Afghanistan: "Unzivilisierte Stämme"
Kriege dürfen nicht an zuviel humanitärer Rücksicht zugrunde gehen. Von Noam Chomsky
Noam Chomsky ist Linguist und Professor am Massachusetts Institute of Technology (MIT) und gilt als intellektueller Kopf einer radikaldemokratischen bis sozialistischen Bewegung von Globalisierungskritikern in den USA. Darüber hinaus hat er sich weltweit den Ruf eines scharfsinnigen politischen Analytikers erworben. Eine seiner letzten Veröffentlichungen: "Profit over People". Der folgende Text, den wir der Wochenzeitung "Freitag" entnommen haben, ist Extrakt eine Vortrages, den Chomsky Ende 2001 Neu-Delhi gehalten hat.
                              Ende September 2001 hatte uns die Welternährungsorganisation FAO
                              wissen lassen, dass mehr als sieben Millionen Afghanen vom Hungertod
                              bedroht seien, gäbe es nicht unverzüglich einen gewaltigen Transfer
                              internationaler Hilfsleistungen, sollten vor allem die Risiken eines
                              Militärschlages die Lage weiter außer Kontrolle geraten lassen. Nach dem
                              Beginn der Bombardements am 7. Oktober 2001 warnte die FAO erneut
                              eindringlich vor einer humanitären Katastrophe und wies besonders darauf
                              hin, dass der Luftkrieg die Aussaat unterbreche, die Afghanistan 80
                              Prozent seiner künftigen Getreidevorräte sichern werde oder nicht, so dass
                              die Folgen des Krieges unter Umständen noch im nächsten Jahr spürbar
                              sein würden. 
                              Diese Appelle blieben tote Buchstaben. Sie blieben auch dann noch vom
                              Mantel des Schweigens und Verschweigens verdeckt, als die
                              UN-Sonderberichterstatter keinen Zweifel daran ließen, dass die Reichen
                              und Mächtigen dieser Erde jederzeit die Mittel hätten, diesem "stillen
                              Genozid" ein Ende zu setzen. 
                              Die Luftschläge haben nun, wie das auch in der amerikanischen Presse zu
                              lesen ist, einige Städte Afghanistans zu Phantomstädten werden lassen.
                              Die lokalen Systeme zur Versorgung mit Trinkwasser und Elektrizität sind
                              zerstört - auch das im Übrigen eine nachhaltige Form des biologischen
                              Krieges. Unter diesen Umständen sind etwa 70 Prozent der Bevölkerung
                              Kandahars und Herats geflohen. Größtenteils führte ihr Weg in die
                              ländliche Umgebung dieser Städte und damit in Regionen, in der eine
                              solche Dichte an Landminen herrscht, dass 10 von 20 Flüchtlingen
                              entweder verletzt oder getötet wurden. Vermutlich muss inzwischen diese
                              grauenhafte Quote höher veranschlagt werden. Die Operationen der
                              Vereinten Nationen zur Minenräumung sind seit Wochen unterbrochen.
                              Gleichzeitig potenzieren amerikanische Bomben, die nicht detoniert sind,
                              die Gefahr. Dies gilt besonders angesichts der entsetzlichen Verletzungen,
                              die durch Teile von Splitterbomben ausgelöst werden können, deren
                              Entschärfung - was oft nicht bedacht wird - weitaus schwieriger ist als die
                              von Landminen. 
                              Man wird das Schicksal der davon Gezeichneten nicht zur Kenntnis
                              nehmen. Man wird nicht einmal versuchen, es anzuerkennen, weil nicht
                              wirklich davon gesprochen werden soll, was in Afghanistan geschehen ist.
                              Tiefschürfende Untersuchungen sind allein den Verbrechen vorbehalten, die
                              den offiziellen Feinden der USA zugeordnet werden. Es käme jedoch
                              ebenso darauf an, die durch den Krieg unmittelbar Getöteten der
                              unvergleichlich größeren Zahl an Opfern gegenüberzustellen, die an seinen
                              Folgen zugrunde gehen. 
                              Aber für die Verbrechen der USA, wenn sie denn überhaupt erforscht
                              werden, gelten andere Kriterien. Es soll keinen Anlass geben, aus dem
                              unweigerlich Konsequenzen zu ziehen wären. Im Falle Afghanistans würde
                              eine Untersuchung ergeben, dass Verbrechen vorsätzlich und im
                              Bewusstsein verübt wurden, dass sie eine beträchtliche Zahl von
                              Unbeteiligten und Unschuldigen treffen könnten. Wer das nicht begreift, der
                              ignoriert die ganze jüngste Geschichte. 
                              Um wen handelt es sich bei den Opfern? Sind das jene "unzivilisierten
                              Stämme", von denen Winston Churchill vor 80 Jahren mit Blick auf
                              Afghanen und Kurden herablassend sprach, als man Giftgas einsetzen
                              wollte, um ihnen eine Vorstellung von "wahrem Terror" zu geben? 
                              Vor genau zehn Jahren startete Großbritannien die Initiative "gläserne
                              Regierung". Transparenz sollte sie auszeichnen. Zum Auftakt der
                              Kampagne verschwanden aus dem britischen Nationalarchiv alle Dossiers,
                              die den Einsatz von Giftgas gegen "unzivilisierte Stämme" dokumentierten.
                              Wenn es notwendig ist, "die einheimische Bevölkerung auszuschalten",
                              dann muss man es tun, erklärte ein französischer Verteidigungsminister
                              mit Blick auf Operationen in Algerien, die Mitte des 19. Jahrhunderts
                              stattfanden. So zu verfahren, blieb keine Ausnahme. Es ist so wahr wie
                              einfach. Was heute den Afghanen geschieht, folgt einem klassischen
                              Muster, das für sich in Anspruch nimmt, Teil der modernen Geschichte zu
                              sein. Und es scheint fast natürlich, dass diese Ereignisse wenig Interesse
                              oder gar Beunruhigung auslösen und es schon großer Tapferkeit bedarf,
                              davon zu sprechen. 
                              Nun markieren die Verbrechen des 11. September in der Tat eine Wende
                              in der Geschichte, nicht nur von der Dimension, vor allem von ihren Zielen
                              her. Ein Wendepunkt, allerdings nicht nur für die USA, vielleicht mehr noch
                              für Europa. Der Kontinent hat im Verlaufe seiner Geschichte furchtbarste
                              Zerstörungen hinnehmen müssen - dies aber stets als Folge innerer
                              (europäischer) Kriege. Gleichzeitig ließen sich die europäischen Mächte
                              nicht daran hindern, große Teile der Welt zu erobern - sie waren dabei in
                              der Regel nicht zimperlich. Doch bis auf wenige Ausnahmen sind die
                              Europäer von den Opfern ihrer Eroberungen nie direkt angegriffen worden -
                              der Kongo hat Belgien weder attackiert noch verwüstet, Indonesien hat
                              sich nicht an den Niederlanden vergriffen, Algerien nicht an Frankreich. Die
                              Liste ließe sich fortschreiben und würde erhellen, weshalb Europa durch
                              die Grausamkeit des 11. September derart schockiert worden ist. 
                              Die USA und die anderen Führer des Planeten haben dem "terroristischen
                              Monster" keinen Kampf von kurzer Dauer, sondern eine "Mission des
                              langen Atems" angekündigt. Und sie haben mit höchster Sorgfalt über die
                              Mittel entschieden, die gegen die Geißel des Terrorismus zur Anwendung
                              kommen, um einen Rückfall der modernen Welt in einen "Zustand der
                              Barbarei" zu verhindern. Und sie haben vor allem definiert, wie ein Rückfall
                              in die Barbarei erkannt werden kann. 
                              
Aus: Freitag 04, 18. Januar 2002
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