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Ende einer Epoche

Peak Oil und seine geostrategische Bedeutung

Von Hauke Ritz *

Teil I: Die absehbare Erschöpfung der globalen Ölreserven

In den siebziger Jahren war es eine angstbesetzte Zukunftsvision, das Eintreten einer dauerhaften Unterversorgung auf den Ölmärkten. Die Reaktionen, die der Club of Rome im Zuge seiner 1972 veröffentlichten Prognose über »Die Grenzen des Wachstums« auslöste, fielen jedoch teilweise panisch aus und führten zu unrealistischen Forderungen. So wurde vielfach eine Politik der sofortigen Wachstumsrücknahme propagiert. Auch stimmte der vorhergesagte Zeitpunkt nicht -- der Club of Rome hatte bereits für die späten 80er Jahre mit einer Unterversorgung auf den Ölmärkten gerechnet. Und so waren die Erleichterung über die nicht eingetretene Energiekrise sowie die darauf folgende Sorglosigkeit die Kehrseite der damaligen Warnungen. Zu guter Letzt schienen neuere geologische Untersuchungen zu bestätigen, daß die Ölvorräte noch mindestens vier Jahrzehnte reichen würden, lange genug also, um den Übergang in das Post-Ölzeitalter nach und nach zu bewerkstelligen.

Mehr als zwei Jahrzehnte sollten folgen, in denen von Ressourcenknappheit als Wachstumsgrenze moderner Industriegesellschaften keine Rede mehr war. Umso überraschender war es für viele, als kurz nach der Jahrtausendwende erstmals Gerüchte über eine Theorie auftauchten, die unter dem Titel »Peak Oil« (von engl. »peak« = Gipfel, Höchstwert) firmierte. Die Kernaussage ihrer Anhänger war, daß nicht die Reichweite der Ölförderung entscheidend ist, sondern ihr Höhepunkt. Die Ölförderung habe zwar eine Reichweite von 40 Jahren und mehr, doch trete ihr Maximum spätestens im Jahre 2010 ein. Von diesem Zeitpunkt an würde die Förderung sinken, und damit stießen auch die Grundlagen des bisherigen Wirtschaftssystems an eine maßgebliche Grenze. Die Rede von der mindestens vier Jahrzehnte währenden Reichweite des Öls war somit irreführend. Und mit einem Male standen sie wieder im Raum, die Katastrophenszenarien der 70er Jahre. Im Unterschied zum Club of Rome fußten die Vorhersagen diesmal allerdings nicht auf fragwürdigen kybernetischen Theoriemodellen, sondern auf vielfach bestätigten empirischen Beobachtungen der Erdölgeologie. Welche waren das?

Phasen der Förderung

Erdölgeologen haben in den zurückliegenden Jahrzehnten eine sich wiederholende Erfahrung bei der Ausbeutung von Ölfeldern gemacht. Diese weist nämlich für gewöhnlich eine Förderkurve auf, die der Form einer Glockenkurve folgt. In den ersten Jahren nach Beginn der Bewirtschaftung steigt die Ausbeutequote steil an. Das liegt daran, daß zu diesem Zeitpunkt der Druck im Ölfeld noch sehr hoch ist. Hinzu kommt, daß die Geologen die Binnenstruktur einer Lagerstätte im Zuge der Förderung immer besser kennenlernen. Je genauer ein Ölfeld vermessen wird und die unterschiedlichen Gesteinsschichten, die Dichteschwankungen und inneren Strömungsverhältnisse bekannt sind, desto zielgenauer kann gebohrt und die Förderung gesteigert werden. Irgendwann wird dann allerdings ein Fördermaximum erreicht. Auf dieses muß nicht sogleich ein Rückgang folgen. Oft kann über mehrere Jahre oder sogar Jahrzehnte ein Förderplateau gehalten werden. Dennoch wird es mit der Zeit zunehmend schwerer, die Ausbeutequote konstant zu halten. Die zweite Hälfte der Glockenkurve, die Phase der schließlich sinkenden Förderung, hat begonnen.

Diese zweite Phase ist dadurch geprägt, daß der Druck im Ölfeld immer mehr nachläßt. Fällt er zu stark ab, können sich Gase aus dem Öl lösen und fortan eine Gaskuppe an der Spitze der Lagerstätte bilden, was wiederum die Extraktion erschwert. Um dies zu vermeiden und den Druck möglichst lange aufrechtzuerhalten, beginnt man damit, Wasser unter die ölführende Gesteinsschicht einzuleiten. Eine Zeitlang läßt sich auf diese Weise der Druck im Feld halten. Doch dann kommt unweigerlich ein Zeitpunkt, an dem das eingeleitete Wasser nicht mehr unter der Ölschicht schwimmt und diese anhebt, sondern zunehmend selbst in die ölführende Gesteinsschicht eindringt und sich so allmählich mit dem Öl vermischt. Fortan fördert man ein Öl-/Wassergemisch. Dies wiederum macht es erforderlich, Energie einzusetzen, um das geförderte Öl wieder vom Wasser zu trennen.[1]

Anfangs sind es nur geringe Wassermengen, die dem Öl beigemengt sind. Kritisch wird die Produktivität eines Ölfeldes, wenn mehr als die Hälfte der Förderung aus Wasser besteht. Nähert sich eine Lagerstätte ihrer Erschöpfungsgrenze, kann der Wasseranteil schließlich den Ölanteil weit übersteigen und teilweise über 90 Prozent liegen. Eine der letzten Maßnahmen, die Erdölgeologen anwenden, um die Produktion eines eigentlich schon erschöpften Ölfeldes aufrechtzuerhalten, besteht darin, dieses gleichsam von der Seite anzubohren. Der Sinn dieser sogenannten Horizontalbohrungen besteht darin, daß man auf diese Weise in der Lage ist, exakt die ölführende Gesteinsschicht zu treffen und eine Vermischung mit der oberen, gasführenden Schicht und der unteren, wasserführenden Schicht zu verhindern. Versagt auch diese Maßnahme, so ist der Förderrückgang praktisch nicht mehr aufzuhalten.

Divergierende Schätzungen

Die Peak-Oil-Theorie basiert auf diesen praktischen Erfahrungen der Erdölgeologie. Summiert man die Förderkurven aller derzeit bewirtschafteten Ölquellen und addiert man die erwarteten Förderverläufe jener hinzu, deren Ausbeutung für die Zukunft geplant ist, so ist man in der Lage, den weltweiten Förderhöhepunkt anzugeben. Berücksichtigt man ferner, mit wie vielen potentiellen Neufunden in den nächsten Jahrzehnten noch zu rechnen ist, läßt sich der weltweite Förderhöhepunkt ungefähr berechnen.[2]

Eine großangelegte Untersuchung dieser Art wurde 1994 von dem Erdölgeologen Colin Campbell vorgenommen. Campbell war Mitautor der Studie »World Oil Supply 1930--2050«, die ausschließlich Regierungen und der Industrie zugänglich war. Dabei hatten Campbell und seine Mitarbeiter Zugriff auf die Daten von 18000 Ölfeldern. Die Studie sagte damals den Peak der Ölförderung für das Jahr 2004 voraus. Das Ergebnis war so brisant, daß die Petroindustrie mit zahlreichen Gegenstudien reagierte. Da Campbells Vorhersagen von der herrschenden Politik ignoriert wurden und auch in der Öffentlichkeit keinen Niederschlag fanden, gründete er mit anderen Erdölgeologen die »Association for the Study of Peak Oil«, kurz ASPO. In dieser Gruppe sind heute viele der führenden Erdölgeologen organisiert. Anhand der neuesten Daten gibt die Vereinigung regelmäßig aktualisierte Vorhersagen über die zu erwartende Förderung heraus. Dabei haben sich die Prognosen der ASPO in den zurückliegenden Jahren als wesentlich genauer und unabhängiger erwiesen als beispielsweise die der Internationalen Energieagentur (IEA) mit Sitz in Paris. Die IEA ist eine Organisation der OECD und offiziell für die prognostische Abschätzung von Energierohstoffen zuständig. Dabei stützt sie sich zum großen Teil auf die Untersuchungen des United States Geological Survey (USGS), einer US-amerikanischen Behörde für geologische Studien.[3]

Noch in ihrem World Energy Outlook 2005 prognostizierte die IEA, daß sich die Ölförderung bis zum Jahr 2030 um 50 Prozent steigern ließe. Für den Zeitraum bis 2030 sagte die Agentur einen Ölpreis von durchschnittlich 39 US-Dollar pro Barrel (159 Liter) voraus. Derzeit liegt der Ölpreis bei rund 120 Dollar. Während die IEA in den letzten Jahren immer wieder eingestehen mußte, die Ölpreisentwicklung in der Vergangenheit in einem dramatischen Umfang falsch prognostiziert zu haben, haben sich die Prognosen der ASPO im großen und ganzen als richtig erwiesen.

Die in der ASPO vereinigten Geologen gehen mehrheitlich davon aus, daß der Förderrückgang sich spätestens bis 2010 bemerkbar machen wird. Nach dem Eintreten des Peaks wird der Förderrückgang zwischen zwei bis sechs Prozent jährlich betragen. Wobei zwei Prozent eine sehr optimistische Schätzung bedeuten, da bereits jetzt in einzelnen Ölfördergebieten oft ein wesentlich stärkerer Rückgang zu beobachten ist. So hat die Ausbeutequote in der britischen Nordsee bereits 1999 ihren Höhepunkt erreicht und ist seitdem um bereits zirka 40 Prozent gefallen.[4] Problematisch ist auch die Abhängigkeit der gesamten Ölförderung von einem Prozent aller Ölfelder. 75 Prozent des geförderten Öls stammen aus diesen besonders großen Lagerstätten. Die meisten von ihnen werden jedoch schon seit 30 bis 50 Jahren ausgebeutet. Allein neun Prozent der weltweiten Ölförderung kommen aus den drei größten Ölfeldern der Welt, den sogenannten Giant Fields, nämlich Ghawar in Saudi-Arabien, Burgan in Kuwait und Cantarell in Mexiko. Alle drei haben 2005 oder 2006 ihr Fördermaximum erreicht. Der Rückgang der Ausbeutequote, der sich seitdem bemerkbar macht, ist oft dramatischer als erwartet. So ging die Ölförderung des mexikanischen Ölfelds Cantarell innerhalb des Jahres 2006 gleich um 13,1 Prozent zurück. Im Mai 2008 bestätigte der mexikanische Energieminister Ernesto Martens, daß die Förderung 2007 um weitere 33 Prozent gefallen ist.[5] Die Förderung in Ghawar brach innerhalb eines Jahres um acht Prozent ein.[6] Dieses Jahr hat auch Rußland, auf dem lange Zeit die Hoffnungen auf steigende Förderraten ruhten, erstmals eine leichte Verringerung seiner Produktion bekanntgegeben.[7] Die erwähnten Rückgänge haben dazu geführt, daß die im Juli 2006 erreichte Gesamtförderung von 85,4 Millionen Barrel seither nicht wieder eingeholt werden konnte. Die Vermutung liegt nahe, dies könnte bereits der Peak gewesen sein. Einzig im Irak, vor der westafrikanischen und der brasilianischen Küste, in der Arktis und möglicherweise in der Region ums Kaspische Meer ließe sich die Produktion noch steigern. Doch kann dies den Förderrückgang in anderen Regionen nicht ausgleichen.

Verhältnis Neufunde/Verbrauch

Da sich Öl nur in bestimmten geologischen Becken bildet und die Zahl dieser Formationen auf der Erde begrenzt ist, gelten 90 Prozent aller Ölfelder bereits als entdeckt. Der Höhepunkt an Ölfunden erfolgte in den 1960er Jahren. Mitte der 80er Jahre überstieg der Ölverbrauch erstmals die Ölfunde. Seither verbraucht die Welt jedes Jahr mehr Öl, als an Neufunden hinzukommt. In den 90er Jahren war der Planet bereits derart abgesucht, daß die Ölgesellschaften durchschnittlich nur noch sieben Milliarden Barrel pro Jahr fanden. Allein im Jahr 1997 wurde jedoch die dreifache Menge, 21 Milliarden Barrel, verbraucht.[8] Die wenigen Felder, die man noch findet, sind meist sehr klein, und ihre Ausbeutung ist kostenintensiv. Ausnahmen, wie der kürzliche Fund einer sehr großen Lagerstätte vor der brasilianischen Küste, bestätigen die Regel. Damit sich an der Peak-Oil-Prognose wirklich etwas ändert, wäre es jedoch erforderlich, in kurzer Zeit ein ganzes Dutzend solcher Felder zu finden. Damit ist aber angesichts der immer kleiner werdenen Ölfunde in den letzten zwei Jahrzehnten nicht zu rechnen. Es war somit nur eine Frage der Zeit, bis sich dieses Ungleichgewicht zwischen Neufunden und Verbrauch in einer sinkenden Förderung niederschlagen mußte. Dieser Zeitpunkt ist entweder schon erreicht oder zumindest dramatisch nahegerückt.[9]

Skeptiker, die der Peak-Oil-Theorie kritisch gegenüberstehen, wenden häufig ein, daß der Förderrückgang durch den Fortschritt in der Extraktiontechnik kompensiert werden könnte. Doch dieses Argument berücksichtigt nicht die Erfahrungen, die beispielsweise mit den Ölfeldern in Texas gemacht wurden. Diese lieferten in den 50er Jahren einen großen Teil des weltweit konsumierten Öls. Mit ihm wurde der Wirtschaftsboom der 50er und 60er Jahre angetrieben. Bereits 1956 sagte der Erdölgeologe M. King Hubbert voraus, daß die US-amerikanische Ölförderung zwischen 1966 und 1972 ihr Maximum erreichen würde. Im Jahre 1971 gelangten die texanischen Ölfelder dann auch tatsächlich an ihren Förderhöhepunkt.

Trotz des technischen Fortschritts in der Ölförderung war es nicht möglich, das Abfallen der Ausbeutequote in dieser Region zu verhindern. Und auch die Erschließung neuer Lagerstätten in Alaska und im Golf von Mexiko hat den Niedergang der US-amerikanischen Ölförderung nicht aufhalten können. Mit anderen Worten: In der Glockenkurve sind zwei Faktoren bereits berücksichtigt. Zum einen der technische Fortschritt und zum anderen das Ausweichen der Förderung auf kleinere und schwerer zugängliche Lagerstätten. Gäbe es keinen technischen Fortschritt der Fördertechnik und würde man nicht auf kleinere Quellen ausweichen, wäre der erwartete Rückgang noch viel drastischer.

Aus demselben Grund wird auch die vermehrte Förderung von Ölsanden in Kanada und Schweröl in Venezuela die kommende Energiekrise nicht lösen. Auf dem Papier sind diese Reserven zwar sehr groß. Doch aufgrund der technischen Schwierigkeiten ist die Extraktionsrate sehr gering. Es wäre schon viel gewonnen, wenn die kanadischen Ölsande den Rückgang der konventionellen Ölextraktion in Kanada ausgleichen könnten. Daß sie den Förderrückgang des Nahen Ostens und anderer Regionen auffangen könnten, ist dagegen mehr als unwahrscheinlich.[10]

Folgen für die Weltwirtschaft

Aus dieser Sachlage ergibt sich jedoch eine Vielzahl an Fragen. Zunächst, welche Konsequenzen hat diese Prognose für die industrialisierte Welt? Anders als die Ölkrisen der 70er Jahre handelt es sich diesmal nicht um eine politisch bedingte Krise. Da sie geologische Ursachen hat, wird sie permanent sein. Entsprechend verheerend könnten die Folgen ausfallen. Hieraus resultiert die zweite Frage. Wie war es möglich, daß eine Hochzivilisation, die in der Lage ist, ein gigantisches Medien- und Informationsnetz um den Globus zu spannen, unvorbereitet in diese Krise hineingeraten konnte? Sollten die geopolitischen Strategen in Washington, Tokio und Brüssel wirklich nicht darüber informiert gewesen sein, daß die Ölförderung eines Tages abnehmen wird?

Öl ist der mit Abstand bedeutendste Rohstoff der Weltwirtschaft. Seit dem Ende des Ersten Weltkriegs steht und fällt die kapitalistische Industrialisierung mit seiner Verfügbarkeit. Immer, wenn in den vergangenen 90 Jahren die Weltwirtschaft gewachsen ist, hat auch der Ölverbrauch zugenommen. Die Korrelation zwischen Ölverbrauch und Wirtschaftswachstum ist also sehr eng. So eng, daß auch der umgekehrte Fall gilt. Immer wenn in der Vergangenheit Versorgungsengpässe beim Öl aufgetreten sind, mußte sich die Wirtschaftsdynamik dem verfügbaren Ölangebot anpassen und so weit schrumpfen, bis keine Knappheit mehr bestand. Der bekannteste Fall von Ölknappheit sind die beiden Ölkrisen 1973/74 und 1979/80. Seinerzeit löste die Unterversorgung jeweils einen Anstieg des Ölpreises um 300 bis 400 Prozent aus. Rezession, sinkende Börsenkurse und eine steigende Inflation waren die Folge.

Öl wird nicht nur für den Transport von nahezu 90 Prozent aller Güter verwendet. Es ist auch der Grundstoff fast aller verwendeten Kunststoffe. Nach Auskunft eines Experten der Chemiefirma Solvay werden aus Öl mehrere hunderttausend organische Verbindungen synthetisiert, die wiederum als Grundstoff für ebenso viele Kunststoffe, Farben, Lacke und pharmazeutische Produkte dienen. Auch die moderne Landwirtschaft erweist sich als extrem abhängig vom Öl. So werden nicht nur landwirtschaftliche Maschinen mit Öl betrieben, Nahrungsmittel mit Hilfe von Öl transportiert und verarbeitet, auch Pestizide und Dünger werden daraus hergestellt. Dies führt dazu, daß in jeder Kalorie unserer Nahrung ungefähr zehn Kalorien fossiler Energie mit enthalten sind.[11] Die »grüne Revolution« der modernen Landwirtschaft war nur möglich, weil durch die Verfügbarkeit billigen Öls mehr Energie in die Nahrungsmittelproduktion eingespeist werden konnte, als wir aus der Nahrung wiederum gewinnen. Ein Privileg, das die Menschen Jahrtausende hindurch nicht besaßen. Hätten die Menschen des Mittelalters mehr Energie in ihre Nahrungsmittelproduktion investiert, als sie aus ihr gewannen, so wären sie verhungert.

Keine sanfte Wende

Eine ähnliche Abhängigkeit moderner Wirtschaftsprozesse vom Öl besteht auch im weltweiten Handel. Solange billiges Öl als Hauptenergiequelle für den Transport zur Verfügung stand, konnte dieser unbegrenzt wachsen. Die Handelswege dehnten sich auf diese Weise in den zurückliegenden Jahrzehnten beständig aus. Immer mehr Güter unseres täglichen Bedarfs kommen aus entlegenen Weltregionen. Billiges Öl führte dazu, daß die Menschen mehr reisten, mehr Güter über weite Distanzen bewegten und schließlich mehr verbrauchten. Dies wiederum schlug sich nieder in einer Zunahme der Geldzirkulation und jahrzehntelang steigenden Wachstumsraten. Steht billiges Öl als Grundstoff dieser Entwicklung nicht mehr zu Verfügung, so müßte sich dieser Prozeß theoretisch umkehren. Statt Globalisierung des weltweiten Handels wäre plötzlich eine Regionalisierung der Wirtschaftskreisläufe erforderlich. Statt beständigen Wachstums des Handels, der Güterproduktion, des Ressourcenverbrauchs und der Geldzirkulation wäre plötzlich eine Schrumpfung notwendig.

Doch eine Schrumpfung von Handel, Güterproduktion und Geldumlauf ist in der Logik des Kapitalismus praktisch nicht vorgesehen. Dieses Wirtschaftssystem ist auf ständiges Wachstum programmiert. So wie ein Fahrradfahrer sein Gleichgewicht nur halten kann, solange er fährt, so bleibt auch die kapitalistische Ökonomie nur solange im Takt, wie sie wächst. Bereits Nullwachstum stellt für moderne Volkswirtschaften eine Katastrophe dar. Selbst wenn der Förderrückgang des Öls mit zwei bis sechs Prozent noch moderat ausfallen sollte, wären die Folgen für die industrialisierte Welt dramatisch.

Zwar ist es möglich, viele Funktionen des Rohstoffs Erdöl durch Erdgas zu ersetzen. Doch ist auch dieses nicht in unbegrenztem Umfang vorhanden. So ist die britische Gasproduktion seit 2001 stark rückläufig; das Königreich muß seit 2005 sogar Gas importieren. Auch die niederländische Gasproduktion sinkt seit vielen Jahren; es könnte sein, daß die europäische insgesamt ab 2010 rückläufig sein wird.[12] Der Peak beim Erdgas dürfte auf dem asiatischen Kontinent zwar erst in ungefähr 20 Jahren eintreten. Doch in anderen Teilen der Welt ist es bereits jetzt ein knappes Gut geworden, so z.B. in Nordamerika, wo die Erdgasproduktion seit 1973 leicht zurückgegangen ist. Und in den nächsten Jahren wird sogar mit einem weiteren Fördereinbruch gerechnet. Da Erdgas überwiegend über Land transportiert wird, können solche Ungleichgewichte zwischen den Regionen schwer kompensiert werden. Hinzu kommt, daß der Förderrückgang bei Erdgas noch viel abrupter erfolgt als beim Öl.

Auch die Umstellung auf erneuerbare Ener­gien verspricht keine schnelle Lösung. Denn trotz des enormen Booms von Solar- und Windenergie und trotz des hohen Ölpreises konnte in den letzten Jahren nicht einmal der Anstieg des Ölverbrauchs aufgehalten werden. Um einen jährlichen Förderrückgang von zwei bis sechs Prozent ausgleichen zu können, müßten die Investitionen in erneuerbare Energien um ein Mehrfaches steigen. Allerdings produzieren die meisten Solarzellen und Windräder Strom. Die durch Peak Oil ausgelöste Energiekrise ist jedoch in erster Linie eine Treibstoffproblematik. Versucht man, den Solar- oder Windstrom in Treibstoffe wie z.B. Wasserstoff umzuwandeln, so kommt es zu Übertragungsverlusten. Weitere Verluste entstehen, wenn der Treibstoff in Antriebsenergie umgewandelt wird. Am Ende kann nur ein kleiner Teil der erwirtschafteten Energie genutzt werden. Es besteht die Gefahr, daß die Energiebilanz sehr niedrig oder sogar negativ ausfällt. Steckt man jedoch fast genausoviel Energie in die Energieproduktion, wie man aus ihr gewinnt, so kommt kein volkswirtschaftlicher Nutzen zustande.[13]

Diese Probleme wären sicherlich lösbar, hätte man noch ein oder zwei Jahrzehnte Zeit, um ein großangelegtes Forschungs- und Entwicklungsprogramm in die Wege zu leiten. Zu diesem Ergebnis kommt auch ein Untersuchungsbericht, der von Dr. Robert Hirsch im Jahr 2005 für das US-Energieministerium erstellt worden ist. Er konstatierte, daß die Umstellung der wirtschaftlichen Infrastruktur von Öl auf alternative Energieträger durchaus möglich ist. Allerdings müßte damit im allergünstigsten Fall mindestens zwei Jahrzehnte vor dem Fördermaximum begonnen werden.[14] Begänne die Umstellung lediglich ein Jahrzehnt vor dem Peak, so könnten nur die schlimmsten Folgen abgemildert werden. Wie oben dargestellt, wird das Ölfördermaximum nach Schätzung der Geologen der ASPO aber bereits in den nächsten zwei Jahren erreicht sein. Mit anderen Worten: Für einen harmonischen Übergang ist es heute bereits zu spät.

Dieser Ausblick verweist auf die zweite Frage. Wie war es eigentlich möglich, daß eine technische Zivilisation, die jährlich einen hohen Prozentsatz ihres Bruttosozialprodukts für Forschung ausgibt, relativ unvorbereitet in diese Krise gerutscht ist? An Warnungen hatte es nicht gefehlt. Der Geologe M. King Hubbert hatte bereits in den 50er Jahren den Förderhöhepunkt der texanischen Ölfelder vorhergesagt. Der Club of Rome hatte 1972 das Thema zum Gegenstand einer öffentlichen Debatte gemacht. Auch die beiden Ölkrisen wenige Jahre später boten Anlaß, sich der Abhängigkeit der industrialisierten Welt vom Öl bewußt zu werden. Schließlich wurde auch die empirisch sehr detaillierte Studie des Geologen Campbell aus dem Jahre 1994 zu einem Zeitpunkt erstellt, als es noch möglich gewesen wäre, frühzeitig zu reagieren.

Teil II: Den US-Eliten kommt die drohende Ölknappheit nicht ungelegen

Geopolitische Konkurrenz zwischen Staaten war in der Vergangenheit oft Auslöser für große Investitionsanstrengungen des US-Imperialismus. Der Zweite Weltkrieg hat das Manhattan-Projekt zum Bau der Atombombe hervorgebracht. Und der Kalte Krieg hat gleich zu einer ganzen Reihe umfangreicher und kostenintensiver strategischer Projekte geführt, wie etwa dem Apollo-Programm der NASA oder der US-Rüstungsinitiative SDI (»Strategic Defense Initiative«) zum Aufbau eines Abwehrschirms gegen Interkontinentalraketen. Warum war es nicht möglich, ähnliche Investitions- und Forschungsanstrengungen im Bereich der erneuerbaren Energien zu tätigen? Sollte Peak Oil die modernen Gesellschaften abrupt und unvorbereitet treffen, so würde dies nicht weniger bedeuten als die größte Veränderung in der Wirtschaftsgeschichte seit Beginn der industriellen Revolution. Umso schwerer ist es zu verstehen, daß die Hintergründe des aktuellen Ölpreisanstiegs nicht Gegenstand einer öffentlichen Debatte werden. Statt dessen genießt die Peak-Oil-Theorie, obwohl vielfach anhand empirischer Fakten belegt, immer noch den Status einer bloßen Mutmaßung, ja eines Gerüchts. Bis zum heutigen Tag hat nicht einmal eine internationale Konferenz zum Thema stattgefunden. Wie sind diese vielfachen Unterlassungen zu erklären?

Machtmittel US-Dollar

Um mögliche Ursachen dafür zu finden, lohnt es sich, die geopolitische Funktion des Erdöls in unserer Zeit näher zu betrachten. Öl ist nicht ein Naturprodukt unter anderen. Es ist der zentrale Rohstoff in der zweiten Hälfte des 20. und in der ersten des 21. Jahrhunderts. Dieser Sonderstatus rückte das Öl ins Zentrum der weltweiten Machtpolitik. Dies ist schon daran ersichtlich, daß die USA als die mit Abstand mächtigste Nation der Welt, in den zurückliegenden Jahrzehnten erhebliche Anstrengungen unternommen haben, Einfluß auf die Verfügbarkeit dieser Ressource zu gewinnen. So kontrollieren die Vereinigten Staaten mit Hilfe ihrer konkurrenzlosen Kriegsmarine den gesamten Handel zur See und damit auch den größten Teil der weltweiten Transportrouten für Öl. Damit sich daran auch in Zukunft nichts ändert, zielen viele der derzeit vorangetriebenen Pipelineprojekte darauf ab, Öl nicht ausschließlich über Land, sondern auch auf dem Seeweg zum Endverbraucher zu befördern. Schließlich hat Washington im Zuge der beiden Ölkrisen 1973/74 und 1979/80 sogar Einfluß auf die Fakturierung des Öls genommen. So soll sich beispielsweise das saudische Königshaus in einem Geheimabkommen mit den USA dazu verpflichtet haben, Öl nur in US-Dollar zu handeln.[15] Auf diese Weise war es den Vereinigten Staaten möglich, die weltweite Nachfrage nach Öl zur Stützung ihrer eigenen Währung einzusetzen. Der Status des Dollars als Ölwährung garantiert seine Funktion als Welt- und Reservewährung. Dies wiederum stellte in der Vergangenheit sicher, daß die umlaufende Dollarmenge, ungeachtet der Defizite, die die exorbitanten Rüstungsausgaben im US-Haushalt verursachten, beständig ansteigen konnte. Solange die Welt Öl in Dollar handelt, können die USA sich weiter verschulden. Und solange sich die USA verschulden können, kann auch ihre militärische Macht weiter ausgebaut werden. Wächst aber die militärische Macht der USA, so werden die Staaten der Welt auch weiter Öl in Dollar handeln.

Auf diese Weise gründet die finanzpolitische Macht der USA zum großen Teil auf ihrer militärischen Stärke, mit der sie Einfluß auf den Transport und die Fakturierung des Öls nehmen können. So ist es nicht verwunderlich, daß die US-Regierungen in den zurückliegenden Jahrzehnten jede Gelegenheit genutzt haben, um ihre Stützpunkte im Nahen Osten auszubauen. Die USA besitzen heute Militärbasen in Saudi-Arabien, Ägypten, Jordanien, Irak, Oman, Katar, Bahrain, Georgien, Afghanistan, Pakistan, Turkmenistan, Tadschikistan, Kirgisien und Israel. Die militärische Vormacht der USA in der ölreichsten Region garantiert letztlich ihre Weltmachtposition. Diese Präsenz bietet jedoch nur dann einen strategischen Vorteil, wenn sich der Nahe Osten und Zentral­asien in einem instabilen Zustand befinden. Denn wäre diese Region ähnlich stabil wie heute Zentral­europa, so wäre jede Drohung, von dieser Macht auch Gebrauch zu machen, unglaubwürdig. So gesehen hat selbst die Aufrechterhaltung des Konflikts zwischen Israelis und Palästinensern etwas mit der geopolitischen Rolle des Öls zu tun.

Von welcher Seite auch immer man das weltweite Machtgefüge in Augenschein nimmt, stets stößt man auf die elementare Rolle des Öls. Und möglicherweise war dessen Funktion als zentraler Machthebel der eigentliche Grund, warum an seine Ersetzung durch andere Energiequellen überhaupt nicht zu denken war. In den Augen der geopolitischen Entscheidungsträger wäre ein Verzicht auf diese Ressource gleichbedeutend mit dem Verzicht auf die Weltmachtposition.

Der Umgang mit diesem strategischen Rohstoff ist somit Gegenstand eines außergewöhnlich durchdachten geopolitischen Ordnungskonzepts. Die These, daß die Menschheit in die Peak-Oil-Krise hineingeraten ist, weil niemand über die Ressource Öl nachgedacht habe, ist daher wenig plausibel. Viel wahrscheinlicher ist es, daß jene Geostrategen, die in den zurückliegenden Dekaden auf der Basis des Ölhandels eine weltweite Finanz-- und Währungsordnung aufgebaut haben, auch frühzeitig von der Peak-Oil-Theorie Kenntnis hatten. Hinzu kommt, daß die Geopolitik einer Weltmacht wie der Vereinigten Staaten notwendig in längeren Zeiträumen kalkulieren muß. Die Vorstellung, daß Politik in Vier-Jahres-Abständen geplant wird, mag für individuelle Politiker gelten, nicht jedoch für die wichtigsten Think-tanks, Stiftungen und Einflußmächte hinter den Kulissen. Ein Prozeß wie die NATO-Osterweiterung, die Ausdehnung und Vertiefung der EU und auch militärstrategische Planungen werden auf Zeiträume ausgelegt, die mindestens zwei bis drei Jahrzehnte umfassen.

Kampf um Vorherrschaft

Hieraus ließe sich die These ableiten, daß die Realität von Peak Oil in bestimmten Kreisen -- wie z. B. der Ölindustrie und einigen geostrategischen Planungsgruppen -- durchaus schon seit vielen Jahren bekannt gewesen ist. Schließlich war das Phänomen 1971 an den texanischen Ölfeldern und später in vielen anderen Regionen eingehend zu studieren. Doch wenn diese These stimmt, dann muß man einen Grund gehabt haben, die Öffentlichkeit und möglicherweise viele Politiker über dieses Phänomen im unklaren zu lassen.

Das sich in unserer Gegenwart vollziehende wirtschaftliche und weltpolitische Erstarken Rußlands und Chinas sowie Indiens und anderer großer Teile der sogenannten Dritten Welt war spätestens seit den frühen neunziger Jahren für jeden Geostrategen absehbar. Es war deutlich, daß ein Land mit einem solchen Rohstoffreichtum wie Rußland und Länder, die so reich an Menschen sind wie China und Indien, nicht dauerhaft daran gehindert werden können, Wohlstand und weltpolitische Bedeutung zu erlangen. Dies wird auch deutlich an einer Äußerung von Zbigniew Brzezinski, Sicherheitsberater unter US-Präsident James Carter (1977--1981). Brzezinski ist bis heute ein einflußreicher Stratege amerikanischer Außenpolitik und berät auch den US-Präsidentschaftskandidaten Barack Obama (siehe jW-Thema vom 28./29. und 30.6.2008). In seinem 1997 veröffentlichten Hauptwerk »Die einzige Weltmacht« heißt es: »Amerika als die führende Weltmacht hat nur eine kurze historische ­Chance. Der relative Frieden, der derzeit auf der Welt herrscht, könnte kurzlebig sein.«[16] Weiter analysiert er, daß »Amerikas potentielle Herausforderer auf politischem und/oder wirtschaftlichem Gebiet (...) ausnahmslos eurasische Staaten«[17] sind, nämlich China, die EU, Rußland und Indien. Brzezinski leitete hieraus ab, daß es das vorrangige Ziel der USA sein müsse, »die Gefahr eines plötzlichen Aufstiegs einer neuen Macht erfolgreich (hinauszuschieben)«.[18] Die USA verfolgen deshalb Brzezinski zufolge die Strategie, »die beherrschende Stellung Amerikas für noch mindestens eine Generation und vorzugsweise länger zu bewahren«. Es gelte, »das Emporkommen eines Rivalen um die Macht zu vereiteln«.

Doch was könnte die Gefahr eines plötzlichen Aufstiegs einer neuen Macht besser hinausschieben als eine plötzliche, durch geologische Sachzwänge ausgelöste Verknappung des wichtigsten Rohstoffes der Welt. Sicherlich ist die These, die sich hieraus ableiten läßt, zunächst spekulativ. Dennoch ist sie im Bereich des Möglichen angesiedelt und sollte deshalb auch erwogen werden. Was wäre, wenn die Vorbereitungen auf Peak Oil deshalb unterblieben sind und bis heute weiter unterbleiben, weil man den bevorstehenden Förderhöhepunkt beim Öl als Faktor in eine geopolitische Strategie integriert hat? Was wäre, wenn man bereits vor einigen Jahrzehnten Peak Oil als einen glücklichen Umstand betrachtet hat, der es ermöglicht, große aufsteigende Schwellenländer wie China und Indien just in dem Moment zu stoppen oder zumindest in einem Zustand der Abhängigkeit zu halten, da sie zum großen wirtschaftlichen Sprung anheben? Welche Indizien sprechen für diese These und welche dagegen?

Monopolisierung der Ölvorräte

Ein deutliches Indiz für diese These ist, daß die USA unmittelbar nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion mit dem (zweiten) Golfkrieg 1991 eine Politik eingeleitet haben, die auf eine Monopolisierung der Ölvorräte des Nahen Ostens ausgelegt ist. So äußerte der amerikanische Held dieses Krieges, US-General Norman Schwarzkopf, bereits 1990 vor dem US-Kongreß, daß das »Öl des Nahen Ostens (...) der Lebensnerv der westlichen Welt sei«. »Es versorgt uns heute mit Treibstoff, und da es 77 Prozent des Öls der freien Welt ausmacht, wird es uns auch dann noch versorgen, wenn der Rest der Welt bereits auf dem Trockenen sitzt.«[19] Hatte der Oberkommandierende der Operation »Desert Storm« bereits damals von Peak Oil gewußt? Natürlich sollte man solche Äußerungen nicht überbewerten. Sie können nichts beweisen. Gegen diese These einer geopolitischen Einbindung des Peak Oil spricht, daß die Abhängigkeit der USA vom Öl aufgrund ihres verschwenderischen Umgangs mit dieser Ressource und ihrer klimatischen Bedingungen sehr viel größer ist als die der EU. Kombiniert man jedoch die verschiedenen politischen Faktoren der letzten Dekade, finden sich dennoch genug Hinweise, um besorgt zu sein.

Betrachtet man nämlich die Maßnahmen, die in den letzten zehn Jahren in der internationalen Politik ergriffen worden sind, und stellt ihnen jene gegenüber, die unterlassen wurden, so ergibt sich eine Bilanz, die teilweise für sich selbst spricht. Wie bereits im ersten Teil erwähnt, hat bis zum heutigen Tag keine internationale Konferenz zum Thema Peak Oil stattgefunden. Auch die Medienberichterstattung dazu fällt sehr dürftig aus. Substantielle Schritte, die eine friedliche Lösung der kommenden Ölkrise vorbereiten könnten, sind nirgendwo zu beobachten. Statt dessen erleben wir eine ständige Zunahme geopolitischer Spannungen.

Neuer Rüstungswettlauf

Ein ganz anderes Bild bietet sich, wenn man die Maßnahmen betrachtet, die durch die Anschläge vom 11. September 2001 in den internationalen Beziehungen ausgelöst wurden. Während die kommende Energiekrise mit einem Mantel des Schweigens umhüllt wird, werden zur »Bekämpfung des Terrorismus« neue Geheimdienste wie die US-amerikanische Heimatschutzbehörde (»Homeland Security Agency«) gegründet. Zudem werden die Rechte des Staates gegenüber seinen Bürgern in allen NATO Ländern beständig erweitert und umgekehrt Bürgerrechte abgebaut. Internationaler Austausch zum Thema islamischer Terrorismus findet ständig statt. Auch Videobotschaften Bin Ladens erfreuen sich -- egal welch zweifelhaften Ursprungs sie sind -- einer regen Medienaufmerksamkeit. Zugleich ist nach dem 11.9. allein der Rüstungsetat der USA um 60 Prozent angestiegen. Auch China, Rußland und andere Staaten führen einen »Krieg gegen den Terror« und weisen ebenso wie die USA explodierende Rüstungsausgaben auf.

Mißtrauisch stimmt hierbei, daß sich der Rüstungswettlauf hauptsächlich in Bereichen vollzieht, die mit Terrorismusbekämpfung nichts zu tun haben, wie z. B. Nuklearbewaffnung und Weltraumrüstung. Seit die USA im Begriff sind, ein Raketenabwehrsystem zu errichten, haben die russischen Nuklearstreitkräfte im September 2007 erstmals ihre seit 1992 einseitig eingestellten Patrouillenflüge über dem Pazifik, Atlantik und Polarmeer wieder aufgenommen. Washington kündigte bereits 2002 den ABM-Vertrag6 auf, was Moskau 2007 mit der Annullierung des KSE-Vertrages [20] beantwortete. Allgemein ist seit dem 11. September 2001 eine massive Zunahme gewaltförmigen Handelns in den internationalen Beziehungen zu beobachten. Immer mehr Menschen kommen in Kriegen ums Leben. Der Krieg wird mit großer Selbstverständlichkeit als Mittel der Politik betrachtet. Zugleich befindet sich das Völkerrecht in einem Zustand der Erosion. Ausgerechnet in einem der ölreichsten Länder der heutigen Welt, dem Irak, haben die USA einen langwierigen Krieg begonnen. Zugleich haben sie Afghanistan besetzt, das zwar nicht über große Ölvorkommen verfügt, aber ein wichtiges Durchgangsland für die Pipeline vom Kaspischen Meer bis zum Indischen Ozean darstellt. Wie der US-Journalist Seymour Hersh recherchiert hat, sind US-amerikanische Spezialtruppen derzeit daran beteiligt, bestimmte Regionen im Vielvölkerstaat Iran zu destabilisieren.[21]

Ein Verdacht steht im Raum. Könnte es sein, daß die einschneidenden politischen Maßnahmen, die im Zuge des »Kriegs gegen den Terror« weltweit durchgesetzt worden sind, eigentlich eine innen- und außenpolitische Vorbereitung auf Peak Oil darstellen? Innenpolitisch führen diese Maßnahmen zum Abbau von Bürgerrechten und zur systematischen Überwachung der Bevölkerung. Stellen diese Rechtsverschärfungen möglicherweise auch eine Vorbereitung auf einen durch Erdölknappheit ausgelösten wirtschaftlichen Notstand dar? Sollte der »Krieg gegen den Terror« gezielt dazu benutzt worden sein, kommenden sozialen Kämpfen mit einem »robusten« Recht entgegentreten zu können? Für diese These sprechen die außenpolitischen Maßnahmen, die mit dem »Krieg gegen den Terror« begründet werden. So sieht die militärische Bekämpfung des islamischen Terrorismus einem auf militärische Ressourcensicherung ausgelegten Waffengang nur allzu ähnlich. Sollte der vorrangig auf den islamischen Kulturkreis ausgerichtete »Kampf der Kulturen« vielleicht die ideologische Basis für kommende Ressourcenkriege bilden? Schließlich lagern mehr als zwei Drittel aller Ölvorräte in islamischen Ländern.

Schockstrategie

Der naheliegendste Einwand gegen diese These lautet, daß Regierungen sich in der Vergangenheit nicht derart komplexe Strategien ausgedacht haben. Die Entwicklung eines solchen Plans und seine Durchsetzung innerhalb des Regierungsapparats wäre auf zu großen Widerstand gestoßen. Er wäre schlichtweg nicht vermittelbar gewesen. Dem ließe sich jedoch entgegenhalten, daß Regierungen in der Vergangenheit durchaus eine Politik betrieben haben, in der Chaos und gezielte Destabilisierung als Mittel eingesetzt wurden. Viele Beispiele dieser Art hat die bekannte kanadische Publizistin und Globalisierungskritikerin Naomi Klein in ihrem jüngsten Buch »Die Schock-Strategie«[22] zusammengetragen. Kleins Untersuchung bezieht sich auf Regierungsumstürze in Ländern wie Chile, Argentinien, Irak oder postsozialistischen Gesellschaften wie Polen und Rußland. Ihrer Analyse liegt die These zugrunde, daß die US-Geostrategen immer wieder gezielt politische und wirtschaftliche Destabilisierungsmaßnahmen eingesetzt haben, um in anderen Ländern eine Politik der vollständigen wirtschaftlichen Deregulierung durchzusetzen. Da die meist vom Weltwährungsfonds (IWF) oder der Weltbank geforderten wirtschaftlichen Maßnahmen eine massive Verarmung der Bevölkerung nach sich zogen, waren sie sehr unpopulär; ihre Durchsetzung in Friedenszeiten war und ist sehr schwierig. Im Unterschied dazu bot eine landesweite Schocksituation die Gelegenheit zu einem enorm weitreichenden politischen Handeln.

Ein solcher Schock trat beispielsweise ein, als in Chile direkt nach dem Staatsstreich Pinochets am 11. September 1973 die Massenverhaftungen begannen. Der Schrecken, der sich in der Folge über das Land legte, bot zugleich die Möglichkeit, eine vollständige Neuordnung der nationalen Machtverhältnisse einzuleiten. Weitere Beispiele, die Klein anführt, beziehen sich einerseits auf zufällige Schockereignisse, wie die Zerstörung New Orleans' durch den Wirbelsturm »Katrina« im August 2005, sowie absichtlich herbeigeführte, wie die Anwendung der militärpsychologischen Strategie »Shock and Awe« (Schockieren und Ehrfurcht einflößen) zu Beginn des Irak-Krieges im März 2003. So ist es das Ziel der Shock-and-Awe-Strategie, durch massives, simultanes und teilweise auch simuliertes Bombardement eine Traumatisierung der Bevölkerung des bekriegten Landes herbeizuführen. Der Schockzustand wird als sozialpsychologische Waffe eingesetzt, um den Zusammenhalt und die Identität eines Landes oder Kulturkreises zu brechen. Klein stößt bei all diesen Beispielen immer auf dasselbe Muster. Zerstörung, Chaos, Schock und Destabilisierung wurden stets als eine Chance für die schnelle Durchsetzung von Maßnahmen begriffen, die sonst nicht mehrheitsfähig gewesen wären.

»Kreative Destabilisierung«

Klein bezieht sich in ihren Analysen nicht auf Peak Oil. Doch es wäre theoretisch möglich, ihrer Argumentation die durch diese Krise ausgelöste Destabilisierung als ein weiteres Kapitel anzufügen. Die These, daß Regierungen in der Vergangenheit Chaos und heraufziehende Wirtschaftskrisen nie gezielt als Mittel der Politik eingesetzt haben, erweist sich somit als falsch. Insbesondere die USA haben während der zurückliegenden Jahrzehnte immer wieder die Technik der »kreativen Destabilisierung« benutzt, um ihre Macht auszubauen. Diese Praxis basiert offenbar auf der Annahme, daß in einer geordneten und stabilen Welt kein Staat seinen Einflußbereich im großen Umfang ausdehnen kann, während dies umgekehrt in einer chaotischen Situation sehr leicht möglich ist. Vor diesem Hintergrund wäre in der Tat zu überlegen, ob sich an der Politik der vergangenen zehn Jahre hinsichtlich der ergriffenen und der nicht ergriffenen Maßnahmen nicht bereits ablesen läßt, wie man mit der kommenden Energiekrise umzugehen gedenkt.

Möglicherweise ähnlich, wie dies nach dem 11.September geschah? In diesem Zusammenhang ist an ein Zitat von Donald Rumsfeld zu erinnern, das aus einem Interview stammt, welches er am 12.10.2001, einen Monat nach den Anschlägen, der New York Times gab. Darin erklärte der US-Verteidigungsminister, »daß der 11. September eine ähnliche Möglichkeit bereitstellt wie einst der Zweite Weltkrieg, nämlich die Chance, die Welt neu zu gestalten«.

Die Beispiele zeigen, daß wir in einer Zeit leben, in der politische Entscheidungsträger nicht davor zurückschrecken, Chaos, das unerwartet über eine Gesellschaft hereinbricht, in den Dienst globaler Machtpolitik zu stellen. Vor diesem Hintergrund wäre es geradezu unwahrscheinlich, hätte noch niemand darüber nachgedacht, welche politischen und ökonomischen Profite möglicherweise aus einem Phänomen wie Peak Oil zu ziehen sind.

Fußnoten
  1. Vgl. Matthew R. Simmons, Wenn der Wüste das Öl ausgeht. Der kommende Ölschock in Saudi Arabien, München 2006
  2. C. J. Campbell, F. Liesenborghs, J. Schindler, W. Zittel, Ölwechsel. Das Ende des Erdölzeitalters und die Weichenstellung für die Zukunft, München 2007
  3. Vgl. Hauke Ritz, »Die wunderbare Ölvermehrung«, in: taz, 4. 11. 2005
  4. Vgl. ASPO Deutschland, energiekrise.de
  5. Offshore-technology.com, »Cantarell Oil Field, Gulf of Mexico, Mexico«
  6. Luke Burgess, »The world's largest oil field is dying«, in: Energy and Capital, 9.8.2006
  7. Zerta Blandow, »Russische Ölförderung am Peak?« ASPO-Deutschland, 16. April 2008
  8. Colin J. Campbell und Jean Laherrère, »The End of Cheap Oil«, in: Scientific American, März 1998
  9. Vgl. Richard Heinberg, The Party's over. Das Ende der Ölvorräte und die Zukunft der industrialisierten Welt, München 2004
  10. Vgl. Jörg Schindler/Werner Zittel, Energieversorgung am Wendepunkt. Bedrohtes Klima, Knappheit bei Energie und Gas, Club Niederösterreich, 2004
  11. Vgl. Richard Heinberg, in: Oil, Smoke & Mirrors, Dokumentarfilm zum Thema Peak Oil, Irland 2006
  12. Werner Zittel, »Ist Erdgas eine Alternative zum Erdöl?«, ASPO Deutschland, energiekrise.de, 5. Februar 2008
  13. Vgl. Richard Heinberg, The Party's over, 4. Kapitel: Andere Energiequellen, München 2004, S. 205-275
  14. Der Report ist im Internet abrufbar unter: www.netl.doe.gov/publications/others/pdf/Oil_Peaking_NETL.pdf.
  15. Rudolph Chimelli, »Öl -- nur noch gegen Euro«, in: Süddeutsche Zeitung, 16.3.2006 sowie International Currency Review, 6.1.1991, S. 45
  16. Zbigniew Brzezinski, Die einzige Weltmacht, Berlin 1997, S. 303-305
  17. a. a. O., S. 57
  18. Dies und die folgenden Zitate a. a. O., S. 304--306
  19. Zitiert in: William Engdahl, Bushs »Krieg gegen die Tyrannei«, engdahl.oilgeopolitics.net, 14.3.2005
  20. Der ABM-Vertrag wurde 1972 geschlossen und diente der Begrenzung von Raketenabwehrsystemen. Am 13. Juni 2002 traten die USA einseitig aus dem Vertrag aus.
  21. Der KSE-Vertrag dient der Begrenzung der konventionellen Streitkräfte in Europa. Er wurde 1990 zwischen der NATO und den damaligen Warschauer-Vertragsstaaten unterzeichnet und 1999 der veränderten Lage angepaßt
  22. Seymour Hersh, »Preparing the battlefield«, in: The New Yorker, 7. Juli 20
  23. Naomi Klein, Die Schock-Strategie, Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus, Frankfurt a. M. 2007
* Hauke Ritz lebt als Publizist in Berlin.

Der Beitrag erschien in zwei Teilen in der "jungen Welt" vom 9. und 11. August 2008



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