Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Ein gerechter Krieg? Wohl kaum / A Just War? Hardly

Von Noam Chomsky* / by Noam Chomsky

Mit diesen Zeiten der Invasionen und Evasion im Rücken, erlebt die Debatte um den so genannten "gerechten Krieg" unter Gelehrten und selbst Politikern eine Renaissance.

Lassen wir die Theorie einmal beiseite. Die Geschehnisse in unserer realen Welt laufen allzu oft auf die Umsetzung von Thucydides Maxime hinaus: "Die Starken machen, was sie wollen, die Schwachen ertragen, was sie ertragen müssen". Diese Maxime ist nicht nur unbestreitbar ungerecht, sondern, angesichts der Stufe unserer zivilisatorischen Entwicklung, buchstäblich eine Bedrohung für das Überleben unserer Spezies.

In seiner hochgelobten Reflexion über den gerechten Krieg nennt Michael Walzer den Einmarsch in Afghanistan "einen Triumph für die Theorie vom gerechten Krieg". Ebenso wie Kosovo sei dies ein "gerechter Krieg", so Walzer. Leider gründet Walzers Argumentation in beiden Fällen und ganz allgemein vor allem auf Formulierungen wie "erscheint mir völlig gerechtfertigt", "kein Zweifel", "glaube ich" - Prämissen dieser Art.

Fakten werden ignoriert, selbst die offensichtlichsten. Nehmen wir Afghanistan. Als das Bombardement im Oktober 2001 begann, warnte Bush die Afghanen, man werde solange weitermachen, bis die Leute ausgehändigt worden seien, die die USA des Terrors verdächtigen.

"Verdächtigen" ist hier das entscheidende Wort. Acht Monate später sagte FBI-Chef Robert S. Mueller III gegenüber Redakteuren der Washington Post: "Wir sind der Ansicht, die Masterminds (der Anschläge vom 11. September) saßen in Afghanistan, ganz oben in der Al-Kaida-Führung. Die Verschwörer und andere Maßgeblichen aber kamen in Deutschland und andernorts zusammen". Das sagte Mueller nach einer der intensivsten Menschenjagden in der Geschichte.

Was man im Juni 2002 nicht wusste, konnte man im Oktober 2001 erst recht nicht mit Sicherheit gewusst haben. Aber nur Wenige hatten von Anfang an ihre Zweifel. Ich übrigens nicht. Doch Beweisführung und Vermutung sind zwei paar Stiefel. Mir erscheint es zumindest fair festzustellen, dass unter diesen Umständen fraglich ist, ob das Bombardement von afghanischen Menschen wirklich ein offensichtliches Beispiel für einen "gerechten Krieg" war.

Walzers Argumente richten sich gegen Zielgruppen, die er nicht näher benennt - "pazifistische" Opponenten aus dem universitären Bereich, zum Beispiel. Deren "Pazifismus" stellt für ihn "kein gutes Argument" dar. Walzer hält Gewalt in bestimmten Fällen für legitim. Gut, Letzterem könnte man zustimmen (ich zumindest). Aber Formulierungen wie "ich denke" sind wohl kaum ein stichhaltiges Argument - zumindest nicht, wenn Walzer über reale Fallbeispiele diskutiert.

Mit Begründungen wie "gerechter Krieg", Counter-Terrorismus usw. stellen sich die USA von fundamentalen Prinzipien der Weltordnung frei - wobei sie bei Formulierung und Umsetzung dieser Prinzipien die Hauptrolle gespielt haben.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde ein neues Instrumentarium des internationalen Rechts institutionalisiert. Was das Kriegsrecht angeht, wurden die neuen Bestimmungen in der Charta der Vereinten Nationen, in der Genfer Konvention und in den Nürnberger-Prinzipien kodifiziert. Die UNO-Generalversammlung stimmte zu. Laut UN-Charta ist die Androhung von Gewalt bzw. deren Anwendung verboten, es sei denn, es liegt eine Autorisierung durch den UN-Sicherheitsrat vor oder es handelt sich um den Selbstverteidigungsfall - nach einem Angriff mit Waffengewalt (Artikel 51). In letzterem Fall darf mit Gewalt gedroht oder Gewalt angewendet werden, bis der UN-Sicherheitsrat in Aktion tritt.

Im Jahr 2004 kam ein hochrangiges Gremium der Vereinten Nationen (dem unter anderem der frühere amerikanische Nationale Sicherheitsberater Brent Scowcroft angehörte) zu folgendem Schluss: "Vom Umfang her und hinsichtlich dessen, was seit langem gilt, muss Artikel 51 weder ausgeweitet noch eingeschränkt werden... In einer Welt voller potentiell wahrgenommener Gefahren wäre das Risiko für die globale Ordnung bzw. für die Norm der Nichtintervention, auf der diese Ordnung nach wie vor beruht, einfach zu groß, würde man unilaterale Präventivaktionen als legal akzeptieren, dies ist zu unterscheiden von Aktionen, die kollektiv beschlossen werden. Erlaubte man es einem, so zu handeln, erlaubte man es allen".

Die amerikanische NSS (Nationale Sicherheitsstrategie) vom September 2002 wurde im März 2006 größtenteils bestätigt. Diese Strategie billigt den USA das Recht zu, so genannte "Präemptiv-Kriege" zu führen - gemeint sind "Präventivkriege" und nicht "präemtive" - oder schlicht und ergreifend das Recht, Aggression auszuüben.

Laut dem Nürnberger Tribunal ist der Angriffskrieg (Aggression) "das schlimmste aller internationalen Verbrechen, mit dem einzigen Unterschied zu anderen Kriegsverbrechen, dass er das ganze Übel in sich vereint". Man denke nur an Irak - an das Übel, das durch die amerikanisch-britische Invasion über das gepeinigte Land kam.

Was 'Aggression' heißt, hatte der US-Chefankläger in Nürnberg, Robert Jackson, Richter am Obersten US-Gerichtshof, damals konzeptuell klar formuliert. Dieses Konzept war durch die UNO-Vollversammlung, in einer bindenden Resolution, bestätigt worden. Wie Jackson vor dem Nürnberger Gerichtshof argumentierte, verübt ein Staat dann einen Angriffskrieg, wenn er als Erster bestimmte Aktionen ausführt, wie "Einmarsch mit bewaffneten Streitkräften - mit oder ohne Kriegserklärung - in das Gebiet eines anderen Staates".

Dies trifft auf die Irak-Invasion zu. Oder man denke nur an jene relevanten und überdies eloquent vorgetragenen Worte Jacksons vor dem Nürnberger Gerichtshof: "Wenn bestimmte vertragsverletzende Akte Verbrechen sind, dann für die USA ebenso wie für Deutschland. Wir sind nicht bereit, ein Urteil über das kriminelle Verhalten anderer zu fällen, das wir nicht auch bereitwillig gegen uns selbst fällen würden". Und an anderer Stelle: "Wir dürfen nie vergessen, die Basis, aufgrund derer wir diese Angeklagten beurteilen, wird morgen auch die Basis für unsere eigene Beurteilung durch die Geschichte sein. Indem wir den Angeklagten den Giftbecher reichen, setzen wir ihn gleichzeitig an unsere eigenen Lippen".

Für unsere politische Führung stellt die Beibehaltung dieser Prinzipien bzw. des Prinzips des 'rule of law' allgemein, eine ernstzunehmende Bedrohung dar - das heißt, falls es tatsächlich jemand wagen sollte, "der einzigen ruchlosen Supermacht" die Stirn zu bieten, einer Supermacht, "deren Führung die Welt nach ihrer eigenen, von Gewalt geprägten Weltsicht zu formen gedenkt", so Reuven Pedatzur letzte Woche in der Haaretz.

Lassen Sie mich mit ein paar schlichten Wahrheiten schließen. Erstens, Maßstab des eigenen Handelns sind die Konsequenzen, die man zu erwarten hat. Zweitens, es gilt das Prinzip der Universalität. Schließlich legt man an sich selbst dieselben Maßstäbe wie an andere an - wenn nicht gar strengere. Diese beiden Prinzipien gelten nicht nur als altruistischer Mindeststandards, sie bilden darüber hinaus auch die Grundlage für jede Theorie über den 'gerechten Krieg' (zumindest für jede ernstzunehmende).

* Übersetzt von: Andrea Noll

Quelle: ZNet Kommentar 20.05.2006; www.zmag.de



A Just War? Hardly

by Noam Chomsky*

Spurred by these times of invasions and evasions, discussion of "just war" has had a renaissance among scholars and even among policy-makers.

Concepts aside, actions in the real world all too often reinforce the maxim of Thucydides that "the strong do as they can, while the weak suffer what they must" — which is not only indisputably unjust, but at the present stage of human civilization, a literal threat to the survival of the species.

In his highly praised reflections on just war, Michael Walzer describes the invasion of Afghanistan as "a triumph of just war theory," standing alongside Kosovo as a "just war." Unfortunately, in these two cases, as throughout, his arguments rely crucially on premises like "seems to me entirely justified," or "I believe" or "no doubt."

Facts are ignored, even the most obvious ones. Consider Afghanistan. As the bombing began in October 2001, President Bush warned Afghans that it would continue until they handed over people that the US suspected of terrorism.

The word "suspected" is important. Eight months later, FBI head Robert S. Mueller III told editors at The Washington Post that after what must have been the most intense manhunt in history, "We think the masterminds of (the Sept. 11 attacks) were in Afghanistan, high in the al-Qaida leadership. Plotters and others — the principals — came together in Germany and perhaps elsewhere."

What was still unclear in June 2002 could not have been known definitively the preceding October, though few doubted at once that it was true. Nor did I, for what it’s worth, but surmise and evidence are two different things. At least it seems fair to say that the circumstances raise a question about whether bombing Afghans was a transparent example of "just war."

Walzer’s arguments are directed to unnamed targets — for example, campus opponents who are "pacifists." He adds that their "pacifism" is a "bad argument," because he thinks violence is sometimes legitimate. We may well agree that violence is sometimes legitimate (I do), but "I think" is hardly an overwhelming argument in the real-world cases that he discusses.

By "just war," counterterrorism or some other rationale, the US exempts itself from the fundamental principles of world order that it played the primary role in formulating and enacting.

After World War II, a new regime of international law was instituted. Its provisions on laws of war are codified in the UN Charter, the Geneva Conventions and the Nuremberg principles, adopted by the General Assembly. The Charter bars the threat or use of force unless authorized by the Security Council or, under Article 51, in self-defense against armed attack until the Security Council acts.

In 2004, a high level UN panel, including, among others, former National Security Adviser Brent Scowcroft, concluded that "Article 51 needs neither extension nor restriction of its long-understood scope ... In a world full of perceived potential threats, the risk to the global order and the norm of nonintervention on which it continues to be based is simply too great for the legality of unilateral preventive action, as distinct from collectively endorsed action, to be accepted. Allowing one to so act is to allow all."

The National Security Strategy of September 2002, just largely reiterated in March, grants the US the right to carry out what it calls "pre-emptive war," which means not pre-emptive, but "preventive war." That’s the right to commit aggression, plain and simple.

In the wording of the Nuremberg Tribunal, aggression is "the supreme international crime differing only from other war crimes in that it contains within itself the accumulated evil of the whole" — all the evil in the tortured land of Iraq that flowed from the US-UK invasion, for example. The concept of aggression was defined clearly enough by US Supreme Court Justice Robert Jackson, who was chief prosecutor for the United States at Nuremberg. The concept was restated in an authoritative General Assembly resolution. An "aggressor," Jackson proposed to the tribunal, is a state that is the first to commit such actions as "invasion of its armed forces, with or without a declaration of war, of the territory of another State."

That applies to the invasion of Iraq. Also relevant are Justice Jackson’s eloquent words at Nuremberg: "If certain acts of violation of treaties are crimes, they are crimes whether the United States does them or whether Germany does them, and we are not prepared to lay down a rule of criminal conduct against others which we would not be willing to have invoked against us." And elsewhere: "We must never forget that the record on which we judge these defendants is the record on which history will judge us tomorrow. To pass these defendants a poisoned chalice is to put it to our own lips as well."

For the political leadership, the threat of adherence to these principles — and to the rule of law in general — is serious indeed. Or it would be, if anyone dared to defy "the single ruthless superpower whose leadership intends to shape the world according to its own forceful world view," as Reuven Pedatzur wrote in Haaretz last May.

Let me state a couple of simple truths. The first is that actions are evaluated in terms of the range of likely consequences. A second is the principle of universality; we apply to ourselves the same standards we apply to others, if not more stringent ones.

Apart from being the merest truisms, these principles are also the foundation of just war theory, at least any version of it that deserves to be taken seriously.

* Noam Chomsky, the eminent intellectual and author, most recently, of "Failed States: The Abuse of Power and the Assault on Democracy," is a professor of linguistics and philosophy at the Massachusetts Institute of Technology in Cambridge, Mass.

Source: Khaleey Times (online), 9. Mai 2006; www.khaleejtimes.com



Zurück zur Seite "Kriege, Neue Kriege"

Zur Seite "Geschichte des Kriegs"

Zurück zur Homepage