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Waffen für die Welt

Halbzeit: Zwei Jahre Regierungskoalition von SPD und Grünen. Von Thomas Klein

Bevor Joseph Fischer seine Bilanz der jüngsten deutschen Außenpolitik am Mittwoch zog, trafen sich in Berlin Mitglieder von Gewerkschaften, von Umwelt- und Friedensorganisationen sowie zahlreichen Basisinitiativen zu einem »HalbZeit-Kongreß - Zwei Jahre Rot-Grün«. Neben Betrachtungen zur Umweltpolitik - hier bilanzierte Renate Backhaus vom BUND, der Atomausstieg sei in weite Ferne verschoben worden - und einer asylpolitischen Bilanz, die kurz und knapp mit der Formel »Kontinuität der Abwehr« (Heiko Kauffmann von Pro Asyl) charakterisiert wurde, gab es auch für den Bereich Rüstungsexportpolitik eine - aus Sicht der Nichtregierungsorganisationen (NGOs) - wenig erbauliche Kontinuität deutscher Politik. Der vor der Wahl angekündigte Politikwechsel fand nicht statt. Statt einer restriktiven Handhabung von Rüstungsexporten konnte sich die Industrie über eine willige Genehmigungspraxis freuen: Selbst heiklen Waffengeschäften stimmte der Bundessicherheitsrat zu.

Warum kein Veto?

Ein Bundespolitiker, der ungenannt bleiben möchte, brachte die Misere so auf den Punkt: Seit der Entscheidung, im Bundessicherheitsrat Beschlüsse nicht mehr nur im Konsens, sondern auch mit Mehrheitsvotum herbeiführen zu können, sei klar, daß mit den Stimmen von Schröder, Scharping und Müller notfalls gegen die noch stimmberechtigten Wieczorek-Zeul (Entwicklungsministerium) und Fischer (Außenministerium) »selbst solche Waffengeschäfte grünes Licht erhalten, die zu Oppositionszeiten heftig kritisiert worden wären«.

Zu Beginn der Regierungszeit stand in dem geheim tagenden Gremium ein Vetorecht zur Diskussion. Das hätte Handlungsspielräume eröffnet und dem gelegentlich zu hörenden Satz »wir können es doch nicht verhindern« der SPD-Ministerin Wieczorek-Zeul und des grünen Ministers einen Riegel vorgeschoben. Doch damals habe sich der Vertreter des Auswärtigen Amtes gegen ein solches Vetorecht gewandt: »Ihr werdet es doch nicht zulassen«, so sei sein Argument gewesen, »daß wir uns hier einem Veto des Entwicklungsministeriums beugen müssen«. Während Insider persönliche Rivalität an der Spitze der Ministerien als Motiv für dieses Verhalten heranziehen, ist es für andere ein Kalkül. Denn nun kann Fischer lapidar in der Fraktion erklären, er habe dieses und jenes Waffengeschäft verhindern wollen, aber die Mehrheitsverhältnisse im Bundessicherheitsrat ließen das nicht zu. Ein Vetorecht hätte ein solches Lavieren unmöglich gemacht.

So hat auch die jüngste Meldung, daß die Türkei von der hessischen Firma Fritz Werner eine Munitionsfabrik mit dem Segen des Bundessicherheitsrates erhalten wird, im Grunde nicht mehr überrascht. Obwohl mit diesem Beschluß noch einmal der Graben zwischen Forderungen aus Oppositionszeiten und Regierungshandeln deutlich wurde. Letztlich bleibt es dabei: Ob Panzerfäuste an Saudi-Arabien, eine Munitionsfabrik für die Türkei oder millionenschwere Rüstungsgeschäfte mit Südafrika, lateinamerikanischen Ländern oder Staaten in Spannungsgebieten des Nahen und Mittleren Ostens - in streng vertraulicher Sitzung entscheidet das Gremium unter Vorsitz von Bundeskanzler Gerhard Schröder noch stets, teils einmütig, teils mit drei zu zwei Stimmen, für die von der Industrie gewünschten Exportgenehmigungen.

Die kritische Öffentlichkeit hatte sich zuletzt auf die Frage »Leopard-Panzer für die Türkei?« konzentriert: Die von der Türkei geäußerte Absicht, nach einer Testphase möglicherweise bis zu 1 000 Kampfpanzer vom Typ Leopard 2 anzuschaffen, hatte im Herbst 1999 hohe Wellen geschlagen. Daß in der Zwischenzeit eine Reihe anderer heikler Rüstungsentscheidungen getroffen wurden, ist dabei etwas untergegangen. Es handelt sich bei diesen demnächst anstehenden Exporten sowohl um Geschäfte, die noch von der bei Rüstungsexportentscheidungen skrupellos agierenden Kohl-Kinkel-Regierung genehmigt worden waren, als auch um einige, die in den letzten zwei Jahren den Bundessicherheitsrat passierten.

Andererseits war die Lieferung eines Leopard-2- Kampfpanzers - wenn auch zunächst nur zu »Testzwecken« - tatsächlich der entscheidende Schritt, mit dem die Kluft zwischen den vor der Wahl geäußerten Absichten und in Parteiprogrammen der SPD und der Grünen festgehaltenen Grundsätzen und der realen Politik der neuen Bundesregierung für alle sichtbar wurde. In der Vergangenheit, konkret in einem Antrag von 1991, hatte sich die SPD- Bundestagsfraktion z. B. dafür ausgesprochen, in einer »künftigen deutschen Verfassung ein Verbot von Waffenexporten in Staaten außerhalb der NATO zu verankern«.

Bei den Grünen war das Verbot von Rüstungsexporten lange Zeit fester Bestandteil des Parteiprogramms; mehr noch, die Rüstungsproduktion sollte im Zuge eines vom Bund geförderten Konversionsprogramms reduziert und langfristig zugunsten der Produktion von sinnvollen Gütern eingestellt werden.

Bei den Waffenlieferungen an die Türkei ist ein weiterer Aspekt von großer Bedeutung: Im Zusammenhang mit der Entscheidung zur Lieferung eines Testpanzers erklärte die Bundesregierung von SPD und Grünen, auch sie habe - wie die Vorgängerregierung - keine Erkenntnisse, daß die bereits im Besitz der türkischen Armee befindlichen 400 Leopard-1- Panzer und andere deutsche Waffen gegen die kurdische Bevölkerung des NATO-Landes eingesetzt werden. So stellte sich vor einem Jahr die zugegebenermaßen eher rhetorisch gemeinte Frage: Gedächtnisschwund in der Hauptstadt?

Schließlich hatten ehemalige Oppositionspolitiker von SPD und Bündnis 90/Die Grünen wegen des wiederholt belegten Einsatzes deutscher Waffen gegen die kurdische Zivilbevölkerung 1994 eine Anzeige wegen »Beihilfe zum Völkermord« gegen den damaligen Außenminister Klaus Kinkel unterstützt.

Im Herbst 1999 kommentierten einige Zeitungen, SPD und Grüne hätten die Lügen der alten Bundesregierung geerbt und das Erbe willig angenommen. Die taz schrieb: »Aus den größten Kritikern der Elche werden plötzlich selber welche. Klaus Kinkel wird auf jeden Fall herzlich gelacht haben, als er lesen durfte, die Bundesregierung habe keine Erkenntnisse darüber, daß aus Deutschland gelieferte Waffen auch zur Aufstandsbekämpfung im Südosten der Türkei eingesetzt würden. Das muß ihm doch bekannt vorkommen - das ist doch von ihm! Hat man im Auswärtigen Amt etwa vergessen, die Textbausteine auszutauschen?« (taz, 3.3.99)

Zu Oppositionszeiten hatte u. a. Rudolf Scharping erklärt: »Im übrigen habe ich nicht verstanden, daß die Bundesregierung Waffen in die Türkei liefert, von denen man ja nicht ausschließen kann, daß mit ihrer Hilfe Frauen und Kinder zusammengeschossen werden. Das ist eine gottserbärmliche Politik. Wir sind der Auffassung, daß die Waffenexporte schlicht eingestellt werden sollten und daß es eine absolut restriktive Handhabung geben muß.« Die »gottserbärmliche Politik« scheint bei dem NATO-Partner Türkei, der nachweislich seit Jahren unter klarem Vertragsbruch deutsche Waffen einsetzt - was ein sofortiges Waffenembargo zur Folge haben müßte - automatisch Bestandteil der deutschen Rüstungsexportpolitik zu sein. Unabhängig von der politischen Zusammensetzung der Bundesregierung - »automatisch« kann hier auch mit den offiziell gerne benutzten Begriffen »Bündnistreue«, »strategische Interessen« oder »Lastenteilung in der NATO« übersetzt werden.

Rüstungsexportrichtlinien

Immerhin gewann mit der Leopard-2-Entscheidung die Diskussion darüber, wie die von den Regierungsparteien SPD und Bündnis 90/Die Grünen im Koalitionsvertrag vereinbarte Neufassung der Richtlinien beim Rüstungsexport konkret ausgestaltet werden sollen, erheblich an Fahrt. Am 19. Januar 2000 wurden vom Bundeskabinett die von einer Arbeitsgruppe erarbeiteten Richtlinien verabschiedet.

Was ist neu an den nun gültigen Richtlinien? Angekündigt wird die Vorlage eines jährlichen Rüstungsexportberichts, in dem die Bundesregierung die Exportgenehmigungen - in Abkehr zur bisherigen Praxis - aufgeschlüsselt darstellen will. Damit wird der alten Forderung vieler Antirüstungsexport-Initiativen entsprochen, mehr Transparenz in das »Geschäft mit dem Tod« zu bringen. Dennoch werden Rüstungsexportentscheidungen weiterhin in dem geheim tagenden »Bundessicherheitsrat« gefällt. Verschiedene NGOs haben eine Initiative gestartet, die verlangt, auch hier mehr Transparenz herzustellen. So fordert ein Aufruf von medico international: »Freie Sicht auf dunkle Geschäfte«, denn »die weitreichende gesellschaftliche Bedeutung von Rüstungsexporten duldet keine Geheimhaltung«.

Der vor kurzem vom Wirtschaftsministerium vorgelegte erste Rüstungsexportbericht ist eine herbe Enttäuschung: »Auf mehr als der Hälfte der Blätter altbekannte Dokumente. Eine detaillierte Statistik der erteilten Exportgenehmigungen, aber keine Einzeldaten über die realen Ausfuhren«, kommentiert Otfried Nassauer vom BITS (Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit). »Das muß anders werden - spätestens nächstes Jahr. Dann sollte die Bundesregierung endlich ermitteln, welche Rüstungsgüter welches Land im einzelnen erhielt.«

Neu in den Rüstungsexportrichtlinien ist der nun unmittelbare Bezug zur Situation im möglichen Empfängerland, und das liest sich so: »Der Beachtung der Menschenrechte im Bestimmungs- und Endverbleibsland wird (...) besonderes Gewicht beigemessen. Genehmigungen für Export von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern werden grundsätzlich nicht erteilt, wenn hinreichender Verdacht besteht, daß diese zur internen Repression im Sinne des EU- Verhaltenskodex für Waffenausfuhren oder zu sonstigen fortdauernden und systematischen Menschenrechtsverletzungen mißbraucht werden.« Und: »Genehmigungen für den Export von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern werden nur erteilt, wenn zuvor der Endverbleib dieser Güter im Empfängerland sichergestellt ist.« Insgesamt aber wird der Kriegswaffenexport in NATO- und EU-Staaten sowie einige der »NATO gleichgestellte Länder« nicht eingeschränkt.

Entsprechend fielen die Stellungnahmen von Antirüstungsexport-Initiativen aus: Zwar gebe es eine Reihe von Verbesserungen, aber auch die neuen Richtlinien bedeuteten nicht unbedingt den gewünschten und erhofften Rückgang an Waffenausfuhren. Gerade hinsichtlich der Ausdehnung der NATO und der EU nach Ost- und Südosteuropa sei die Formulierung der grundsätzlichen Nichteinschränkung Grundlage für einen weiterhin umfangreichen Rüstungsexport.

Theorie und Praxis

Die Befürchtungen von Antirüstungsexport-Initiativen und sich noch friedenspolitisch engagierenden Gruppen, die neue Regierung bediene ebenso wie die alte die Interessen der Rüstungsindustrie, sind von der Praxis bestätigt worden. Bisher sind nur sehr wenige Geschäfte bekanntgeworden, die nicht den Segen des Bundessicherheitsrates erhielten. Vielmehr haben sowohl die Bestellungen Südafrikas zur Realisierung eines in der Geschichte des Landes beispiellosen Aufrüstungsprogramms als auch die von Ländern Lateinamerikas geäußerten Wünsche nach Waffen made in Germany oder Bestellungen von Ländern des Nahen und Mittleren Ostens, hier vor allem des NATO-Partners Türkei, fast ausnahmslos grünes Licht aus Berlin erhalten. Im Falle Südafrikas mit dem Argument, wenn die alte Bundesregierung sogar viele Waffenlieferungen an das Apartheidregime genehmigt habe, könne die neue nicht einer demokratischen Regierung die Wünsche ausschlagen. Die gleiche Argumentation bei lateinamerikanischen Ländern. Nachdem die Zeit der Militärdiktaturen vorbei sei, könnten Waffenlieferungen nicht blockiert werden. Und bei Ländern des Nahen und Mittleren Ostens wird auf den dort vom Auswärtigen Amt entdeckten Demokratisierungsprozeß verwiesen - wenig überzeugend. Notfalls heben die offiziellen Darstellungen wieder - wie eh und je - die strategischen Interessen des Westens und eine angeblich mit Rüstungsaufträgen verbundene Sicherung von Arbeitsplätzen in der Bundesrepublik hervor.

In Zahlen liest sich das so: Nach Angaben des Friedensforschungsinstituts SIPRI, das den Ex- und Import konventioneller Großwaffen untersucht, nimmt die Bundesrepublik unter den weltweit größten Waffenlieferanten auch 1999 den vierten Rang ein. Mit Rüstungsexporten im Wert von 2,7 Milliarden Mark lag Deutschland nach den SIPRI-Angaben hinter den USA, Rußland und Frankreich und vor Großbritannien. Auch unter einer Bundesregierung von SPD und Grünen befindet sich Deutschland in der Spitzengruppe der Rüstungsexporteure.

Da Frankreichs Exporte zuletzt rückläufig waren, könnte in der nächsten SIPRI-Statistik - sollte sich diese Tendenz verfestigen - die Bundesrepublik an dritter Stelle auftauchen. Das ist schlicht das Gegenteil von dem, was viele Anhänger und Parteigänger der SPD und Bündnisgrünen und die in der Friedensbewegung engagierten Menschen vor zwei Jahren erwartet hatten, als es hieß: Kohl muß weg, ein Politikwechsel muß her. Das Volumen der deutschen Rüstungsexporte wird - trotz »restriktiver Bestimmungen« - weiterhin auf hohem Niveau bleiben. Dabei ist der Rang auf den von SIPRI erstellten Listen oder in den Statistiken anderer Friedensforschungsinstitute nicht das entscheidende, sondern die Tendenz. Und die sah nicht nur im SIPRI-Bericht so aus, daß zwei Länder erhebliche Steigerungsraten beim Rüstungsexport aufwiesen: Rußland und Deutschland.

Eine Tendenz, die sich auch in aktuellen Untersuchungen des US-Kongresses zum weltweiten Waffentransfer niederschlägt. Nach dem jüngsten Kongreß-Bericht, auszugsweise zitiert in der New York Times, sind die USA für mehr als ein Drittel der weltweiten Waffenverkäufe mit einem Gesamtvolumen von fast 65 Milliarden Mark verantwortlich. Auf Platz zwei folgt Rußland, das den Wert seiner Waffenexporte von 5,5 im Vorjahr auf über 10 Milliarden Mark erhöhte. Als »größter europäischer Waffenlieferant« schlägt in den Untersuchungen des US-Kongresses Deutschland zu Buche, das mit einem Exportvolumen von 8,5 Milliarden Mark deutlich vor den Konkurrenten Frankreich und Großbritannien liegt.

Außenpolitische Kontinuität

Die offiziell gebrauchte Formel von der »Kontinuität deutscher Außenpolitik« (Minister Fischer) bedeutet im Rüstungsexportsektor, SPD und Grüne setzen die konflikt- und krisenverschärfende Politik der ehemaligen Kohl-Kinkel- Regierung fort. Schon beim Stichwort »Waffenlieferungen an Saudi-Arabien« hätten alle Alarmglocken läuten müssen. Aber auch bei der Genehmigung der Munitionsfabrik für die Türkei sind nennenswerte Proteste ausgeblieben. Die Friedensbewegung in der Bundesrepublik muß sich neu formieren. Auch die Rüstungsexportpraxis kann nur durch Druck von unten geändert werden.

Aus: junge welt, 26. Oktober 2000

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