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Hermann Scheer ist tot

Der "Solarpapst", "Hero of the Green Century", Träger des Alternativen Nobelpreises und Vater des Hunderttausend-Dächer-Programms starb überraschend im Alter von 66 Jahren. Zwei Nachrufe


Der SPD-Umweltpolitiker Hermann Scheer ist tot. Der Träger des Alternativen Nobelpreises starb am 14. Oktober 2010 im Alter von 66 Jahren.
Das Engagement des 1944 im hessischen Wehrheim geborenen Scheer gehörte den regenerativen Energien. Er war Präsident der europäischen Vereinigung für Erneuerbare Energien EUROSOLAR und Vorsitzender des Weltrats für Erneuerbare Energien. 1998 erhielt er den Weltsolarpreis und ein Jahr später den Alternativen Nobelpreis für seine Arbeit für die Förderung der Solarenergie. Das "Time Magazine" ernannte Scheer zum "Hero for the Green Century" ("Held des grünen Jahrhunderts").
Scheer gilt als Vater des Erneuerbare-Energien-Gesetzes von 2000, das er nach Aussagen seines Parteifreundes Ernst Ulrich von Weizsäcker gegen heftigen Widerstand durch den Bundestag gebracht hat. Damit wurde die Produktion alternativer Energien entscheidend gefördert.


"Wir haben nicht mehr viel Zeit"

Zum Tode von Hermann Scheer – im Alter von 66 Jahren ist der Sozialdemokrat überraschend verstorben

Von Hans-Gerd Öfinger *


Mit dem überraschenden Tod des Bundestagsabgeordneten Hermann Scheer im Alter von erst 66 Jahren verlieren Sozialdemokratie und Umweltbewegung eine bedeutende Persönlichkeit. Scheer war Träger des Alternativen Nobelpreises und Verfasser zahlreicher Publikationen. Der entschiedene Kriegsgegner galt wegen seines jahrzehntelangen Einsatzes für eine Wende hin zu erneuerbaren Energien auch als »Solarpapst«. Im ND publizierte er engagierte Beiträge.

Als Student in Heidelberg wurde der 1944 geborene Scheer maßgeblich von der Protestbewegung der 68er geprägt. Ein Teil dieser Bewegung begann den »Marsch durch die Institutionen« und initiierte im SPD-Jugendverband 1969 die legendäre »Linkswende«.

Scheer wurde in den 70er Jahren bald Juso-Landesvorsitzender in Baden-Württemberg und Mitglied im Juso-Bundesvorstand. Dort traf er andere seiner Generation wie Ottmar Schreiner und Gerhard Schröder. Alle drei machten die alte Juso-Parole »Wir sind die SPD der 80er Jahre« wahr und wurden 1980 erstmals in den Bundestag gewählt.

Kritiker des Kosovo-Krieges

Dann spielten sie aber höchst unterschiedliche Rollen. Während Schröder eine klassische »Diagonalkarriere« von links unten nach rechts oben hinlegte und sich der Sozialpolitiker Schreiner zu einem der schärfsten Kritiker von Schröders Agenda 2010 entwickelte, konzentrierte sich Querdenker Scheer auf die Themen Abrüstung, Rüstungskontrolle und Energiepolitik. 1999 wollte der inzwischen zum Kanzler und Parteivorsitzenden avancierte Gerhard Schröder ihn aus der SPD ausschließen, weil er den Kosovo-Krieg als Kriegsverbrechen bezeichnet hatte.

Als Verfechter einer grundlegenden Abkehr von atomarer und fossiler Energieerzeugung begriff Scheer den Zusammenhang zwischen der Jagd nach diesen Energieträgern und den Kriegen um den Zugang zu den Energiequellen. Folgerichtig war er Mitbegründer und Präsident von Eurosolar, einer gemeinnützigen Vereinigung für erneuerbare Energien. Dieses unermüdliche Engagement brachte ihm neben dem Alternativen Nobelpreis zahlreiche Auszeichnungen ein. Er trat bei Fachkongressen in aller Welt als Redner auf und gilt als Vordenker des 100 000- Dächer-Programms zur Förderung dezentraler Solarstromanlagen.

Als Bundestagsabgeordneter wurde Scheer stets auf einem sicheren Listenplatz der SPD in Baden-Württemberg wiedergewählt. Von 1993 bis 2009 gehörte er dem SPD-Parteivorstand an. Beobachter sagten ihm eine gewisse Unabhängigkeit in diesen Gremien nach. Im Gegensatz zu anderen Parlamentsveteranen schien er keine Ambitionen auf höhere Staatsämter zu hegen, bis ihn 2007 die damalige Vorsitzende der hessischen SPD, Andrea Ypsilanti, in ihr Kompetenzteam berief. Scheer entwarf ehrgeizige Konzepte zur Realisierung der Energiewende durch dezentrale Anlagen auf der Kommunalebene. Nicht zuletzt dieser »frische Wind« brachte der hessischen SPD und ihrer Spitzenkandidatin Ypsilanti volle Säle und motivierte die Parteibasis zu einer rasanten Aufholjagd vor der Landtagswahl Anfang 2008, bei der die Partei entgegen dem Bundestrend acht Prozent zulegte und beinahe die CDU auf Platz zwei verwiesen hätte.

Unperson für die Wirtschaftslobby

Als Ypsilanti endlich das Amt der Ministerpräsidentin in einer von der LINKEN tolerierten rot-grünen Minderheitsregierung anstrebte, sollte Scheer Wirtschaftsminister werden. Doch die hessische Wirtschafts- und Finanzwelt, Energielobbyisten und der Flughafenbetreiber Fraport wollten in dieser Position keinen Querdenker wie Scheer, der für sie als Unperson galt. Einer, der es kurz zuvor gewagt hatte, in dem Dokumentarfilm »Let's make money« Privatisierung als »Beraubung der Gemeinschaft« zu bezeichnen, durfte aus Sicht der Eliten unmöglich Wirtschaftsminister am Bankenplatz Frankfurt werden. »Die Medien wählen heute das Spitzenpersonal aus. Sie zeigen den Daumen nach oben oder nach unten«, hatte Scheer in dem Film festgestellt. Es gehe um »Mediengefälligkeit, Rampenlichtsuche und Ehrgeiz«, aber immer weniger um seriöse Politikentwürfe. Vier Dissidenten in der SPD bremsten im Sinne der Wirtschaftskreise und der Flughafenlobby im November 2008 das hessische Experiment jäh aus.

2006 engagierte sich Scheer als erster in der SPD-Bundestagsfraktion gegen die Privatisierung der Bahn. Dass er den parteiinternen Widerstand gegen den angestrebten Börsengang anstieß und förderte, gehört zu seinen Verdiensten. Später brachten ihn die hessischen Ambitionen allerdings auf einen gemäßigteren, staatsmännischen Kurs. So wollte er zusammen mit Ypsilanti 2007 mit der Idee stimmrechtsloser Vorzugsaktien, sogenannter »Volksaktien«, Gegner und Befürworter der Privatisierung zusammenführen. Hessens Eliten dankten es ihm nicht und trauten ihm weiterhin nicht über den Weg. Den für Ende Oktober 2008 terminierten Börsengang stoppte letztlich der damalige Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) vor dem Hintergrund der hereinbrechenden Wirtschafts- und Finanzkrise.

Ungeachtet solcher Widersprüche bleibt Hermann Scheers Engagement für einen politischen Kurswechsel in Erinnerung. Noch im August trat er als einer der ersten prominenten SPD-Politiker bei einer Kundgebung gegen »Stuttgart 21« auf. Im September plädierte er bei einer Energiekonferenz der LINKEN in Hamburg für eine dezentrale Energieversorgung aus erneuerbaren Quellen, die sich von den großen Konzernen Vattenfall, E.ON, RWE und EnBW unabhängig machen müsse. »Wir haben nicht mehr viel Zeit«, warnte er dabei.

* Aus: Neues Deutschland, 16. Oktober 2010


Zum Tode von Hermann Scheer

Ein Nachruf von Diether Dehm **

Kaum jemanden bewunderte ich unter meinen Kollegen der damaligen SPD-Bundestagsfraktion und bei SPD-Parteivorstandssitzungen derart wie ihn. Wie der die Kriegsbefürworter und Sozialstaatsverschrotter so genüßlich aus der Ruhe bringen konnte. Wir waren beide 1965 in die SPD eingetreten und seit damals »private« Freunde, also weit über die entpolitisierten Sphären der Parteipolitik hinaus. Gegen jene Kapitalanpassler und Kriecher, die ihn jetzt nachrufend für seinen »aufrechten Gang« (SPD) loben, hatte er meist nur Spott übrig. Schröder/Fischer waren nicht eben amused, als er den Alternativen Nobelpreis erhielt und als »Hero of the Green Century« und mit dem Weltsolarpreis ausgezeichnet wurde.

Die Rot-Grün-Perspektivzerstörer hatten nicht eine Sekunde daran gedacht, ihm in der damaligen Bundesregierung Optionen für die solare Wende einzuräumen. Auch von Cem Özdemir ist da nichts bekannt, der sich soeben erdreistet, Hermann »den Grünen als auf ganz besondere Weise verbunden« zu denunzieren. Dagegen Scheer: »Der Kosovo-Krieg ist ein Kriegsverbrechen«. Auch die Grüne Führung hat nur den Kopf geschüttelt, als Hermann Scheer das Scheitern von Rosa-Rot-Grün in Hessen mit Andrea Ypsilanti und in NRW, für die er auch gegen die Grünen-Führung gestritten hatte, in »weltnetz.tv« verschwörungstheoretisch mit Heckenschützerei der Fossil-Atom-Lobby um Wolfgang Clement in Verbindung gebracht hatte. Hermann Scheer war kein Grüner, er war eine Roter. Er ist der Vater des Hunderttausend-Dächer Programms – Revolutionär mit Reformkraft, Könner der nächsten Schachzüge mit Endspielperspektive. Er zeigte, daß es auch in der SPD für Charakterstärke und Widerständigkeit Raum zu dehnen gab. Und welch eine wunderbar aristokratische Verachtung mußte er gegen die Kapitalanpaßler aufbauen, allein hergeleitet aus seiner analytischen Überlegenheit.

Als wir am 17. Juni 1999 in Frankfurt gemeinsam mit Gregor Gysi, Jean Ziegler, Konstantin Wecker gegen die Macht und vor der Deutschen Bank demonstrieren wollten, gab es gehörigen Druck aus der SPD, deren Münteferings und Steinbrücks ihn immer loswerden wollten. Ich bekam Sorge, daß er zur Absage gedrängt werden könnte. Aber er rief laut lachend zurück: »Gegen diese Wadenbeißer bin ich mittlerweile völlig schmerzunempfindlich«. War er es?

Zusammen mit Konstantin Wecker, Heike Hänsel und Ulrich Maurer hatten wir gerade für unser gemeinsames TV-Projekt »Weltnetz« mit der Bundestagsfraktion der Linken für den 11. Dezember in Stuttgart einen öffentlichen Ratschlag »Kultur in der Demokratiekrise« geplant. Dies werden wir jetzt ohne ihn durchführen müssen – aber in seinem Gedenken. Denn es liegt nun an unseren Bemühungen, diesen Ausnahmepolitiker – nach einer kurz inszenierten Aufwallung aus Heuchelei und Scheinheiligkeit – vor der Vergessenheit zu bewahren, als einen großen Parlamentarier mit außerparlamentarischem Standbein und als Gegenentwurf zu den Parlamentaristen.

Anfang der 90er, als die PDS das Wort noch verschämt durch »Empire« oder »imperiale Kräfte« zu ersetzen suchte, sprach er vom »Imperialismus«: »Die Kolonialzeit ist abgeschlossen und durch einen Energie-Imperialismus abgelöst worden (…) um Energievorhaben und andere Rohstoffe militärisch zu sichern.« Die Stamokap-Theorie hat er lange bekämpft. Bei den Jusos war er nicht bei uns, den »Stamokaps«. Aber kürzlich feixte er mir zu: »Was Ihr mich nie überzeugen konntet, schafft jetzt die Atomlobby.« Und er las mir aus seinem Buch vor: »Ölförderländer haben Anteile an Automobilfirmen; Ölmultis an der atomtechnischen Industrie, die wiederum meistens auch die Fertigung von atomaren Brennstoffen kontrolliert; Stromversorgungsunternehmen besitzen Mineralölkonzerne und haben Anteile am Kohlebergbau; Banken haben überall Anteile.« (Seite 175 »Sonnenstrategie«). Auch das gelegentlich in der PDS in Mode geratene Wort der »progressiven Entstaatlichung« nötigte ihm nur Verachtung ab: »Die neo-liberale Entstaatlichung schafft den Regierungen die Möglichkeit, Verantwortung kurzfristig abzuwerfen, also nicht mehr zuständig zu sein und die Probleme laufen lassen zu können.«

Die Moleküle in der Kultur von Entzivilisierung waren sein eigentliches Hauptthema. Im Vorwort zu »Gewohnheiten des Herzens« schrieb er prophetisch bereits 1987: »In den Mittelschichten Nordamerikas und Westeuropas (...) breiten sich entfesselte individuelle Freiheitsvorstellungen wie ein Krebsgeschwür aus. (...) Gefordert ist eine neue soziale Philosophie. (...) Gelingt dies nicht, wird zunehmende Betroffenheit neben ebenfalls zunehmender politischer Hilflosigkeit stehen, und die Zukunft wird für jeden einzelnen barbarisch.«

** Diether Dehm ist Mitglied der Bundestagsfraktion der Partei Die Linke

Aus: junge Welt, 16. Oktober 2010



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