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Alles meinen Kunden

Alfred Krupp und die Seinen gingen als weltweite Händler des Todes in die Geschichte ein. Morgen begeht das wieder kriegerische Deutschland seinen 200. Geburtstag

Von Otto Köhler *

Schade, das ist heutzutage nun doch nicht zu toppen. Als am 26. April 1912 der Krupp-Konzern den 100. Geburtstag Alfred Krupps zugleich als Hundertjahrfeier der Firma Fried. Krupp AG beging, da tanzte beim Kanonenkönig Gustav Krupp von Bohlen und Halbach (1870–1950) der Kaiser Wilhelm Zwo mit seinen Prinzen an. Mit dabei: Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg, der schon bald das Deutsche Reich in den ersten Weltkrieg führte, mit allen seinen Kabinettsmitgliedern sowie die gesamte Generalität des Reiches samt allen Admiralen. Und Krupp-Generaldirektor Alfred Hugenberg, der 21 Jahre später Hitler an die Macht geleitete, hielt eine aufrüttelnde Rede gegen das allgemeine und gleiche Wahlrecht.

Morgen, am 200. Geburtstag des Konzernlenkers – das Unternehmen heißt nunmehr, nach Adolf Hitlers bedeutenden Förderern, Thyssen­Krupp – ist nichts vergangen und vorbei. »200 Jahre Krupp – Ein Mythos wird besichtigt« heißt die Ausstellung (bis 4. November) im Ruhr Museum auf dem Zollverein in Essen mit einem Sonderprogramm für Schüler.

Aufklärung ist von kompetenter Seite mit Warnung vor falschen Geschichtsbildern in Stellung gebracht: »Für viele Zeitgenossen war er der ›Dämon Krupp‹, der um des eigenen Profits willen die Kassen des Reichs plünderte und die Völker gegeneinander aufhetzte: ›Wenn es einst zum Weltkrieg kommt, und es bluten rings die Wunden, denkt der einzige, dem es frommt: Alles meinen Kunden‹, hieß es in einer an Böswilligkeit kaum noch zu überbietenden Karikatur im Satiremagazin Ulk.« Diese Verteidigung gegen Mißgünstige steht in dem Sammelband über Gustavs Schwiegervater »Friedrich Alfred Krupp im Kaiserreich« (München 2010), den Michael Epkenhans zusammen mit Ralf Stremmel vom Krupp-Archiv im zuständigen Verlag C.H. Beck herausgebracht hat. Epkenhans ist ein bedeutender Historiker, den ein geradliniger Weg von einer Dissertation über die wilhelminische Flottenrüstung, geschrieben im Jahr der friedlichen Revolution 1989, über die Mitarbeit an der Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte (1992) und die Leitung der Otto-von-Bismarck-Stiftung in Friedrichsruh (1996) schließlich in das Potsdamer Militärgeschichtliche Forschungsamt führte, wo er seit 2009 im Rang eines Forschungsdirektors dient. Noch heute bedauert Epkenhans, daß Friedrich Alfred Krupps »Nähe zum Kaiser, seine Unterstützung des Flottenbaus und seine vermuteten Gewinne« ein »Dauerthema leidenschaftlicher Debatten im Reichstag und in der Öffentlichkeit« werden durften.

Nähe zum Kaiser? Welchem eigentlich? »Mit dem tiefsten Respekt, mit der größten Bewunderung bin ich Euer Majestät sehr ergebener und untergebenster Diener«, schrieb Krupp, »ermutigt durch das Interesse, das Eure Erhabene Majestät für einen einfachen Industriellen gezeigt« im Januar 1868, und gab sich »der Hoffnung hin, daß vor allem die vier letzten Seiten, welche die Gußstahlkanonen darstellen, die ich für die verschiedensten hohen Regierungen Europas angefertigt habe, für einen Augenblick die Aufmerksamkeit Eurer Majestät auf sich lenken dürften und meine Kühnheit entschuldigen werden.« (Engelmann, S. 185)

Es war ein Katalog von Krupp-Kanonen mit den streng geheimen amtlichen Berichten der Preußischen Artillerieprüfungskommission, den Krupp hier Kaiser Napoleon III. zur gefälligen Bedienung überreichen ließ. Damals, als schon Krieg zwischen Preußen und Frankreich absehbar war. Doch der lehnte – Schneider-Creuzot war auch ein großzügiger Waffenkonzern – ab.

Dumm gelaufen. Hätte Napoleon III. angenommen, dann hätte Frankreich 1870 mit Krupps Kanonen gegen Krupps preußische Kanonen bei Sedan standgehalten. Und – mit etwas Glück: Dieses Deutsche Reich, das am 18. Januar 1871 im okkupierten Versailles ausgerufen wurde, wäre nie und nirgends zustande gekommen.

Gestohlene Vision

Zurück zu Krupps Pflichtverteidiger Epkenhans. Am 12. Dezember hatte er in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung für Deutschland ein anderes von der Krupp-Stiftung gefördertes Buch, Harold James’ »Krupp. Deutsche Legende und globales Unternehmen« (C.H. Beck, München 2011), zu loben: »Harold James meistert die keineswegs einfache Aufgabe überzeugend. Im Gegensatz zu vielen seiner Vorgänger, die durch Überzeichnung der Rolle Krupps als ›Händler des Todes‹ einen Beitrag zur Erklärung des deutschen ›Sonderwegs‹ leisten wollten, versucht er, ohne Scheu vor klaren Urteilen hartnäckige Legenden und historische Wahrheit voneinander zu trennen.«

Für solche Wahrheitsbemühungen ist James eine anerkannte Fachkraft. Er gehört zu jener Gruppe von Unternehmensforschern, die es hochwillkommen finden, wenn Historiker von den Firmen bezahlt werden, deren Geschichte sie untersuchen sollen. Ärzte erstellten doch auch keine rosigere Diagnose, nur weil sie für ihre Bemühungen ein Honorar bekommen. Und darum hat es nichts mit Geld zu tun, wenn James zu erkennen vermag, daß die Krupps keine Händler des Todes waren.

Die haben doch nicht nur Kanonen produziert; James bewundernd: »Hinter der Entwicklung der Besteckwalze steckte eine unternehmerische Vision.« Quatsch. Krupps Vision war Ideendiebstahl. Alfred Krupp weilte gerade unter falschem Namen zwecks Betriebsspionage in England, die Brüder hüteten das Haus, als ein Auftrag kam: Walzen mit seltsamen Ausbuchtungen. Die Brüder fanden heraus: Der Kunde will maschinell Besteck herstellen. Aus England befahl Alfred: Pläne abzeichnen. Nachbauen. Als Alfred nach Monaten zurückkehrte, überraschten die Brüder ihn mit einer kompletten Besteckwalze. Doch Alfred war noch schneller gewesen, er hatte längst die noch nicht existierende Kruppsche Löffelwalze belgischen Interessenten zum Verkauf angeboten und hatte für die gestohlene weitreichende Patente in halb Europa angemeldet.

Nein, die unternehmerischen Visionen der Krupps waren noch ganz anderer Art. Sie gingen schließlich bis hinein in den Arsch ihrer Arbeiter. Von einem seiner langen Besuche in Berlin ordnete Alfred Krupp an: »Ich will, wenn ich durch die Werkstätten wieder gehe, mich zu Hause fühlen und lieber den Platz leer sehen als einen Kerl, der nur Feindschaft im Herzen trägt, wie jeder Sozialdemokrat es tut.« Darum, so erging sein Befehl an das Direktorium, seien sämtliche Sozialdemokraten ohne vorherige Ankündigung zu entlassen. Inspektoren wurden eingesetzt, die die Abfalleimer in den Werken und Wohnanlagen durchsuchten nach verdächtigem Schriftgut. So wurde ein Arbeiter vor die Werktore gesetzt, weil die Wirtin ihm sein Butterbrot in eine unzulässige Zeitung eingewickelt hatte. Das betraf die Nahrung. Aber da gab es mehr zu forschen. Krupp stellte einen Inspektor ein, der das benutzte Klosettpapier – damals meist Zeitungsstücke – auf widersetzlichen Inhalt hin überprüfte.

Solche Ethik schweißte eine »Familie von Kruppianern« zusammen, von – wie jener andere, ebenfalls gelöhnte Forscher, Harold James, in seinem kostbar ausgestatteten Festband, zu erkennen vermag – »Mitarbeitern, die auf die Produkte ihrer Arbeit stolz waren und aus diesem Stolz ein Gefühl der Verbundenheit mit dem Unternehmen und den Kollegen schöpften«. Der Beck-Autor sieht darin zu Recht eine »Sozialphilosophie, die einen diametralen Gegenpol zu den Thesen von der entfremdeten Lohnarbeit bildete, die Alfred Krupps Zeitgenosse Karl Marx aufgestellt hatte.«

Preisgekrönte Rassenhygiene

Manchmal allerdings kann James etwas unpräzise werden. Er erwähnt einen von Friedrich Al­fred Krupp (1854–1902) initiierten »Aufsatzwettbewerb« und erläutert: »Die prämiierten Aufsätze sprachen sich für die Unterordnung des einzelnen unter den Staat und für eine staatliche Förderung der Eugenik und der Rassenlehre aus.« Doch James verschweigt, wer siegte: Der Erbforscher und Eugeniker Friedrich Wilhelm Schallmayer, dessen erstes Werk »Die drohende körperliche Entartung der Kulturvölker« (1891) kaum Aufmerksamkeit gefunden hatte, gewann mit seiner »Lehre vom Rassedienst« – Titel: »Vererbung und Auslese« – den ersten Preis.

Es wurde »das klassische Meisterwerk der deutschen Rassenhygiene«, wie der Naziprofessor Fritz Lenz urteilte, der schon 1931 gefordert hatte, das »untüchtigste Drittel der Bevölkerung« zu sterilisieren. Noch kurz vor seinem Tod vermerkte Friedrich Alfred Krupps Preisgekrönter für die 1920 erschienene vierte Auflage: Vom »Standpunkt der Volkshygiene« sei es »freudig zu begrüßen«, daß im März 1918 in München auf Grund einer Stiftung von Gustav Krupp eine Forschungsanstalt für Psychiatrie errichtet wurde, die der »geistigen und sittlichen Gesundheit und Leistungsfähigkeit des deutschen Volkes« gewidmet sei und »an deren Spitze E. Kraepelin« steht. Der hatte schon 1909 durchaus in Übereinstimmung mit Schallmayers preisgekrönter Schrift verlautbart: »Eine der schönsten Blüten unserer Gesinnung, die Menschenliebe, hat die Schattenseite, daß ihre Hilfe die Untauglichen und Bresthaften, insbesondere auch die geistig Minderwertigen und Kranken am Leben erhält.«

Der 1919 verstorbene Krupp-Preisträger durfte Hitler nicht mehr erleben. Alfred Ploetz, mit dem Schallmayer 1905 die Deutsche Gesellschaft für Rassenhygiene gegründet hatte, begrüßte 1933 den »Führer«, der »die deutsche Rassenhygiene aus dem Gestrüpp ihres bisherigen Weges durch seine Willenskraft in das weite Feld freier Betätigung führt«. Tatsächlich stand, dank Schallmayers Schrift, schon lange ein ganzes Netzwerk von Tötungsärzten bereit, die darauf gewartet hatten, vom »Führer« zur »Euthanasie« ermächtigt zu werden.

Mit der Menschenvernichtung in Auschwitz allerdings hatte Krupp nicht absichtlich zu tun. Dem Konzern ging es nur um Arbeitskräfte, als er am 8. September 1942 für ein dort neu zu errichtendes Werk bei den Kollegen der IG Auschwitz nachfragte, welche Vereinbarungen man mit der SS abschließen müsse, um vor Ort eine Zuteilung von KZ-Häftlingen zu bekommen. Doch da hatte Krupp dann in Auschwitz wie in Essen und anderswo überhaupt keine Probleme.

Hitler – das gute Pferd

Seit vierzehn Jahren, seit 1931, war Alfried Krupp von Bohlen und Halbach (1907–1967) förderndes Mitglied der SS. Doch jetzt – Anfang April 1945, die US-Army hatte ihn auf seiner Villa schon festgenommen, Hitler lebte in seiner Reichskanzlei noch zwanzig Tage – gab Alfried eine Erklärung ab, die bestätigt, wie sehr der preisgekrönte Sozialdarwinismus seiner Familie im Blut lag – oder war es doch das Krupp-Milieu? Er bekannte: »Es gibt keine Ideale. Das Leben ist ein Kampf für das ›Am-Leben-Bleiben‹. Für Brot und Macht. Ich rede geradeheraus, denn das ist notwendig in dieser bitteren Stunde der Niederlage. In diesem harten Kampf brauchten wir harte und starke Führung. Hitler gab uns beides. Nach den Jahren seiner Führung fühlten wir uns alle viel besser.«

Nach denen befragt, die nicht zu »uns allen« gehörten, gab Alfried Krupp zu Protokoll: »Als ich über die antijüdische Politik der Nazis befragt wurde und was ich davon wüßte, sagte ich, daß ich nichts von der Ausrottung der Juden gewußt habe und weiterhin daß: ›Wenn man ein gutes Pferd kauft, muß man ein paar Mängel hinnehmen.‹«

Es war die Niederlage für Hitler und die Wehrmacht. Es war aber nicht Krupps Niederlage. Es ist lediglich das Geständnis, wie sehr Krupp, ja die deutsche Industrie auf Hitler gesetzt hatte: »Wir Kruppianer sind keine Idealisten, sondern Realisten. (…) Wir hatten den Eindruck, daß Hitler uns solch eine gesunde Entwicklung bescheren würde. Tatsächlich hat er das getan.«

Alfried Krupp, seit 1943 offiziell Nachfolger des dement gewordenen Gustav Krupp, wurde 1948 in Nürnberg wegen unmenschlicher Behandlung seiner 170000 Zwangsarbeiter und wegen Plünderung (unter anderem in Griechenland) zu nur zwölf Jahren Haft und zum Entzug seines Vermögens verurteilt. Schon 1951 kam er durch einen Gnadenakt des US-Hochkommissars John McCloy wieder frei und erhielt seinen Besitz zurück. 1957 war er bereits – laut Time – der »reichste Mann in Europa«. Damals forderten ehemalige Zwangsarbeiter eine Entschädigung. Krupp bedauerte: Der Häftlingseinsatz sei auf »behördliche Anordnung« erfolgt.

Nach langem Hin und Her stellte sich jedoch heraus, daß Krupp für die Veräußerung eines Werks in Rheinhausen die Zustimmung des State Departments brauchte. Da stimmte er einem Abkommen zu und stellte sechs Millionen Mark zur Verfügung, für jeden anerkannten Antragsteller 5000 Mark. Sollten die sechs Millionen nicht reichen, wollte Krupp bis zu vier Millionen drauflegen. Mehr auf keinen Fall. Als das Abkommen Weihnachten 1959 bekanntwurde (London Sunday Dispatch: »die geizigste, kleinlichste und lächerlichste ›Gabe‹ in der jüngsten Geschichte«), wurde am ersten Weihnachtstag die Synagoge in Köln beschmiert: »Juden raus«. Innerhalb eines Monats kam es in über 700 Fällen zur Entweihung jüdischer Gotteshäuser und Friedhöfe in der Bundesrepublik.

Das Haus Krupp goß Benzin in das Feuer. Als eine nichtjüdische Gruppe von Zwangsarbeitern ebenfalls Entschädigung forderte, hieß es in einem Schreiben des Konzerns: »Sehr geehrter Herr, bezugnehmend auf Ihren Brief vom 7. Januar 1960 müssen wir Ihnen mitteilen, daß in Anbetracht der erheblichen finanziellen Belastungen betreffs der jüdischen KZ-Häftlinge wir uns bedauerlicherweise nicht in der Lage sehen, weitere Gelder zu erübrigen. Wir bitten um Ihr Verständnis.«

Jüdischer Betrug

Krupps Verständnis für die Juden aber setzte bald aus. Das kam so. 1944 forderte Krupp beim Kommandanten von Buchenwald 2000 Männer zur Zwangsarbeit an. Der KZ-Kommandant bedauerte: Er könne nur Frauen liefern, nicht mehr als 520 ungarische Jüdinnen, zwischen zwölf und 25 Jahre alt, in Auschwitz selektiert. Sie hatten mit ansehen müssen, wie ihre Eltern und Verwandten in die Gaskammern geschickt wurden. Bei Krupp ist man mit der gelieferten Ware unzufrieden. Die Mädchen werden mit Hundepeitschen zur Arbeit angetrieben, einige totgeschlagen. Trotz des Schnees sind ihre Füße nur in Lumpen gewickelt, die Schultern nur mit durchnäßten Decken geschützt. Als die US-Truppen nach Essen vordrangen, mußten die Mädchen verschwinden. Trotz aller Transportschwierigkeiten beschloß Krupp, alle Jüdinnen, die die Arbeit überlebt hatten, zur weiteren Veranlassung nach Buchenwald zu schicken. Am 17. März 1945 mußten sie bis Bochum laufen, wo der Zug nach Buchenwald für sie und weitere 1500 männliche KZ-Häftlinge bereitstand. Bis 1960 war man bei Krupp davon überzeugt, daß das Problem dieser weiblichen Arbeitskräfte seine Endlösung in Buchenwald gefunden hatte. Auch das Nürnberger Urteil gegen Krupp erwähnt: »Sie wurden unter Aufsicht der SS Richtung Osten gefahren. Mit Ausnahme einiger weniger, die kurz zuvor ausgerissen sind, wurde nichts mehr über das Schicksal der jungen ungarischen Jüdinnen von Krupp bekannt.«

Doch als die Mädchen 1945 in Buchenwald angekommen waren, hatte der Lagerkommandant sie abgewiesen und ihren ratlosen Bewachern erklärt, daß der Krieg jeden Moment zu Ende sein könne und er alle Hände voll zu tun habe, um wenigstens noch die im Lager befindlichen Juden beseitigen zu können. Der Zug fuhr weiter zum KZ Bergen-Belsen, doch dort marschierten kurz darauf die Amerikaner ein und befreiten die Mädchen. 394 Überlebende stellten fünfzehn Jahre später einen Entschädigungsantrag. Krupp-Biograph William Manchester schildert, wie Krupp-Anwalt Otto Kranzbühler diese Nachricht aufnahm: »Die Neuigkeit, daß die Buchenwalder Todesfracht nicht vernichtet worden war, verursachte den einzigen Temperamentsausbruch, den der Autor je an Otto Kranzbühler erlebte. In seinem Arbeitszimmer in der Düsseldorfer Arnoldstraße 15 erzählte ich ihm, daß 311 der 394 eingereichten Anträge genehmigt worden waren. Er ballte eine Hand zur Faust und schlug sie gegen den anderen Handteller. ›Man hat uns im Justizpalast getäuscht!‹ sagte er. ›Wie konnten mehrere hundert Menschen verschwunden sein? Das ist unmöglich!‹«

Auch den Krupp-Generalbevollmächtigten Berthold Beitz hat das Auftauchen der Jüdinnen verbittert. Auf die Bitte, Krupp möge angesichts der größeren Zahl der Antragsteller die Entschädigungssumme erhöhen, entgegnete er barsch: »Ihrem Brief über den bisherigen Verlauf des Anmeldeverfahrens haben wir u.a. entnommen, daß sich unter den Anspruchstellern 400 Ungarinnen befinden, von denen im Nürnberger Urteil ausgeführt ist, daß sie durch Krupp der Vernichtung preisgegeben worden seien. Diese Unrichtigkeit hat zusammen mit anderen Verzerrungen sicherlich mit zu der hohen Freiheitsstrafe, zu der Herr von Bohlen verurteilt wurde und die er zum erheblichen Teil abgebüßt hat, beigetragen. Hierfür gibt es keine Wiedergutmachung, nicht einmal eine moralische in der Weltöffentlichkeit. Sie werden verstehen, daß diese Erkenntnis in unserem Hause mit Bitterkeit empfunden wird.« Tatsächlich ist es eine unverständliche Lücke in der bundesdeutschen Wiedergutmachungsgesetzgebung, daß fleißige und pflichtbewußte deutsche Industrielle, denen schwerer seelischer Schaden zugefügt wurde, keinerlei gesetzlichen Anspruch auf Entschädigung geltend machen können. Allerdings, die Auslieferung der 400 Mädchen wurde zwar im Urteil erwähnt, zählte aber nicht zu den Urteilsgründen.

Der seinem Gegenstand verpflichtete Auftragsforscher Harold James kommt zu dem Ergebnis: »Die Firma Krupp hat zweifellos stark von der Rüstungswirtschaft profitiert, und ihr Umgang mit Zwangsarbeitern war verwerflich. Doch daß Krupp mehr gewesen sei als eines von vielen Unternehmen, die in ein dichtes Gespinst ideologisch verbrämter Unmoral eingebunden waren, nämlich eine treibende Kraft hinter den entscheidenden Weichenstellungen der NS-Politik, war eine absurde Vorstellung, abgeleitet aus einer vorgefaßten Meinung über den symbolischen und nationalen Charakter des Unternehmens.«

Und insofern – das darf und soll der Leser schließen – war es absurd, Krupp vor das Nürnberger Gericht zu ziehen.

Nicht der Konzern dankt am Ende dem Autor für diese Einsicht. Nein, umgekehrt, James selbst fühlt sich verpflichtet: »Mein Dank geht an die Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung für die finanzielle Unterstützung der für dieses Buch erforderlichen Forschungsarbeit. Professor Berthold Beitz, Vorsitzender des Kuratoriums der Stiftung, war so freundlich, mich zu mehreren angenehmen Gesprächen zu empfangen.«

Angenehm. Sehr freundlich. Das wäre doch nicht nötig. Aber bitte sehr. Sie haben es verdient.

* * *

Das sind Forschungsvoraussetzungen, die nicht jedem gewährt werden dürfen. Mir schon gar nicht. Dieser Tage entdeckte ich bei meinen Krupp-Recherchen eine gewichtige Dissertation aus dem Jahr 1997. Sie heißt »Geschichte vom Band. Die Sendereihe ›ZeitZeichen‹ des Westdeutschen Rundfunks«, umfaßt 853 Seiten und kostet 243 Euro, ist also sehr preiswert. Ein ganzes Kapitel »Der ›Kanonenkönig‹ Krupp« hatte die Promoventin Sabine Gerasch mit gekonnt gesetzten Anführungszeichen einer Sendung gewidmet, die ich verfaßte. Sie diagnostizierte: »Köhlers Sendungen zeichnen sich in aller Regel durch eine überaus deutliche Wertung des Autors aus. Dazu kommen eine häufig ironisierende Gestaltung und eine provozierende Wortwahl. All das führte bisweilen schon zu heftigen Reaktionen der Personen, die – nicht nur in ZeitZeichen – im Mittelpunkt eines Köhler-Beitrags standen und sich ungerecht behandelt fühlten.«

Gerasch über das Ergebnis im Fall Krupp: »Auf die Sendung vom 4. März folgte am 6. April eine Beschwerde der Fried. Krupp AG Hoesch-Krupp beim Intendanten des WDR. Auf eine Berichtigung oder Gegendarstellung wurde ausdrücklich verzichtet, vermutlich wohl wissend, daß die Voraussetzungen nicht erfüllt werden konnten.« Die Reaktion der zuständigen Redakteurin ist ebenfalls vermerkt: » (…) kann die Redaktion keine Verstöße gegen die journalistische Sorgfaltspflicht erkennen«.

Sabine Gerasch schrieb zu Beginn des Krupp-Kapitels: »Otto Köhler gehört zu den Stammautoren der Sendereihe. Er hat sich in seinen Sendungen mehrfach mit dem Nationalsozialismus und mit der Rolle der Industrie in diesem Regime befaßt (…).«

Der Westdeutsche Rundfunk hat und hatte nicht wenige Mitarbeiter wie mich. Das schafft Probleme. Gegen so etwas aber gab es beim WDR schon immer Programmreformen. Und das bedeutete: Im neuen Jahrtausend wurde die alte »ZeitZeichen«-Redaktion in Köln komplett aufgelöst, noch bevor der WDR auch sein »Kritisches Tagebuch« einstellte. Im WDR-Studio Dortmund machte sich eine frische ZeitZeichen-Redaktion ans neue Werk. Nur wenige Stammautoren wurden aufgefordert weiterzumachen – ich nicht.

Morgen gibt es ein neues ZeitZeichen, verfaßt vom WDR-Wirtschaftsredakteur Jörg Marksteiner: »26. April 1812. Der Geburtstag des Industriellen Alfred Krupp«. Mal hören, was da kommt.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 25. April 2012


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