Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

EU-Militarisierung

Neutralität und Demokratie in Gefahr

Am 10. Februar 2000 erklärte Romano Prodi, Präsident der Europäischen Kommission, vor einer lettischen Zuhörerschaft, dass "jeder Angriff oder jede Agression gegen ein EU-Mitglied gleichbedeutend sei mit einem Angriff oder einer Aggression gegen die gesamte EU; das ist die stärkste Sicherheitsgarantie". Dieses sensationelle Statement eines hohen Politikers wurde von keiner Regierung, keinem Politiker und auch nicht in den Medien kommentiert. Es kann also daraus geschlossen werden, dass Prodis Erklärung mit der EU-Politik übereinstimme.
Wenn das so ist, dann markiert dieses Statement eine gehörige Veränderung der EU: von einer sozial-ökonomischen Vereinigung in eine militärische Verteidigungsallianz. Eine solche Entwicklung riskiert einen neuerlichen Kalten Krieg in Europa, erklärte dazu Jan Öberg, Direktor des schwedischen TFF-Teams zur Konfliktbearbeitung auf dem Balkan und in Georgien. (Übersetzung aus dem Englischen: PS)


Im Einzelnen führt Jan Öberg aus:

Der Präsident der Europäischen Kommisssion, Romano Prodi, überraschte sein lettisches Publikum am 10. Februar, als er erklärte, "jeder Angriff oder jede Aggression gegen ein EU-Mitgliedsland stellt einen Angriff oder eine Aggression gegen die gesamte EU dar; das ist die höchste Form der Sicherheitsgarantie." Wenn das so ist, dann bedeutet dieses Statement eine gehörige Veränderung in der EU-Politik von einem rein ökonomischen in ein Sicherheitsbündnis - eine Veränderung, die Russland sich nicht leisten kann zu ignorieren. Jetzt wird sich Russland von der EU genauso bedroht fühlen wie von der NATO-Expansion. Die Tatsache, dass die Erklärung vom Präsidenten der Europäischen Kommission kam - immerhin die höchste nicht-rotierende Position in den EU-Machtstrukturen - deutet darauf hin, dass die Absicht, Sicherheitsgarantien zu schaffen, mehr ist als ein Versuchsballon, nämlich neue EU-Politik.

Wenn die EU Prodis Pläne annimmt, würde es für Russland ein Alptraum-Szenario heraufbeschwören. Eine "Soft-Power"-EU und eine "Hard-Power"-NATO würden formale Partner bei der Expansion des Westens werden. Traditionell neutrale Staaten wie Österreich, Finnland, Irland und Schweden würden in eine NATO-EU-Militärstruktur eingebunden.Eine ökonomisch mächtige EU, unterstützt von einer militärisch mächtigen NATO, würden sich entlang der ausgedehnten Westgrenzen Russlands eingraben. Russlands bisherige Zustimmung zur EU-Expansion wird ein jähes Ende haben und das wenige, das von der "Freundschaft" Russlands mit dem Westen noch vorhanden ist, wird vollständig verloren gehen.

Neutralität und Demokratie

Die EU tritt in eine Phase der Militarisierung ein. Diese Entwicklung wird Folgen haben für jene Mitgliedstaaten, die eine Politik der Neutralität, des Friedens, der Globalität und der Demokratie verfolgen. Wegen ihrer Größe, ihrer Komplexität und der Informationsgeschwindigkeit werden Transparenz, Dialog und Verantwortlichkeit in westlichen Demokratien eingeschränkt. Eine öffentliche Debatte über die Grundsätze der Sicherheitspolitik findet kaum noch statt und steht in gar keinem Verhältnis zu den gewaltigen Implikationen für die zukünftige Sicherheit in Europa.

Regierungsprojekte und die von Staatsmännern inszenierte "Pflicht zur Übernahme von Verantwortung für die europäische Demokratie" (Frieden, Menschenrechte, Werte usw.) werden zunehmend als unpopulär oder anti-populär wahrgenommen. Ein einschlägiger Fall ist das alltägliche Gefühl der Bürger betrogen zu werden, und zwar in dem Sinn von "Die da oben kümmern sich nicht um uns". Das ist der Stoff, aus dem politische Apathie und Parteien der Unzufriedenen ŕ la Haiders FPÖ gemacht sind: die bemerkenswerte Verachtung, welche die Spitzenpolitiker den Bürgern schenken, von denen sie gewählt wurden, verbunden mit ihrem Unvermögen, den Bürgern im Zeitalter unkontrollierbarer Globalisierung Sicherheit zu gewähren.

Neutrale Staaten könnten einen wichtigen Beitrag zum Aufbau eines pluralistischen Europa leisten. Dieser Beitrag käme aus einer unabhängigen globalen Perspektive, die auf gemeinsamer Sicherheit, auf Menschlichkeit und auf der zentralen Rolle der Vereinten Nationen in einem normativen, sicherheitstiftenden Prozess beruht. Stattdessen werden sie in die Strukturen einer NATO-EU-Militärallianz eingebunden, wie es im Statement von Prodi hervorgehoben wurde. Schweden, früher einmal ein besonderes Mitglied der Vereinten Nationen, ist heute der ergebene Akteur, der hinter den EU-Mächten und den Vereinigten Staaten hinterher zockelt.

Schrittweise Militarisierung

Niemals hat der Präsident der Europäischen Kommission ein Mandat erhalten, den Mitgliedern und Kandidaten der EU Sicherheitsgarantien zu geben. Im Gegenteil, den Europäern wurde andauernd erzählt, dass die laufende Militarisierung nichts Außergewöhnliches sei. Es wird behauptet, es sei ein "natürlicher Prozess" zur Verbesserung demokratischer Friedenssicherung in Europa. Womit wir es zu tun haben, sind Schritt-für-Schritt-Entscheidungen in eine Richtung, nämlich:
  1. Unterordnung der Westeuropäischen Union (WEU) unter die EU; immer engere militär-industrielle Integration; die Entscheidung für den Aufbau einer neuen EU-Interventionsstreitmacht von 60.000 Soldaten bis zum Jahr 2003; die Einrichtung einer Reihe militärischer Kommandobehörden: ein Ausschuss für Sicherheitspolitik, ein besonderer Militärausschuss und ein beratender Militärausschuss; Schritt für Schritt kommt die Koordination zwischen NATO und EU voran;
  2. Der frühere NATO-Generalsekretär Javier Solana wurde für seine Taten während der Kosovo-Krise nicht nur mit dem Titel eines Generalsekretärs des EU-Ministerrats und des Hohen Repräsentanten der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspoliti (GASP) belohnt, sondern auch mit der Stellung eines Generalsekretärs der WEU.
  3. Wir erleben eine weitreichende und verhängnisvolle Expansion der NATO und nun einen EU-Präsidenten, der Formulierungen des NATO-Vertrags benutzt, um die EU in ein Militärbündnis zu verwandeln.
  4. Sehen wir uns nur die jüngsten Erklärungen führender Minister, Generäle und Repräsentanten von EU und NATO an. Sie sprechen übereinstimmend davon, "dass wir aus Kosovo gelernt haben", dass wir größere militärische Kapazitäten und mehr Schlagkraft brauchen. NATO-Generalsekretär Lord Robertson erklärt der Welt, dass "die Zeit der Friedensdividende vorbei ist, denn es gibt keinen dauerhaften Frieden - weder in Europa noch sonstwo. Wenn die NATO ihren Job, künftige Generationen zu schützen, ordentlich wahrnehmen will, können wir nicht länger erwarten, Sicherheit zum Nulltarif zu bekommen."
  5. Demgegenüber gibt es nur sehr wenige Anstrengungen, Kapazitäten für friedliche Konfliktbearbeitung und Gewaltprävention aufzubauen.


Demokratien sind keine Einbahnstraßen

Doch das ist, so weit ich sehe, im Allgemeinen nicht im politischen Willen der Europäer verankert. Wahre Demokratie kann nur verteidigt werden durch eine lebendige Debatte über die Zivilgesellschaft - und nicht von Eliten, die Waffen anhäufen.

Der Aufbau einer Weltmacht nach dem Muster von Zentrum-Peripherie-Strukturen ist eine Spezialität der Weltsicht und Politik der großen europäischen Kolonialmächte. Für jemanden, der dreißig Jahre lang Augenzeuge der Entwicklung des "Europäischen Projekts" war, kann es keine Illusion darüber geben, dass die gegenwärtige Europäische Union das ist, was TFF-Berater Johan Galtung 1972 eine "Supermacht im Werden" genannt hat.

Kosovo ist das moderne Schlagwort für den ein Jahrzehnt dauernden vergeblichen Versuch der EU, die Fähigkeit zu einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik zu entwickeln. Wenn intellektuelle Analyse und politische Grundsätze schwinden, wird die Katastrophe zum Rezept. Es ist Zeit aufzuwachen und zu sehen, dass die Herrscher der "Friedfertigen" EU keineswegs nackt sind, sondern Uniform tragen. - Wird Schweden dem weiterhin zustimmen?

Der Autor, Dr. Jan Öberg, ist Direktor der Transnationalen Stiftung für Friedens- und Zukunftsforschung (TFF) in Lund (Schweden).

Anmerkung des Übersetzers:
Mitte Februar 2000 haben die Außenminister der EU den Weg frei gemacht für die Einrichtung eines "Ausschusses für Politik und Sicherheit", eines "Militärausschusses" und eines "Militärstabs". Ende Februar/Anfang März 2000 treffen sich die EU-Verteidigungsminister zu einem Minister-Ratschlag in Sintra (Portugal). Ein wichtiger Verhandlungspunkt ist die personelle Besetzung der o.g. Ausschüsse. Darüber hinaus geht es darum, das Einsatzgebiet für die künftige europäische Eingreiftruppe geografisch zu definieren und die Anforderungen für Bewaffung und Ausrüstung zu präzisieren. Insbesondere werden neue "Aufklärungsfähigkeiten" benötigt. Das wird die EU-Staaten viel zusätzliches Geld kosten.

Weitere Beiträge zu Europa

Europa

Zur Seite "Aktuelles"

Zurück zur Homepage