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Atommächte modernisieren ihre Arsenale

SIPRI-Jahrbuch macht wenig Hoffnung auf substanzielle nukleare Abrüstung

Von Olaf Standke *

Die weltweite Abrüstung der Atomwaffen stagniert, mehr noch: Die Modernisierung der Arsenale werde weiter vorangetrieben, wie der am Montag in Stockholm veröffentlichte jährliche Report des Friedensforschungsinstituts SIPRI beklagt.

Augenzeugen an der bretonischen Küste dachten unlängst erschrocken, da würde ein Flugzeug ins Meer stürzen. Doch es waren Raketenteile. Der Testflug einer M 51 wurde zum spektakulären Flop. Vom atomgetriebenen U-Boot »Le Vigilant« in der Bucht von Audierne abgefeuert, zerstörte sich die 53 Tonnen schwere Interkontinentalrakete schon in der ersten Flugphase selbst. Sie gilt als neues Rückgrat der französischen Atomstreitmacht und kann bis zu sechs nukleare Sprengköpfe in verschiedene, mehr als 8000 Kilometer entfernte Ziele tragen. Bretonische Friedensgruppen protestierten umgehend gegen den Raketentest.

Doch nicht nur Paris betreibt ein umfangreiches Erneuerungsprogramm für seine Atomarsenale, wie das gestern präsentierte neue Jahrbuch zur Rüstung und Abrüstung des renommierten schwedischen Friedensforschungsinstituts SIPRI (Stockholm International Peace Research Institute) zeigt. Weltweit gebe es im Vergleich zu den Vorjahren zwar heute weniger Kernwaffen, doch würden weiter Milliarden für die Modernisierung der Sprengköpfe und ihrer Trägersysteme an Bord von Flugzeugen und U-Booten sowie von landgestützten Raketen ausgegeben. 2012 lag die Gesamtzahl aller atomaren Sprengköpfe nach Schätzungen der Wissenschaftler bei über 17 000 – entweder einsatzbereit, eingelagert oder zur Verschrottung vorgesehen. Ein Jahr zuvor waren es 1700 mehr, vor zehn Jahren sogar noch fast doppelt so viele.

Diese Entwicklung ist vor allem den Reduzierungsvereinbarungen zwischen Moskau und Washington geschuldet. Demnach befinden sich nun noch 8500 Atomsprengköpfe in russischem Besitz (zuvor 10 000), der US-amerikanische Bestand schrumpfte von 8000 auf rund 7700. Stabil blieben die Arsenale Frankreichs (300) und Großbritanniens (225). Schwieriger sei es, tragfähige Informationen über die Bestände Israels, Indiens und Pakistans sowie Chinas zu beschaffen. SIPRI geht von weiterhin 80 israelischen Atomwaffen sowie von 90 bis 110 indischen, 100 bis 120 pakistanischen und 250 chinesischen Nuklearsprengköpfen aus. Das seien jeweils zehn mehr als im Jahr zuvor.

Zudem gebe es eine neue unbekannte Größe, so SIPRI-Experte Shannon Kile: Lange Zeit habe man beim nordkoreanischen Nuklearprogramm ein großes Fragezeichen gemacht, aber nach drei Atomtests seien Fortschritte unübersehbar. »Wir wissen, dass Nordkorea über ein kleines Arsenal nuklearer Waffen verfügt, von einfacher Bauart, aber voll einsatzfähig.« Man vermutet über 30 Kilogramm Plutonium im Land, ausreichend für bis zu acht Sprengköpfe.

Ungeachtet aller Abrüstungsverheißungen hatten die USA, Russland, Großbritannien, Frankreich, China, Indien, Pakistan und Israel nach Erkenntnissen der Wissenschaftler im Vorjahr insgesamt etwa 4400 Atomwaffen im betriebsbereiten Zustand, so viele wie auch schon 2011. Und wie einst im Kalten Krieg wurden dabei knapp 2000 Sprengköpfe in erhöhter Bereitschaft gehalten und waren damit ständig einsatzfähig.

Die langfristigen Modernisierungsprogramme der Arsenale zeigten zudem, »dass Atomwaffen noch immer ein Zeichen von Status und Macht sind«, betont Shannon Kile. Delhi und Islamabad etwa seien dabei, neue Trägersysteme zu entwickeln und ihre Kapazität für die Produktion von spaltbarem Material für militärische Zwecke zu erhöhen. Israel soll deutsche U-Boote mit atomar bestückbaren Marschflugkörpern ausrüsten. Allen voran geben die Vereinigten Staaten sechs Milliarden Dollar für ein »Life Extension Program« (LEP) aus, ein Programm zur Verlängerung der Lebensdauer ihrer Atomwaffen. In diesem Rahmen sollen auch die in Deutschland stationierten B 61-Bomben modernisiert werden. Große Hoffnung auf eine weltweite nukleare Abrüstung haben die Stockholmer Friedensforscher vor diesem Hintergrund nicht.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 4. Juni 2013


Atomwaffen im Visier

Von Olaf Standke **

Zahlen können trügerisch sein. Das gilt auch für Atomwaffen. Denn obgleich ihre Anzahl in den vergangenen Jahren drastisch abgenommen hat, gibt es noch immer viel zu viele auf dieser Welt – rund 17 000 waren es im Vorjahr. Eine permanente existenzielle Bedrohung für die Menschheit, die nun wahrlich nicht primär von Nordkorea ausgeht, auch wenn das erst jüngst wieder so manche Schlagzeile zu suggerieren versuchte.

Eine anhaltend große Zahl nuklearer Sprengköpfe im Alarmzustand, von Russland bis zu den USA, von Israel bis Indien und Pakistan, in China, Frankreich und Großbritannien, das ist die eine Gefahrenquelle, auf die das jüngste SIPRI-Jahrbuch mit Blick auf die Kernwaffen hinweist. Eine andere Besorgnis erregende Entwicklung sieht das renommierte Stockholmer Friedensforschungsinstitut in den massiven Modernisierungsprogrammen der wichtigsten Atommächte, die ihre Arsenale mit Milliardenaufwand schlagkräftiger, flexibler und effektiver machen. Betroffen sind dabei auch jene US-amerikanischen Bomben, die noch immer auf deutschem Boden lagern – obwohl die schwarz-gelbe Regierung doch alles unternehmen wollte, um die Bundesrepublik endlich kernwaffenfrei zu machen. Doch solange Atomwaffen ein Zeichen von Status und Macht bleiben, bestehe kaum Hoffnung auf eine wirkliche weltweite Abrüstung, so die wenig optimistische Kernbotschaft der Friedensforscher.

** Aus: neues deutschland, Dienstag, 4. Juni 2013 (Kommentar)

Weitere Informationen zum SIPRI-Jahrbuch 2013:

Atomwaffen weniger, aber "besser" - Zu wenig "Friedensmissionen"
SIPRI-Jahrbuch 2013 veröffentlicht - Eine durchwachsene Bilanz (3. Juni 2013)




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