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Die vergessenen Kriege

Hamburger Friedensforscher legten internationale Konfliktbilanz dieses Jahres vor / Keine Entwarnung trotz konstanter Zahl von weltweit 43 bewaffneten Kämpfen

Im Folgenden dokumentieren wir einen Artikel, der sich mit den neuesten Ergebnissen der Arbeitgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF) an der Uni Hamburg befasst. Eine entsprechende Presseerklärung von AKUF (mit Grafiken und einer Übersicht über die Kriege des Jahres 2006) ist als pdf-Datei hier herunterzuladen: "Zahl der kriegerischen Konflikte gegenüber dem Vorjahr unverändert".



Von Olaf Standke *

Nach den am Montag (18. Dezember 2006) vorgelegten Untersuchungsergebnissen der Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung der Universität Hamburg (AKUF) sind im ablaufenden Jahr 2006 weltweit 43 Kriege und bewaffnete Konflikte geführt worden.

Wieder über 50 Leichen am Wochenende allein in der irakischen Hauptstadt Bagdad, mindestens ein Dutzend Tote bei Gefechten gestern in Ostafghanistan, bürgerkriegsähnliche Zustände im Gazastreifen, zwei Millionen Menschen auf der Flucht vor den Kämpfen in Sudan – Meldungen über diese Brandherde schaffen es zumindest noch in die Medien. Der Krieg im Zweistromland, der »Antiterrorkrieg« am Hindukusch, der Krieg zwischen Israel und der Hisbollah in Libanon, sie vor allem bestimmten die Schlagzeilen im Jahr 2006. Für die meisten der 43 Kriege und bewaffneten Konflikte, die die Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung für das zu Ende gehende Jahr erfasst hat, aber gilt: vergessen und verdrängt.

Im Vergleich zum Vorjahr ist die Zahl der organisierten gewaltsamen Auseinandersetzungen konstant geblieben. Drei neuen stehen nach Einschätzung der Hamburger Konfliktforscher drei vorerst beendete gegenüber. Dazu gehört jene, die seit 1999 um die Unabhängigkeit der Provinz Aceh im Westen Indonesiens geführt wurde. Aber auch im Nordosten Indiens, wo die Bodos seit 1997 für mehr Selbstständigkeit kämpften, und in der Region Gambela im Westen Äthiopiens schweigen die Waffen jetzt weitgehend. In Nepal konnte inzwischen nach der Beschränkung der Macht des Königs durch die zivile Opposition ein Friedensabkommen mit den maoistischen Rebellen geschlossen werden. Dagegen eskalierten die Kämpfe in der Zentralafrikanischen Republik (ZAR) und in Osttimor. In der brasilianischen Metropole Sao Paulo, so die AKUF-Einschätzung, sei das öffentliche Leben durch bewaffnete Auseinandersetzungen mit einer ursprünglich als Selbsthilfeorganisation in den Haftanstalten gegründeten Gruppe zeitweise zum Erliegen gebracht worden.

Die Gesamtzahl der Kriege und bewaffneten Konflikte (zu den Definitionen siehe linke Spalte), die sich bis 2003 weltweit um ein Drittel verringert hat, ist seitdem mit jeweils 42 oder 43 konstant geblieben. Die Zahl der Kriege liegt seit vier Jahren unter 30 und damit auf dem niedrigsten Stand seit Mitte der 1960er Jahre. Seinen Höhepunkt habe das Kriegsgeschehen 1992 mit 55 Kriegen gehabt.

Trotzdem geben die Wissenschaftler keine Entwarnung und befinden sich da in Übereinstimmung mit ihren Kollegen vom Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung, das soeben sein alljährliches »Barometer« veröffentlicht hat und sogar einen Anstieg so genannter hochgewaltsamer Konflikte konstatiert: »Die Welt ist leider nicht friedlicher geworden«, so das Fazit von Pamela Jawad. Das Gleichbleiben der Zahl kriegerischer Konflikte sei auch deshalb trügerisch, heißt es im AKUF-Report, da einige der »andauernden« Konflikte erst gegen Ende des Jahres 2005 eskalierten. »Dazu zählen vor allem die 2006 neu als Krieg eingestuften Auseinandersetzungen in Sri Lanka und in der pakistanischen Provinz Belutschistan.«

Es wird um Unabhängigkeit oder Vorherrschaft in einem Territorium gekämpft, religiöse, ideologische oder ethnische Spannungen lösen ebenso Kriege und Konflikte aus wie wirtschaftliche Interessen. »Einerseits haben wir immer mehr schwache Staaten und Regierungen wie in Sudan, Tschad oder Irak. Andererseits überschreiten immer mehr Konflikte die Staatsgrenzen«, analysiert Pamela Jawad. Dazu zählten etwa die Kämpfe in Sudan, die inzwischen auch Tschad und die Zentralafrikanische Republik ergriffen haben.

Die am stärksten betroffene Weltregion ist nach wie vor Asien mit 16 kriegerischen Konflikten. Mit 12 bzw. 11 Kriegen und bewaffneten Konflikten weisen aber auch Afrika wie der Nahe und Mittlere Osten ein erhebliches Spannungspotenzial auf. Damit bestätigt sich ein weiterer Trend der vergangenen Jahrzehnte: Weit über 90 Prozent aller Kriege finden in der »Dritten Welt« statt und treffen allem voran die Zivilbevölkerung. Als Konflikt mit den weltweit gravierendsten humanitären Auswirkungen sehen die Hamburger Wissenschaftler die Kämpfe in der sudanesischen Region Darfur.

Hier hat die internationale Gemeinschaft bei der Konfliktlösung bisher versagt. Insgesamt aber greift sie immer häufiger ein – nachdem einzelne Staaten vor allem aus dem reichen Norden aus eigenen wirtschaftlichen und geostrategischen Interessen heraus zuvor nicht selten eine unrühmliche Rolle gespielt haben. »Noch nie zuvor waren so viele UN-Friedenstruppen im Einsatz wie dieses Jahr mit 77 000 Uniformierten«, so Pamela Jawad.

Doch scheitern Friedensmissionen wie militärische Interventionen langfristig, wenn es kein Konzept für die nachhaltige zivilgesellschaftliche und wirtschaftlich-soziale Entwicklung in den Konfliktstaaten gibt. Über den Einsatz der europäischen EUFOR-Truppe zur Absicherung der Wahlen in der kongolesischen Hauptstadt Kinshasa etwa sei weitgehend in Vergessenheit geraten, dass im Osten des Landes immer noch schwere Kämpfe stattfinden, kritisiert die Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung in ihrer Bilanz für das Jahr 2006.

Lexikon

AKUF, die Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung der Universität Hamburg, veröffentlicht fortlaufend Daten und Analysen zum weltweiten Kriegsgeschehen und gibt ein Jahrbuch aller Kriege und bewaffneten Konflikte heraus. Das neueste erscheint im Frühjahr unter dem Titel »AKUF 2007: Das Kriegsgeschehen 2006. Daten und Tendenzen der Kriege und bewaffneten Konflikte«, hrsg. von Wolfgang Schreiber im VS – Verlag für Sozialwissenschaften Wiesbaden. Krieg definiert die AKUF in Anlehnung an den ungarischen Friedensforscher István Kende (1917-1988) als einen »gewaltsamen Massenkonflikt, der alle folgenden Merkmale aufweist:

(a) an den Kämpfen sind zwei oder mehr bewaffnete Streitkräfte beteiligt, bei denen es sich mindestens auf einer Seite um reguläre Streitkräfte (Militär, paramilitärische Verbände, Polizeieinheiten) der Regierung handelt;

(b) auf beiden Seiten muss ein Mindestmaß an zentralgelenkter Organisation der Kriegführenden und des Kampfes gegeben sein, selbst wenn dies nicht mehr bedeutet als organisierte bewaffnete Verteidigung oder planmäßige Überfälle (Guerillaoperationen, Partisanenkrieg usw.);

(c) die bewaffneten Operationen ereignen sich mit einer gewissen Kontinuität und nicht nur als gelegentliche, spontane Zusammenstöße, d. h. beide Seiten operieren nach einer planmäßigen Strategie, gleichgültig ob die Kämpfe auf dem Gebiet eines oder mehrerer Gesellschaften stattfinden und wie lange sie dauern.«

Kriege gelten als beendet, soweit Kampfhandlungen dauerhaft (für mindestens ein Jahr) eingestellt bzw. nur unterhalb der Schwelle der AKUF-Kriegsdefinition fortgesetzt werden.

Bei einem bewaffneten Konflikt handelt es sich um gewaltsame Auseinandersetzungen, bei denen die Kriterien der Kriegsdefinition nicht in vollem Umfang erfüllt sind.

Hintergrund

Da sich neun Zehntel aller gewaltsamen Auseinandersetzungen in der »Dritten Welt« und meist innerstaatlich abspielen, haben sich die so genannten Kleinwaffen als besonderes Treibmittel für Kriege und Konflikte erwiesen. Nach Einschätzung des Roten Kreuzes sind 95 Prozent der dabei Getöteten Opfer von Pistolen, Maschinenpistolen, Gewehren, Mörsergranaten, Panzerfäusten usw. Im Bürgerkrieg in der DR Kongo etwa sind über drei Millionen Menschen ums Leben gekommen – ohne flächendeckende Bombardierungen oder den Einsatz großer Waffensysteme. Waffen wie das deutsche G 3-Gewehr oder die russische Kalaschnikow erleichtern zudem den Missbrauch von weltweit rund 250 000 Kindern als Soldaten.

Etwa 600 Millionen Kleinwaffen sind im Umlauf und fordern jährlich rund 500 000 Todesopfer. Lieferanten sind nicht nur Waffenschieber aus der organisierten Kriminalität, sondern auch Staaten. Deutschland nimmt hier neben Russland, den USA, Italien, Brasilien und China einen führenden Platz ein, wie eine Studie des Forschungsprojektes Small Arms Survey (Genf) zeigt. Laut jüngstem Rüstungsexportbericht der Bundesregierung habe man 2005 Genehmigungen für Kleinwaffenexporte im Wert von 5,2 Millionen Euro an Entwicklungsländer erteilt – zehn Prozent mehr als im Vorjahr, wobei Revolver und Pistolen nicht einmal erfasst wurden.

Da die UN-Kleinwaffenkonferenz in diesem Jahr gescheitert ist, fehlt weiter ein internationales Abkommen für verbindliche Regeln und Standards des weltweiten Rüstungstransfers. Auf der ersten Konferenz vor fünf Jahren war lediglich ein völkerrechtlich nicht verbindliches Aktionsprogramm beschlossen worden. Ohne ein solches Regelwerk aber würden jeden weiteren Tag 1000 Menschen durch den Gebrauch von Kleinwaffen sterben, so Rebecca Peters, Chefin von IANSA, einem Internationalen Aktionsnetzwerk zu Kleinwaffen, zu dem 600 Nichtregierungsorganisationen gehören.

Olaf Standke



* Aus: Neues Deutschland, 19. Dezember 2006


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