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Stehen wir am Beginn eines neuen Kalten Krieges?

Von Ernst Schwarcz *

Die Frage, ob wir uns am Beginn eines neuen Kalten Krieges befinden, steht in engem Zusammenhang mit dem Beschluss des US-Präsidenten George W. Bush und seiner Administration, in der Tschechischen Republik und in Polen ein neues US-amerikanisches Raketenabwehrsystem zu errichten. Dieser Plan ist aus vielen Gründen sowohl in den USA wie in der Europäischen Union heftig umstritten. Er bedeutet nämlich bei genauer Be-trachtung eine direkte militärische – und atomare ― Herausforderung Russlands durch die USA.

Die „offizielle“ Begründung für diesen amerikanischen Beschluss lautet, dass eine Abwehranlage gegen mögliche Angriffe durch Atomraketen aus dem Iran oder aus Nordkorea dringend ge-schaffen werden muss. Die Realität einer solchen Gefahr wird allerdings von militärischen Fach-leuten deswegen angezweifelt, weil es aus ihrer Sicht eine solche Bedrohung noch viele Jahre lang gar nicht geben kann. Dazu sagt der US-Militärexperte Scott Ritter in einem Interview mit dem Standard vom 19. April 2007: „Wie beim letzten Mal“ ― womit der Irak-Krieg gemeint ist ― „können die vorgeschobenen Kriegsgründe nicht durch Fakten untermauert werden. Es wird eine Bedrohung präsentiert, die nur in den Köpfen der Bush-Regierung existiert. Sie können keine Beweise vorlegen, dass der Iran wirklich den Bau von Atomwaffen anstrebt.“ ― Zur Bedrohung Europas durch nordkoreanische Raketen sagen Experten, dass eine solche Bedro-hung in allerhöchstem Grad unwahrscheinlich ist. Die größenwahnsinnige Führung dieses relativ kleinen Landes wird niemals fähig sein, Atomraketen, die bis nach Europa fliegen können, überhaupt herzustellen.

Zur Frage möglicher iranischer Atomraketen äußert sich Ali Laridschani, der Sicherheitsbeauf-tragte der iranischen Regierung (laut einem Bericht des ORF vom 17. August 2007) folgend: „Die iranischen Raketen können auf Grund ihrer Reichweite gar nicht nach Europa fliegen. Es ist überraschend, dass die Amerikaner so etwas nicht wissen.“ – Ergänzt kann Laridschanis Erklä-rung noch mit einem weiteren Zitat aus dem obigen Interview mit Scott Ritter werden, in dem dieser sagt: „Der sicherste Schutz vor einer möglichen Bedrohung aus dem Iran sind diploma-tische Bemühungen und keine modernisierte Maginot-Linie. Die Bush-Regierung will mit dieser Anlage Russland, China und alle anderen Staaten, die eine Bedrohung für US-Interessen darstel-len könnten, isolieren. – Die Russen könnten als Konsequenz aus dem Mittelstreckenwaffen-sperrvertrag austreten und einen neuen Rüstungswettlauf einleiten.“

Auch die Bevölkerung der beiden in das Raketenabwehrprogramm einbezogenen Länder ist wegen dieser Pläne sehr beunruhigt. Die Vertreterin der tschechischen Bewegung „Nein zur Radarbasis“, Frau Ivona Novomestská, hat in einer Erklärung, die sie im Rahmen einer Diskussionsveranstaltung des Friedensbüro Salzburg am 28. Juni 2007 abgegeben hat, gesagt: „Inzwischen stehen mehr als zwei Drittel der tschechischen Bevölkerung der Stationierung negativ gegenüber.“ Die Bewegung setzt sich dafür ein, dass in der Tschechischen Republik zu dieser Frage eine Volksabstimmung abgehalten werden soll. Dafür hat sich sogar der tschechi-sche Regierungschef Vaclav Klaus ausgesprochen.

Der amerikanische Raketenabwehr-Plan weckt verständlicherweise bei der militärischen und politischen Führung Russlands größte Besorgnis. Denn im Fall zukünftiger politischer Spannun-gen zwischen den USA und Russland würden die geplanten Radaranlagen wahrscheinlich zum Schaden Russlands zum Einsatz kommen. Es wäre mit der im tschechischen Ort Jince geplanten Radaranlage möglich, große Teile der russischen Föderation sehr genau zu kontrollieren. – Als Beispiel aus der Zeit des Kalten Krieges vor mehr als zwanzig Jahren sei hier erwähnt, dass damals Funkgespräche zwischen zwei mehr als tausend Kilometer vom Beobachtungsstandort entfernten sowjetischen Panzerbesatzungen von den elektronischen Anlagen der NATO abge-hört werden konnten.

Was die in Polen geplanten US-Raketenstellungen betrifft, so handelt es sich hier (nach den Angaben des Standard vom 6. April 2007) um die vier Stationierungsorte Debrzno, Zegrze Pomorskie, Redzikowo und Wicko Morskie. Wie es offiziell heißt, sollen in diesen Orten insgesamt zehn Abfangraketen stationiert werden. Diese Raketenanlagen wären für Russland aus dem Grund besonders gefährlich, weil die US-Raketen praktisch ohne irgendeine Vorwarnzeit gegen beliebige Ziele in Russland abgefeuert werden könnten. Es wäre somit jederzeit ein Überraschungsangriff gegen wichtige strategische Ziele in Russland – möglicherweise gegen Großstädte oder gegen russische Raketenanlagen ― denkbar. In einem solchen Fall wäre ein unmittelbarerer Gegenschlag Russlands durch den Einsatz von russischen Interkontinental-Raketen gegen die USA und gegen Europa denkbar. – Das wäre dann der Beginn des dritten Weltkrieges!

Die vorhersehbaren Reaktionen der russischen Führung auf diese amerikanischen Pläne sind mittlerweile bereits erfolgt: So hat Wladimir Putin in seiner Rede vor der Europäischen Sicherheitskonferenz in München am 12. Februar 2007 erklärt: „Uns beunruhigen die Pläne zum Aufbau von Elementen eines Raketenabwehrsystems in Europa. Wer braucht eine neue Runde eines in diesem Fall unausweichlichen Wettrüstens?“. Am 4. Juni 2007 berichtete die Welt von einer Erklärung Putins, Russland werde möglicherweise „neue Ziele in Europa ins Visier russischer Raketen nehmen“. Kurz danach hat Putin am 14. Juli 2007 die wichtigen Abrüstungs-verträge zur Beendigung des Kalten Krieges – nämlich die 1990 und 1999 beschlossenen inter-nationalen Verträge über die Begrenzung der konventionellen Streitkräfte in Europa (KSE) – ausgesetzt. Darüber hinaus hat Putin als eine weitere deutliche Warnung am 12. August 2007 (wie es in einer Meldung des Standard vom 13. August 2007 heißt) „den Aufbau eines umfang-reichen Raketenabwehrsystems angekündigt“. Dieses in St. Petersburg stationierte System soll nach den vorliegenden Plänen bis 2015 fertig gestellt werden und wird in der Lage sein, den Luftraum vom Nordpol bis Nordafrika zu kontrollieren.

Putin hat noch einen weiteren bedenklichen Schritt gesetzt, als er (laut Al Jazeera vom 17. August 2007) in Zusammenhang mit gemeinsamen militärischen Übungen russischer und chinesischer (!) Militäreinheiten anlässlich des im Ural abgehaltenen Gipfeltreffens der „Shanghai Cooperation Organisation“ (an dem Chinas Präsident Hu Jintao und die Vertreter der vier zentralasiatischen Länder Kirgistan, Tadschikistan, Kasachstan und Usbekistan teilnahmen) erklärte: „1992 hat Russland unilateral die Patrouillen-Flüge seiner strategischen Luftstreitkräfte eingestellt. Bedauer-licherweise ist unser Beispiel von anderen Mächten nicht befolgt worden“, womit er vor allem die Vereinigten Staaten meinte. Putin sagte anschließend: „Wir haben uns jetzt entschlossen, die regelmäßigen Flüge der russischen strategischen Luftstreitkräfte wieder zu beginnen.“ Und er erwähnte, dass vorläufig zu diesem Zweck 14 strategische Bombenflugzeuge eingesetzt werden sollen.

Wenn man die Gefahrenmomente eines neuen Kalten Krieges, dessen Beginn sich derzeit vor unseren Augen abzeichnet, besser verstehen will, ist die Erinnerung an die in der Weltgeschichte bisher größte konkrete Gefahr für die Vernichtung der Menschheit von größter Bedeutung, weil es hier sehr deutliche Parallelen zu den damaligen Ereignissen gibt. Damals – vor fast genau 45 Jahren ― wäre es um ein Haar zu einem weltweiten Atomkrieg gekommen. Der amerikanische Geheimdienst hatten anfangs Oktober 1962 große russische Raketenstellungen auf Kuba entdeckt, die gegen die USA gerichtet waren. Der Kalte Krieg war auf seinem Höhepunkt und diese direkte Bedrohung Amerikas durch sowjetische Atomraketen war für den damaligen amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy absolut inakzeptabel.

Kennedy stellte am 22. Oktober 1962 dem sowjetischen Präsidenten Nikita Chruschtschow das Ultimatum, innerhalb von 48 Stunden die auf Kuba stationierten und gegen die USA gerichteten Atomraketen abzuziehen. Ansonsten müsste die Sowjetunion mit einem gegen sie gerichteten Atomschlag rechnen. – Nur wenige Menschen wissen, dass damals der großartige „Friedens-papst“ Johannes XXIII. einen höchst wichtigen persönlichen Beitrag zur gewaltlosen Lösung dieser enorm gefährlichen Situation geleistet hat. Er richtete an die beiden Regierungen einen „dringlichen Friedensappell, alles zu unternehmen, was in ihrer Macht steht, um den Frieden zu retten“. In dem Buch von Renzo Allegri „Johannes XXIII., Ein Lebensbild“ heißt es: „Morgens um sieben Uhr traf die Antwort von Chruschtschow ein, der sein Einverständnis bekundete; um elf kam die entsprechende Antwort von Kennedy. Mittags verlas der Papst die Botschaft und am Nachmittag war die Spannung gelöst.“

Zu den hier geschilderten dramatischen Ereignissen des Oktober 1962 gab der amerikanische Vier-Sterne-General George Lee Butler, der wegen seiner Zweifel an der Atomwaffenstrategie seines Landes im Jahr 1994 seinen Militärdienst vorzeitig quittiert hatte, die folgende Erklärung ab: „Die Kuba-Krise im Jahr 1962 war nicht die einzige Gelegenheit, bei der die ganze Welt nur wenige Zoll breit vor dem Abgrund der Vernichtung stand. Es gab viele ähnliche gefährliche Situationen. Eine immer wiederkehrende Gefahrensituation war das fehlerhafte Funktionieren der elektronischen Ortungssysteme und des Kommunikationssystems. Es ist ein Wunder, dass wir bisher alle diese Gefahren heil überstanden haben. Die nukleare Abschreckung ist ein Glücks-spiel, das irgendwann daneben gehen muss.“ (Dieses Zitat ist dem Buch ZEITENWENDE von Ernst Schwarcz entnommen.)

Die Worte Lee Butlers sollten uns zu bedenken geben, dass bei jeder Art von Rüstung, ganz besonders aber bei atomarer Rüstung, immer etwas schief gehen kann! So lange es militärische Rüstungen gibt, gibt es auch Kriegsgefahr. Das lässt sich in unzähligen Geschichtsbüchern nachlesen. Und bei einem allgemeinen Wettrüsten – die Rüstungsausgaben der ganzen Welt haben im Jahr 2006 1,2 Billionen US-Dollar betragen, das entspricht einer Steigerung um 36,6 Prozent innerhalb der letzten drei Jahre ― gibt es extreme Kriegsgefahr!

Wie gefährlich die neue Konfrontation zwischen den USA und Russland in Wirklichkeit ist, lässt sich an der Zahl der jeweils einsatzbereiten Atomwaffen beider Seiten ermessen. Nach den Anga-ben des verlässlichen SIPRI-Yearbook 2007 (dem Jahrbuch des schwedischen Friedensfor-schungsinstitutes in Stockholm) besitzen die USA derzeit 5.521 und Russland 5.682 sofort einsatzbereite Atomwaffen. Diese beiden Zahlen sind also fast identisch. Hier muss auch daran erinnert werden, dass die Sprengkraft der am 6. August 1945 gegen die japanische Stadt Hiroshi-ma eingesetzten Atombombe 13 Kilotonnen TNT entsprach und dass damals mit einem einzigen Schlag 130.000 bis 150.000 Menschen unmittelbar getötet wurden. Es handelte sich im Falle Hiroshimas aber „bloß“ um eine relativ kleine A-Bombe.

In den folgenden Jahren wurden um vieles stärkere Bomben entwickelt. Vor diesen haben Albert Einstein und seine damaligen wissenschaftlichen Kollegen schon 1955 gewarnt. Die Atomwissen-schafter erklärten damals, dass es technisch ohne Schwierigkeiten möglich ist, Wasserstoffbom-ben zu bauen, die eine bis zu 2.500fach stärkere Sprengwirkung als die Hiroshimabombe haben. Mit einer solchen Bombe wurde bei einem Test am 1. März 1954 der Mururoa-Atoll völlig ausradiert. Nach den damals gewonnenen Erkenntnissen könnte auch eine moderne Großstadt mit einer einzigen Wasserstoffbombe total vernichtet werden. ― Hier ergibt sich nebenbei gesagt auch die Frage, wie viel Sprengkraft die Mehrzahl der heute einsatzbereiten Atombomben haben.

Als Letztes stellt sich die Frage: Was kann getan werden, um das vor den Augen der ganzen Welt herannahende Unheil eines neuen Kalten Krieges, aus dem jederzeit ein heißer Krieg werden könnte, abzuwenden? Wenn man die Erklärungen der Bush-Administration hört, so ist zu befürchten, dass noch auf lange Zeit hinaus keine Änderung der von den US-Militärstrategen für die Auseinandersetzung mit Russland ausgedachten Handlungslinie zu erwarten ist. Jetzt gilt es für beide Seiten, unbedingt einen kühlen Kopf zu bewahren und auf etwaige Provokationen der Gegenseite nicht zu reagieren.

Was in der jetzigen Lage dringend notwendig wäre ist der Einsatz eines Vermittlers oder einer Gremiums von Vermittlern, um die kontroversiellen Positionen der beiden Seiten einander näher zu bringen. Ideal als Vermittler wäre eine Persönlichkeit vom Format des früheren Papstes Johannes XXIII. Wenn eine solche aber nicht gefunden werden kann, so könnte ein vom Generalsekretär der Vereinten Nationen einberufenes Gremium von bedeutenden und in der Öffentlichkeit bekannten Persönlichkeiten die Vermittlerrolle übernehmen. ― Eines müsste allen an einem solchen Friedensprojekt Beteiligten klar sein: Nichts zu tun und den Dingen freien Lauf zu lassen, könnte eines Tages zu einer Katastrophe führen!

Abschluss des Manuskripts: 27. August 2007

* Prof. Ernst Schwarcz, Wien. Vom Verfasser dieses Artikels ist das Buch „ZEITENWENDE – Entweder es gelingt der Menschheit, alle Kriege abzuschaffen, oder es wird den Kriegen gelingen, die Menschheit abzuschaffen“, im Oktober 2005 im agenda Verlag, Münster, erschienen. Darin werden die Entstehung und der Verlauf einiger bedeutender Kriege in der Geschichte der Menschheit geschildert und wird vor der Gefahr für den Ausbruch eines Dritten Weltkrieges gewarnt.


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