Neuer Abrüstungsvertrag: Kuhhandel um Topol-Raketen und Raketenabwehr
Von Ilja Kramnik *
Am 8. April haben Russland und die USA einen Vertrag zur weiteren
Reduzierung und Einschränkung von strategischen Offensivwaffen
(START-Vertrag) unterzeichnet.
Der in Prag geschlossene Vertrag soll gleich zwei Dokumente ersetzen:
Den START-1-Vertrag, den die Sowjetunion und die USA 1991
unterzeichneten und der im Dezember 2009 abgelaufen war, sowie das
SORT-Abkommen, das Russland und die USA 2002 besiegelten.
Der neue Vertrag begrenzt die Atomwaffenarsenale der beiden Länder auf
1550 Gefechtsköpfe, wie bereits früher berichtet wurde. Die Zahl der
stationierten Träger ist auf 700 Stück für jede Seite begrenzt worden.
Die Gesamtzahl inklusive der Träger, die nicht stationiert sind, beläuft
sich auf 800 Stück. Die Träger schließen Startrampen für ballistische
Interkontinentalraketen, ballistische U-Boot-Raketen und schwere Bomber ein.
Die neue Konstellation des strategischen atomaren Gleichgewichts lässt
sich dem Vertrag zufolge mit folgenden Aspekten darstellen.
1. Anders als bei START-1 werden im neuen Vertrag die Fläche und Zahl
der Stellungsräume der mobilen bodengestützten Raketensysteme
(beispielsweise Topol, Topol-M, Jars) nicht beschränkt.
2. Der Vertrag setzt rigorose Grenzen für die Zahl der eingelagerten
Träger. Auch die Gesamtmaximalzahl der Träger wird stark begrenzt. Das
gleicht die Möglichkeiten der USA und Russlands zur Erhaltung der
Atomwaffenarsenale in großem Maße aus.
3. Der Vertrag enthält keine Beschränkungen für die Entwicklung der
US-Raketenabwehrsysteme (ABM-Systeme). Dabei wird aber die Verknüpfung
zwischen den Defensiv- und Offensivwaffen anerkannt.
Russland hat sich das Recht vorbehalten, aus dem Vertrag auszusteigen,
falls es sich bedroht fühlt durch den Aufbau der amerikanischen
ABM-Systeme. Dieses Recht wird in einer Sondererklärung festgehalten,
die die russische Seite gleichzeitig mit dem Vertrag unterzeichnete. Die
Seiten haben sich auch darüber geeinigt, dass die zurzeit existierenden
ABM-Systeme die Effizienz der strategischen Offensivwaffen nicht
beschränken.
Dabei ist die Schaffung eines effizienten Raketenabwehrsystems nahezu
ausgeschlossen, weil die Stellungsräume der mobilen Startrampen nicht
beschränkt sind. In absehbarer Zeit wird kein ABM-System errichtet
werden, das die Raketen dieser Systeme abfangen könnte.
4. Die Vertragsseiten können die Struktur ihrer atomaren Streitkräfte,
also das zahlenmäßige Verhältnis zwischen den luft-, see- und
bodengestützten Trägern selbst bestimmen. Sie können auch neuartige
Raketen und andere Träger in Dienst stellen, solange sie sich
gegenseitig darüber in Kenntnis setzen. Das heißt unter anderem, dass
Russland den Bau von Raketensystemen auf Eisenbahnen wieder aufnehmen kann.
5. Die Zahl der stationierten bodengestützten Raketen mit einzeln
lenkbaren Mehrfachgefechtsköpfen wird nicht beschränkt. Das bedeutet,
dass Russland die Gruppierung der Raketen des Typs RS-20 und RS-18
erhalten und neue Raketen mit einzeln lenkbaren Mehrfachgefechtsköpfen
entwickeln kann.
6. Der Vertrag verbietet die Stationierung von strategischen
Offensivwaffen außerhalb des eigenen Gebiets der Vertragspartner. Das
schützt die Welt vor möglichen Wiederholungen von Zwischenfällen wie der
Kuba-Krise und erleichtert den Vertragspartnern erheblich die
gegenseitige Kontrolle der strategischen Waffen.
7. Die juristische Begrenzung der Zahl der Sprengköpfe auf 1550 Stück
wird jedoch nicht mit der faktischen Zahl übereinstimmen. Der Vertrag
setzt nämlich neue Regeln bei der Zählung der atomaren Sprengköpfe. Den
neuen Regeln zufolge entspricht ein schwerer Bomber einem Gefechtskopf.
In der Realität kann ein Bomber allerdings je nach Typ 12 bis 24 Raketen
oder Bomben tragen. Somit wird die tatsächliche Zahl der Gefechtsköpfe
rund 2100 für Russland und rund 2400 für die USA, die etwas mehr schwere
Bomber haben, betragen. Die amerikanischen B1-B-Bomber sollen allmählich
aus dem Dienst der atomaren Truppen genommen und für konventionelle
Waffen umgebaut werden. Das wird den Einsatz von Atomwaffen mit diesen
Trägern ohne deren zeitraubenden Rückumbau ausschließen. Damit wird der
Abstand zwischen Russland und den USA allmählich kleiner werden.
Außer dem Vertrag haben die Parteien einen Protokoll unterzeichnet, der
die Termini des Vertrags definiert und neue Verfahren zur Kontrolle über
seine Umsetzung festlegt. Dieses umfangreiche Dokument muss noch geprüft
werden. Doch der erste Eindruck zeigt, dass beide Verhandlungsteams
penibel gearbeitet haben, um die Positionen der beiden Seiten so weit
wie möglich zu präzisieren, damit alle möglichen Unklarheiten vermieden
werden.
Im Endeffekt ist die Unterzeichnung des neuen START-Vertrags ebenso für
Russland wie für die USA von Vorteil. Dieses Dokument kann für die
anderen Atommächte, von denen jetzt der Anschluss an die
russisch-amerikanischen Abkommen erwartet wird, als Vorbild dienen.
* Die Meinung des Verfassers muss nicht mit der der RIA Novosti
übereinstimmen.
Aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 9. April 2010;
http://de.rian.ru
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