Transit wird überflüssig
Erdgaspipeline Nord Stream sorgt für Verdruß in Osteuropa. Polen, baltische Staaten, Belarus und Ukraine müssen Bedeutungsverlust gegenüber Rußland hinnehmen
Von Tomasz Konicz *
Bundeskanzlerin Angela Merkel scheint über eher beschränkte
Geographiekenntnisse zu verfügen. Wie sonst ließe sich die fortgesetzte
Verwechslung Europas mit der BRD seitens der deutschen Regierungschefin
erklären? Zuletzt unterlief der Bundeskanzlerin dieses Malheur in einer
Videobotschaft zum offiziellen Spatenstich der Ostsee-Pipeline am 9.
April, als Merkel dieses deutsch-russische Projekt als einen wichtigen
Schritt zur Stabilisierung der europäischen Energieversorgung
bezeichnete: »Für Europa ist dies ein wichtiger Beitrag zur
Versorgungssicherheit«, so Merkel. Auch der ehemalige Bundeskanzler
Gerhard Schröder (SPD) lobte das Vorhaben unter hartnäckiger Ignoranz
geographischer Gegebenheiten: »Das Projekt bildet die Schnittstelle
zwischen dem russischen und dem europäischen Pipeline-Netzwerk«,
behauptete der inzwischen für den russischen Monopolisten Gasprom tätige
Selfmademan. Rußlands Präsident Dmitri Medwedew meinte ebenfalls, daß
die Leitung Europa mehr Energiesicherheit zu »angemessenen und
zumutbaren« Preisen verschaffen werde.
Die Ostsee-Pipeline soll ab 2011 das russische Wyborg unter Umgehung des
osteuropäischen Pipelinenetzes mit dem deutschen Lubmin bei Greifswald
verbinden. Den aktuellen Planungen zufolge soll ein zweiter, parallel
verlaufende Strang 2012 fertiggestellt werden. Dann würde die
Ostsee-Pipeline eine Durchleitungskapazität von bis zu 55 Milliarden
Kubikmeter Erdgas jährlich erreichen. Diese Menge soll laut
Expertenschätzungen etwa elf Prozent des für 2010 prognostizierten
Gasverbrauchs der Europäischen Union decken. Wenige Tage vor dem
offiziellen Startschuß des Vorhabens hat die Trägergesellschaft Nord
Stream AG bereits einen drei Kilometer langen Abschnitt der Pipeline
nahe der schwedischen Insel Gotland verlegt. An dem Konsortium sind
Gasprom mit 51 Prozent, der deutsche Konzern E.on-Rurhgas sowie die
BASF-Tochter Wintershall mit jeweils 20 Prozent, und die niederländische
GasUnie mit neun Prozent beteiligt.
Deutsches Kapital konnte bei diesem deutsch-russischen
Kooperationsvorhaben vorteilhafte Konditionen durchsetzen. So werden die
Röhren für die Pipeline von dem deutschen Hersteller Europipe gefertigt,
der hierfür einem Auftrag in Höhe von 1,2 Milliarden Euro ergattern
konnte. Schließlich konnten deutsche Konzerne auch Zugang zu den
Gasquellen selbst erlangen. E.on Ruhrgas und Wintershall sind mit 50
Prozent abzüglich zweier Aktien an dem riesigen Erdgasfeld
Juschno-Russkoje in Nordsibirien beteiligt, das als eine der wichtigsten
Quellen der Ostsee-Pipeline fungieren soll.
Letztere wird teurer als gedacht: Inzwischen mußte die Kostenprognose
für das ehrgeizige energiepolitische Vorhaben deutlich angehoben werden.
Ging Gasprom in der Anfangsphase von fünf Milliarden Euro aus, so werden
inzwischen 7,4 Milliarden veranschlagt. Die Nachrichtenagentur Bloomberg
berichtete unter Berufung auf die russische Zeitung Wedomosti, daß die
Kosten letztlich sogar bei bis zu 8,8 Milliarden Euro liegen könnten.
Noch kurz vor dem Ende seiner Amtszeit setzte der damalige Bundeskanzler
Gerhard Schröder umfassende und großzügige staatliche Bürgschaften für
dieses Vorhaben durch.
Seit der Bekanntgabe dieses Projekts 2005 üben nahezu alle bisherigen
osteuropäischen Transitländer russischer Energieträger vehemente Kritik
an der Ostsee-Pipeline. Besonders lautstark trug Polen seine Einwände
vor, doch auch die baltischen Staaten, Belarus und die Ukraine
befürchten, durch die Umgehung der durch ihr Territorium verlaufenden
Transitrouten in künftigen energiepolitischen Auseinandersetzungen mit
dem Kreml jeglicher Machtmittel verlustig zu gehen. Bislang mußte der
Kreml bei einer Kappung der Energieversorgung während der
energiepolitischen Auseinandersetzungen mit Kiew oder Minsk immer in
Kauf nehmen, auch die Versorgung der lukrativen westlichen Märkte zu
gefährden. Dies wäre nach Fertigstellung der Ostsee-Pipeline nicht mehr
der Fall - Moskau könnte der Ukraine, Belarus, Polen oder dem Baltikum
das Gas abdrehen, ohne die Versorgung Westeuropas zu gefährden.
Die Reaktionen auf den Baubeginn in den meisten Ländern der
osteuropäischen Peripherie fielen dementsprechend kühl aus. Der
ehemalige litauische Präsident Vytautas Landsbergis bezeichnete die
Ostsee-Pipeline - wie schon polnische Politiker 2005 - als einen neuen
Molotow-Ribbentrop-Pakt. Die polnische Tageszeitung Gazeta Wyborcza
spekulierte bereits über eine Zunahme von »Spannungen« in Osteuropa, die
es aufgrund des Pipelinebaus künftig geben könnte. Zurückhaltend
reagierte hingegen die politische Elite in Warschau - und dies nicht
ohne Grund. Polens Regierungschef Donald Tusk und sein russischer
Amtskollege Wladimir Putin einigten sich am 8. April auf den Abschluß
eines langfristigen Vertrages über russische Gaslieferungen. Bis 2045
sollen demnach die Volumina vertraglich festgeschrieben werden, wobei
sogar eine Erhöhung der jährlichen Gasmenge von acht auf elf Milliarden
Kubikmeter vorgesehen ist. Somit kommt Moskau der polnischen Regierung
in einem wichtigen Punkt entgegen, da Polen in diesem Jahr ein
Erdgasdefizit von 2,5 Milliarden Kubikmeter droht und man in Warschau
vor allem über die langfristige Versorgungssicherheit des Landes besorgt
war.
* Aus: junge Welt, 12. April 2010
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