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Abwehrzauber: KRIEG DER KULTUREN

Wie Samual P. Huntington trotz Dementierung seiner Thesen die gegenwärtige Politik beeinflusst

Von Ulrike Baureithel

Wenn das 20. Jahrhundert die kommunistische Utopie entlarvt hat, dann wird das 21. Jahrhundert die Abschaffung des Liberalismus bedeuten. Doch niemand weiß, welche konkreten Ereignisse diese großen Tendenzen im Hinblick auf das 21. Jahrhundert einleiten werden, das meines Erachtens das erschütterndste und tragischste Zeitalter in der Geschichte der Menschheit werden wird." Dieses Zitat des vor drei Jahren verstorbenen Philosophen und Zeitdiagnostikers Panajotis Kondylis geistert derzeit in einer Chatliste durchs Internet und speist die Spekulationen, ob der Anschlag auf das New Yorker World Trade Center als dieses von Kondylis prognostizierte "konkrete Ereignis" zu interpretieren sei. Offenbar ist der Wunsch nach Sinngebung des scheinbar Sinnlosen so groß, dass jeder entfernteste Hinweis aufgegriffen wird, um das Unvorstellbare in einen handhabbaren geschichtsphilosophischen Deutungshorizont zu stellen. Der Privatgelehrte Kondylis eignet sich in diesem Zusammenhang besonders, weil er als Interpret des aufklärerisch-nihilistischen Erbes des französischen Philosophen Julien Jean Offray de La Mettrie einen radikalen Werterelativismus vertritt und als Zeitdiagnostiker dezidiert der These vom Ende der Geschichte widersprach, mit der Francis Fukuyama Anfang der neunziger Jahre den endgültigen Sieg des westlichen Liberalismus eingeläutet hatte.

Obwohl Kondylis Abgesang auf den Liberalismus in einigen Punkten erstaunliche Parallelen mit den in diesen Tagen allerorten ventilierten Positionen von Samual P. Huntington aufweist, ist es doch Huntingtons apokalyptische Prophezeiung vom clash of civilizations, die den New Yorker Ereignissen zu ihrem, wenn man so will, kulturkritischen Ausdruck zu verhelfen scheint. Der im wahrsten Sinne des Wortes inszenierte Zusammenstoß zwischen einem Symbol der Globalisierung mit einer antiwestlich gesteuerten "Gegenkultur" ist so eindrücklich, dass selbst das von Angstlust beförderte Bilderarsenal Hollywoods vor der Symbolkraft dieses Menetekels kapituliert. Inzwischen scheint sogar dem Autor selbst vor der auf satanische Weise eingelösten Prophetie zu schaudern, sodass Huntington sich in einem Interview beeilt, seine Thesen zu relativieren in der Weise, dass es sich beim Anschlag auf New York (noch) nicht um jenen von ihm vorhergesagten clash handele, sondern um einen "Angriff gemeiner Barbaren auf die zivilisierte Gesellschaft der ganzen Welt."

Eben diese Formel bemühen sich derzeit auch Politiker und Medienleute einzuschärfen. Von Ex-Kanzler Helmut Schmidt über die Vertreter diverser Parteien bis hin zu Sabine Christiansen oder Beckmann wird man nicht müde, die Differenz zwischen der Mehrheit friedlicher Muslime und einer kleinen Minderheit durchgeknallter Terroristen zu betonen. In dieser fast gebetsmühlenhaften Wiederholung spricht sich eindeutig die Angst aus, der clash könnte sich hinter unserem Rücken bereits vollzogen haben, und sie wirkt wie ein Abwehrzauber gegen die Brisanz der Bilder.

Dabei fallen Huntingtons Thesen vom "Kampf der Kulturen" auf ein semantisch gut vorbereitetes Feld. Seit zehn bis fünfzehn Jahren prägt die Rede von unversöhnlichen "Ethnien" und "Kulturen" die Diskurs- und Deutungsmuster für fast sämtliche Konflikte in der Welt. Während in den siebziger Jahren noch "Klassen" und "Interessen" den Interpretationsrahmen für nationale und internationale Auseinandersetzungen bestimmte und diese in mehr oder weniger komplexe "Welttheorien" integriert waren, scheinen nun ausschließlich "ethnische" oder "religiöse" Motive die Welt zu bewegen. Die Rede von den unterschiedlichen, religiös formierten "Leitkulturen" entpflichtet sich, Gruppen oder Staaten nach ihren "Leitinteressen" zu befragen und wirft sich statt dessen in überdrehte Zuschreibungs-Pirouetten. Kultur oder gar "Leitkultur" - das ist insbesondere aus der deutschen Geschichte zu lernen, die die Kultur-Zivilisations-Antithese militarisiert und in ein ideologisches Aufmarschgebiet verwandelt hat - sind zuvörderst deshalb Kampfbegriffe, weil niemand genau weiß, was damit eigentlich gemeint ist und wer sich aus der zivilisatorischen Gemeinschaft ausschließt: Nur die Menschen bedrohenden Attentäter vom WTC oder auch die chinesischen Gentechniker, die dieser Tage Mensch und Tier zu einem Hybridenwesen kreuzten?

Die Gründe für diese Umwidmung machtpolitischer Auseinandersetzungen in "Kulturkämpfe" liegen auf der Hand: Die ideologischen Zentren sind seit dem realen Zusammenbruch der Sowjetunion implodiert, und der weltweite Siegeszug des scheinbar universalen Kapitalismus hat andererseits einen Kulturrelativismus mit einer Vielzahl von separatistischen Gruppenidentitäten aufgetrieben. Huntingtons These von sechs (oder sieben) unterschiedlichen, divergierenden, aber ebenbürtigen "Kulturkreisen", die sich um das Merkmal Religion gruppieren und im Idealfall ein Kernland haben, war, als sie auf den Markt geworfen wurden, keineswegs originell, doch sie schien eben jenes Deutungsvakuum zu füllen, das das Ende des Kalten Krieges hinterlassen hatte. Dass sie - bei aller Klage über den westlichen Wertezerfall - die mögliche kriegerische Auseinandersetzung zwischen den "Kulturen" (Huntington nennt das "Bruchlinienkriege") in den Bereich ernsthafter strategischer Überlegungen hob und den Islam als gefährlichste, weil militanteste Form kultureller Separation erkannte, machte das Traktat auch anschlussfähig für die politische Rechte in aller Welt. Die zahlreichen Hinweise Huntingtons auf den bevölkerungsstarken, jungen Islam sind darüber hinaus geeignet, rechte Überwältigungsphantasien zu nähren.

Einmal abgesehen von der self-fulfilling-prophecy, die man in Huntingtons Buch entdecken (und verwerfen) mag, lesen sich nach dem 11. September 2001 einige Passagen in mancherlei Hinsicht aufschlussreich. Trotz des Zugeständnisses des Eigenwerts jeder Kultur hebt Huntington die besondere Rolle des westlichen (bedrohten) Zivilisationskreises hervor, weil sein universalistischer Anspruch andere Kulturen dazu zwinge, sich zu ihm zu verhalten. Auf diesen enormen Integrationsdruck macht Huntington drei mögliche Reaktionsweisen aus: Verweigerung von Modernisierung und Verwestlichung, die Annahme von beidem oder Modernisierung bei gleichzeitig verweigerter Verwestlichung. Dem Verweigerungskurs etwa folgte Japan bis ins 19. Jahrhundert, während der türkische Kemalismus beides annahm; in afrikanischen Ländern war die Verwestlichung oft eine Voraussetzung der Modernisierung, es gibt aber auch Gegenbeispiele, etwa in islamischen Ländern: Dort nämlich verhindert die antiwestliche Haltung keineswegs die Modernisierung, im Gegenteil, so Huntington, "stärkt Modernisierung vielmehr diese Kulturen und verringert die relative Macht des Westens."

Diese signifikante Differenz von Modernisierung und Verwestlichung scheint sich gegenwärtig zu bestätigen, wo radikal-religiöse, antiwestlich ausgerichtete Gruppen und Personen eben die technischen Mittel der Zivilisation nutzen, um diese anzugreifen. Wenn bin Laden etwa an der Börse spekuliert, um die finanziellen Mittel für terroristische Aktionen zu beschaffen; wenn moderne Telekommunikationsmittel geeignet sind, derartige Aktionen zu planen und wenn die technischen Gerätschaften, die die westliche Zivilisation hervorgebracht hat, selbst zu Waffen gegen diese umgemünzt werden, dann ist dies ein schauerliches Paradox, das dieser Ungleichzeitigkeit entspringt.

Aufmerksam macht Huntington auch auf die Rekrutierungsbasis des radikalen Islamismus, die keineswegs in rückständigen ländlichen Gebieten, sondern in den modernen Metropolen zu suchen ist unter jenen jungen, mobilen, gut ausgebildeten und modern orientierten Migranten, die ihrerseits unmittelbare Produkte des Modernisierungsprozesses in den betreffenen Ländern sind. Dabei liefert die islamistische Bewegung nicht nur identitätsbildende Orientierungshilfe, sondern auch ganz pragmatische Lebenshilfe und soziale Solidarität durch ihre zahlreichen Bildungs- und Wohlfahrtseinrichtungen, die vielfach die danieder liegenden staatlichen Institutionen ersetzen.

Gibt die technische Zivilisation also die Mittel an die Hand, den als "Heiligen Krieg" verbrämten Kampf gegen die Ungläubigen zu führen, ist die westliche Assimilationspolitik wiederum geeignet, die "Kämpfer" getarnt und unscheinbar untertauchen zu lassen. Kaum eine Meldung beunruhigt derzeit die deutsche Öffentlichkeit mehr, als dass die Attentäter von New York jahrelang unerkannt unter uns lebten und in aller Ruhe ihren mörderischen Plänen nachgingen. Man fühlt sich an Carl Schmitts Partisan erinnert, der "weich, nicht hart" in seinem Erdloch - sei es nun in Afghanistan oder in den anonymen studentischen Waben der Metropolen - ausharrt, bis er aus dem "Nichts" den "Neuen Menschen" gebiert.

Wieder ist der Generalverdacht, den wir zumindest in Westdeutschland aus dem Jahre 1977 noch allzu gut kennen, allgegenwärtig. Wer den Mördern Unterschlupf bietet oder sie ideell unterstützt, gehört zu den "Bösen", die ausgetrieben werden müssen. Dem dienen die geplanten neuen Sicherheitsgesetze und Überwachungsmaßnahmen, die wie auch immer identifizierte "Risikogruppen" ins Visier nehmen. Gleichzeitig produziert der allseits zwar dementierte, aber unterschwellig längst währende "Krieg der Kulturen" vorauseilende Distanzierungs- und Loyalitätsgesten aller Art. Wenn amerikanische Intellektuelle sich kaum mehr trauen, nach den Ursachen des Terrors zu fragen oder man sich verdächtig macht, wenn Bündnistreue mit den USA nicht um jeden Preis proklamiert wird, dann ist es mit dem schönen kulturellen Relativismus vorbei und das neue dezisionistische Zeitalter angebrochen.

Wie unmittelbar Huntington in diesem Sinne als politische Handlungsanweisung gelesen werden kann, zeigt sich, wenn man im Kapitel "Die Resurgenz des Islam" liest, wie "das Netzwerk von Moscheen, Wohlfahrtseinrichtungen, Stiftungen und anderen muslimischen Institutionen" dem islamistischen Fundamentalismus als Tarnung dient. Der in der Bundesrepublik geplante Fall des Religionsprivilegs und das Verbot islamischer Vereine kann ebenso als Reaktion auf derlei Analysen gelesen werden wie der Vorschlag aus der CDU, einen "Nationalen Sicherheitsrat" einzurichten.

Zu den nachhaltigsten Denkfehlern des Huntington-Modells vom clash of civilizations aber gehört die Vorstellung von rundum abgedichteten "totalen Kulturen" mit einer Gruppen von Menschen bestimmenden "Wesensart". Da Kulturen jedoch in Raum und Zeit existieren und weder physikalisch noch biologisch begründbar sind, sondern in einem lebendigen Beziehungs- und Austauschverhältnis zueinander stehen, ist diese oppositionelle Betrachtung völlig obsolet. Die Kriegsfront, von der in diesen Tagen aus den USA so häufig zu hören ist, wird keine zwischen den "Kulturen" sein, aber vielleicht eine, die die "politischen Kulturen" - die des Interessensausgleichs und die rabiater Wertentscheidungen - auf die "dezisionistische" Probe stellt.

Aus: Freitag, 39, 21. September 2001

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