Rolf Wischnath*: "Erst durch eine 'Anti-Armutskoalition' kann dem Terrorismus wirksam der Nährboden entzogen werden"
Rede bei der Kundgebung der Friedensbewegung am 21. Mai 2002 in Berlin
* Dr. Rolf Wischnath (Cottbus) ist Generalsuperintendent der
Evangelischen Kirche von Berlin-Brandenburg
Wir haben es nicht vergessen: Anlass für die heute so zugespitzte
Weltsituation ist das Verbrechen vor acht Monaten und zehn Tagen, ist
der Massenmord an dreitausend Mitmenschen in New York und Washington.
Für diese Tat gibt es keine Rechtfertigung. Sie verdient nichts anderes
als gerechte Strafe. Die Täter waren ebenso wahnsinnige wie kaltblütige
Terroristen. Teilweise haben sie sich unter dem Deckmantel studierender
Unauffälligkeit in Deutschland vorbereitet. So hat der 11. September
2001 auch unsere eigene Gefährdung und Verletzlichkeit erneut deutlich
gemacht. Er hat zudem dramatisch gezeigt, wozu Fanatismus und Hass
Menschen verleiten können, wozu auch religiöser Fundamentalismus
missbraucht werden kann.
Heute demonstrieren wir hier auf dem Alexanderplatz für Frieden,
Gerechtigkeit und Gewaltlosigkeit. Wir tun das auch im Gedenken an die
Opfer des 11. September. Dieses Gedenken darf nicht abstrakt bleiben:
Unvergesslich ist mir das Bild eines Mannes, der hilflos nach einem
geliebten Menschen suchend in das Flammenmeer rennt, um einen anderen
vor dem Fall in den Tod zu retten. Der Versuch, sich diese hilflose
Angst dreitausendmal vorzustellen, übersteigt alle Kräfte. Und doch
sollen die Opfer unvergessen bleiben.
Der 11. September 2001 ist dennoch keine Zeitenwende. Angesichts der
unzähligen Toten der Kriege und Bürgerkriege unserer Zeit, in Kenntnis
des für europäische Ohren kaum noch hörbaren Leidens der Hun-gernden in
der sog. "Dritten Welt" ist die Behauptung falsch, dass sich seitdem die
Weltsituation von Grund auf verändert habe. Allein fünfzehntausend
Kinder sterben täglich an elementarer Armut, sagt die UNO, vorsichtig
geschätzt. Das war vor dem 11. September so. Und das ist danach so
geblieben. Es geschieht auch heute und morgen. Die Verzweiflung der
Eltern dieser Kinder aber ist nicht geringer als die der Angehörigen der
Opfer von Manhattan: fünfzehntausendmal an jedem Tag. Zwar waren die
Terroristen selbst keine armen Leute, aber die Wurzeln des Terrorismus
liegen in einem Hass, der aus der Ungerechtigkeit, aus der ständigen
Demütigung und Verzweiflung der Armen wächst, weltweit.
Darum ist unser Protest gegen noch mehr Terror und Vergeltung, gegen
Gewalt und Krieg verbunden mit dem Eingeständnis eigener deutscher und
europäischer Versäumnisse und Schuld. Es muss uns bewusst sein:
Auch wir nehmen durch unsere Vorherrschaft über die Ressourcen der Welt
Privilegien in Anspruch, die Unfrieden und Ungerechtigkeit in der Welt
festschreiben. Es wird sich in dieser Welt von Gewalt und Krieg nichts
entscheidendes ändern, wenn dies nicht geändert wird.
Ich bin eingeladen worden, heute Nachmittag als Christ zu Ihnen zu
sprechen. Christen aber sind nicht die selbstverständlich besseren
Menschen. Sie sind diejenigen, die an Jesus von Nazareth glauben: an den
Menschen Gottes, der selber unter allen Umständen den Weg der
Gewaltlosigkeit vorausgegangen ist. Von ihm aus ergibt sich unsere
"uneingeschränkte Solidarität" - und zwar mit den Armen der Welt mit dem
Ziel einer gerechteren Verteilung der Güter. Darauf haben alle ein
Recht: ein Menschenrecht, ein Gottesrecht. Und deswegen gilt: Erst durch
eine "Anti-Armutskoalition" kann dem Terrorismus wirksam der Nährboden
entzogen werden. Erst durch eine "Achse der Gerechtigkeit" kommt die
"Achse des Bösen" ins Trudeln. Erst wenn die Spirale von Gewalt und
Gegengewalt, von Terrorismus und Vergeltung unterbrochen wird, kommt es
zum Frieden.
Wie kann es dazu nachhaltig kommen? Traut man dem Beispiel und der
Verheißung Jesu, gelingt das nur auf dem Weg der Gewaltlosigkeit. Die
aus seinem Geist gewonnene Weisung der Bibel gilt auch angesichts des
Terrorismus. Sie lautet schlicht - in den Worten des Römerbriefs im
Neuen Testaments: "Lass dich nicht vom Bösen besiegen, sondern besiege
das Böse durch das Gute!" (Römerbrief 12, 21)
Diesem Maßstab und dieser Handlungsmaxime kann der "Krieg gegen den
Terror", den die USA mit Verbündeten führen, keineswegs entsprechen.
Schon die Kriegsrhetorik ("Kampf zwischen Gut und Böse", "Achse des
Bösen" oder "Kreuzzug") ist ein Signal für die Problematik dieser
militärischen Kampfeinsätze. Erst recht bekunden Tausende von getöteten
Zivilisten in Afghanistan, die nach amerikanischen Angaben die Zahl der
Opfer vom 11. September überschritten haben, die Unverantwortlichkeit
dieses Krieges.
Das haben von Anfang an auch viele Amerikaner so gesehen. Mit denen sind
wir verbunden. Zum Beispiel hat die amerikanische Partnerkirche der
Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg, die United Church of Christ
im Blick auf diese Militärpolitik ihrer Regierung erklärt:
"Wir bekennen als Christinnen und Christen, dass Gewalt mit neuer
Gewalt beantwortet wurde, dass wir vom Weg des Kreuzes zum Weg des
Schwertes abgewichen sind, dass Gottes Ziele damit wieder einmal
verneint werden, dass die Vision eines gerechten Friedens unfassbar
erscheint in einer Welt, die sich von militärischer Macht faszinieren
lässt."
Und dann heißt es in dieser Erklärung:
"Obwohl wir anerkennen, dass Gesetze eingehalten werden müssen,
empfinden wir dennoch schwere Vorbehalte gegen eine gewaltige
militärische Antwort auf den Terrorismus durch unsere Regierung und ihre
Verbündeten."
Nichts anderes als diese schweren Vorbehalte ("grave reservations")
bekräftigt die heutige Demonstration. Wir sind darin einig mit
unzähligen Amerikanern, deren Stimmen hierzulande allerdings selten eine
mediale Verstärkung erfahren. Wir wissen uns vereinigt mit der
amerikanischen Friedensbewegung und sagen mit diesen amerikanischen
Verbündeten:
Auch wenn Terrorismus die Grundlagen menschlichen Zusammenlebens
zerstört, ist ein solcher Krieg - wie er in Afghanistan geführt und
womöglich gegen den Irak und Somalia vorbereitet wird - ein untaugliches
Mittel zu seiner Bekämpfung. Dieser Krieg darf auch nicht verwechselt
und vermischt werden mit dem befriedenden Einsatz von Soldaten der
UN-Friedenstruppen. Mit der Ankündigung weiterer Kriegs- und
Kampfeinsätze allerdings werden alle nachhaltigen Bemühungen um zivile
Konfliktlösungen erschwert. Wir protestieren dagegen. Und wir warnen
inständig davor, die Überwindung des Terrorismus mit friedlichen Mitteln
durch neue Kriege zu belasten und letztlich unmöglich zu machen.
Unsere Demonstration heute ist ein legales und legitimes Mittel mündiger
Demokraten. Sie ist nicht gegen die Amerikaner gerichtet, sondern gegen
eine Politik, die wir für verhängnisvoll halten und die wir nicht
mittragen wollen.
Unser Protest bleibt gewaltfrei. Das war von Seiten der Christen bei
Demonstrationen auf dem Alexanderplatz auch vor der Wende so -
wenngleich die Kirchengeschichte zu anderen Zeiten schwere
Gewaltirrtümer einzugestehen hat. Aber auch andere, die heute hier
demonstrieren, haben ihr Verhältnis zur Gewalt ändern müssen.
Bekehrungen sind also möglich. Es ist jedenfalls ermutigend, dass wir
nunmehr gemeinsam der Gewaltlosigkeit verpflichtet sind.
Wer dieses Prinzip in diesen Tagen des Besuches von Präsident Bush
missachtet, missbraucht die Friedensbewegung. Wer den Präsidenten
persönlich angreift und nicht zu unterscheiden weiß zwischen Person und
Politik, vergeht sich am Grundartikel der Menschenwürde. Die Mittel, mit
denen wir demonstrieren, dürfen nicht im Widerspruch stehen zu unserem
gemeinsamen Ziel. Damit stellen wir uns auch in die Tradition des
gewaltlosen Widerstandes amerikanischer Pazifisten, für die wie ein
heller Stern der Name von Martin Luther King steht. Seine Hoffnung
lassen auch wir uns nicht ausreden: "We shall overcome!" Wir werden
Unrecht und Gewalt überwinden.
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