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USA wollen Interkontinentalraketen mit nicht-nuklearen Sprengköpfen ausstatten

Russland: Es droht ein "neues Wettrüsten"

Von Viktor Litowkin, Moskau *

Die Ankündigung der USA, Interkontinentalraketen statt mit nuklearen mit nicht-nuklearen Sprengköpfen ausstatten zu wollen, droht, wenn nicht mit einer Atomkatastrophe, so zumindest mit einem erneuten Wettrüsten.

Das Hauptergebnis des jüngsten Besuches des russischen Verteidigungsministers Sergej Iwanow in Fairbanks (Alaska) war nicht die Einweihung eines Denkmals für die Flieger beider Staaten, die im Zweiten Weltkrieg gemeinsam gegen den Hitlerfaschismus gekämpft hatten. Auch nicht die Entscheidung, die militärtechnische Zusammenarbeit beider Staaten mit "einem konkreten Inhalt zu füllen", auch keineswegs die Verhandlungen zur Aufhebung der Sanktionen gegen die russischen Rüstungsunternehmen Rosoboronexport und Suchoj, die Washington offenbar unter erfundenem Vorwand verhängt hatte. Die größte Überraschung des bilateralen Treffens beider Verteidigungsminister war der Vorschlag Donald Rumsfelds, die Atomsprengköpfe der strategischen Raketen in Russland und in den USA zum Teil durch nicht-nukleare Ladungen zu ersetzen.

"Die USA prüfen die Möglichkeit, die nuklearen Sprengköpfe einiger ballistischer Interkontinentalraketen durch konventionelle zu ersetzen", sagte Rumsfeld. Wir möchten, dass Russland das Gleiche macht."

Der Vorschlag des amerikanischen Verteidigungsministers war alles andere als sensationell. Rund einen Monat zuvor hatten zwei ehemalige US-Verteidigungsminister, Harold Brown (1977/1981) und James Schlesinger (1973/1975), diese Idee auf den Seiten von The Washington Post thematisiert. Diese schlugen vor, amerikanische strategische Raketen, vor allem die ballistischen Raketen der Atom-U-Boote Trident-II D5, die jetzt mit teilbaren individuell gelenkten Sprengköpfen ausgestattet sind, mit nicht-nuklearen Sprengladungen auszustatten. Den beiden Ex-Ministern zufolge wären solche Sprengköpfe wirksamer im Einsatz gegen Terroristen als Flügelraketen oder Fliegerbomben. Mit solchen Raketen könnte etwa ein Terroristenlager schon wenige Minuten, nachdem die Aufklärung seine Koordinaten übermittelt hat, zerstört werden, so Brown und Schlesinger in ihrer Begründung. Man brauchte weder Bomber noch Flugzeugträger oder U-Boote in die Region zu schicken. Der Einsatz solcher Sprengköpfe sei billiger und dabei wirksamer.

Die Ausführungen von Brown und Schlesinger stießen bei Militärspezialisten auf berechtigte Kritik. Diese legten nahe, dass sich der Ersatz der Atomsprengköpfe bei strategischen Raketen durch nicht-nukleare nicht als Beitrag zur Bekämpfung des Terrorismus eigne. Die Terroristen von heute verstecken sich nicht im Gebirge und nicht in einer Höhle, sondern sie operieren in Großstädten wie New York, London (erinnert sei an die vereitelten Anschläge auf Flugzeuge der British Airlines) oder Madrid (Explosionen in Nahverkehrszügen). Mit strategischen Raketen nach Terroristen in europäischen Hauptstädten zu jagen, ist offensichtlich eine unsinnige und gefährliche Idee.

Das um so mehr, als die Sprengköpfe der strategischen Raketen, ob nuklear oder nicht nuklear, nicht nur zur Zerstörung von militärischen objekten (Kommandostellen, Raketenstartplätzen, Militärstützpunkten, Häfen oder Rüstungsbetrieben) bestimmt sind. Im Falle eines Krieges hat das Militär immer wichtige zivile Anlagen im Visier: Kraftwerke, darunter auch Atomkraftwerke, Staumauern von Wasserkraftwerken, Fernsehzentren und Regierungseinrichtungen, Brücken und so weiter. Der Krieg gegen Jugoslawien wie der Krieg im Irak wurde zwar ohne Einsatz strategischer Waffen geführt, dennoch führte er klar vor Augen, welche Objekte als erste angegriffen werden.

Konventionelle Sprengköpfe stellen auch für die zivile Bevölkerung eine große Gefahr dar. Die Explosivstoffe, mit denen die modernen konventionellen Sprengköpfe gespickt sind, haben eine gewaltige Sprengkraft, die einer nuklearen Ladung gleichkommt. Der einzige Unterschied besteht darin, dass die herkömmlichen Sprengladungen im Gegensatz zu den nuklearen die Gegend nicht verseuchen. Immerhin wenig Trost für diejenigen, die einem solchen Schlag ausgesetzt werden sollten - Überlebende würde es nicht geben, während die Beseitigung der Zerstörungen Jahre in Anspruch nehmen würde. Die Folgen wären viel schlimmer als die des Hurrikans Katrina in New Orleans.

Wenn eine Kernwaffenmacht feststellen würde, dass sie mit strategischen ballistischen Raketen angegriffen wird, hätte sie nicht genug Zeit, um erkennen zu können, was für einen Sprengkopf die abgefeuerte Rakete trägt, und würde sofort zurückschlagen, und zwar mit Atomraketen. Denn nur eine Atomexplosion kann eine anfliegende Schar von Sprengköpfen stoppen, egal ob sie nuklear oder nicht nuklear sind.

Ein weiteres Problem besteht darin, dass die nichtnuklearen Sprengköpfe die Planke senken würden, ab der der Einsatz strategischer Raketen möglich ist. Bislang kamen solche Raketen noch niemals bei militärischen Konflikten zum Einsatz. Ausgestattet mit Atomsprengköpfen waren die strategischen Raketen immer nur eine Abschreckungswaffe.

Nichtnukleare Sprengköpfe erheben diese Raketen zu einer neuen Waffenklasse und machen sie in einem konventionellen Krieg einsetzbar. Die politische Waffe wird somit zu einer Kampfwaffe, was der Menschheit mit äußerst negativen Folgen droht. Eine davon wäre ein neues Wettrüsten, ebenso aufwendig und unvoraussagbar wie zu Zeiten des Kalten Krieges.

Deshalb äußerte der russische Verteidigungsminister Sergej Iwanow im Gespräch mit seinem US-Kollegen tiefe Zweifel an der Vernünftigkeit dieser Idee. "Diese Pläne, auch wenn sie einen vorläufigen Charakter haben, lassen bei Russland bestimmte Fragen aufkommen", sagte Iwanow am vergangenen Sonntag auf einer Pressekonferenz zu den Ergebnissen seiner Gespräche mit Rumsfeld. "Ich bin jetzt nicht bereit, die Zustimmung Russlands zu dieser Initiative zu fixieren."

Donald Rumsfeld verstand diese Antwort auf die eigene Weise: "Kann sein, dass Sergej mich aus Moskau anruft und sagt, das ist eine gute Idee."

Die Militärexperten sind davon überzeugt, dass diese Idee bei Russland nie Unterstützung finden wird. Moskau will kein erneutes Wettrüsten mit Washington, egal aus welchen Motiven heraus.

* Quelle: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 30. August 2006 (Analysen und Kommentare);
http://de.rian.ru



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