer mehr an ihre Grenzen. Und diese „Truppe“ soll in Afghanistan die Demokratie einführen?
Die Afghanen können das selbst. Wir kennen sie nur nicht. Es gibt junge Menschen, die einen Weg zum Frieden suchen. Mit einigen von ihnen konnten wir vom Rostocker Friedensbündnis vor kurzem sprechen. Es gibt kritische afghanische Abgeordnete. Es gibt Frauenorganisationen, die viel mehr vorhaben, als eine neue Kleiderordnung für Frauen durchzusetzen. Die Bewegung zum Sturz des Diktators in Tunesien hat gezeigt, dass auch in Ländern des islamischen Kulturkreises soziale, nicht ethnische und religiöse, Fragen entscheidend für die gesellschaftliche Entwicklung sind und dass die Bevölkerung jedes Landes demokratiefähig ist. Es gibt auch viele, die ein anderes Afghanistan aufbauen könnten. Aber unter den Bedingungen von Krieg und Besatzung haben sie keine Chance.
Heute um 9 Uhr beginnt im Bundestag die Debatte über die Verlängerung des Afghanistanmandats der Bundeswehr.
Wir fordern:-
Keine Stimme für die Verlängerung des Mandats der Bundeswehr in Afghanistan!
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Bundeswehr raus aus Afghanistan!
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Chancen für eine selbstbestimmte gesellschaftliche Entwicklung in Afghanistan!
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Frieden für Afghanistan!
Friedensbewegung zur Verlängerung des Afghanistan-Einsatzes
Pressemitteilung des Bundesausschusses Friedensratschlag
Berlin/Kassel, 28. Januar 2011 - Zur Entscheidung des Bundestags, das Mandat für den Bundeswehreinsatz in Afghanistan zu verlängern, erklärte der Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag:
Es ist nur schwer auszuhalten, dass der Deutsche Bundestag abermals mit über 70 Prozent der Abgeordneten einem Kriegseinsatz zustimmt, der von 70 Prozent der Bevölkerung abgelehnt wird. Angesichts dieser neuerlichen eklatanten Missachtung des Wähler- und Bürgerwillens darf man sich nicht wundern, wenn sich immer größere Teile der Bevölkerung von ihren "Vertreter/innen" nicht mehr vertreten fühlen. Hier liegen die Ursachen nicht nur für den viel beschworenen "Wutbürger", sondern auch für die zunehmende Politikerverdrossenheit der Menschen.
Es ist auch schwer auszuhalten, dass die Abgeordneten, die ja über die besten Informationsmöglichkeiten verfügen, sich weiterhin hinter realitätsfernen Durchhalteparolen verschanzen und der Krieg führenden Regierung und der NATO alles glauben, was diese über den "Fortschritt" des Krieges faseln. Wissenschaftliche Expertise - auch und gerade US-amerikanischer Think Tanks - wird nicht zur Kenntnis genommen.
Schwer auszuhalten ist schließlich, dass die Bundeswehr weiterhin in einen Krieg geschickt wird, der durch nichts legitimiert ist und der kein einziges positives Ergebnis zeitigen wird. Garantiert werden kann nur eine weitere Eskalation des Krieges mit all seinen Schrecken und Gefahren - insbesondere für die afghanische Zivilbevölkerung.
Die Friedensbewegung sieht sich in ihrer Skepsis gegenüber der "Weisheit" der Volksvertreter leider bestätigt. Sie wird aber umso intensiver den Kampf für die Beendigung des Krieges fortsetzen. Die besseren Argumente hat sie allemal.
Für den Bundesausschuss Friedensratschlag:
Peter Strutynski (Sprecher)
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