Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Gefährlicher als Terrorismus?

Der Wirtschaftsabsturz und die weitere Militarisierung der Weltpolitik

Von Peter Strutynski *

Die Fragestellung meines Referats ist natürlich rein rhetorischer Art. Selbstverständlich ist die gegenwärtige Weltwirtschaftskrise gefährlicher als der Terrorismus. Und dies aus drei Gründen:

1. Vieles von dem, was seit dem 11. September 2001 als „Terrorismus“ wahrgenommen oder politisch und medial kommuniziert wird, stellt für die Menschheit, und um die sollte es ja gehen, keine besondere Bedrohung dar. Dies gilt jedenfalls dann, wenn wir die Schäden und Wirkungen terroristischer Verbrechen in Beziehung setzen zu anderen Beeinträchtigungen und Schädigungen von Menschen etwa infolge von Unterentwicklung, Hunger, pandemischen Krankheiten, Massenarbeitslosigkeit, Armut und Umweltzerstörung. Hierzu nur ein Beispiel: 100.000 Menschen sterben täglich an Hunger oder seinen unmittelbaren Folgen – meist in den 122 Ländern der Dritten Welt, in denen 4,8 Milliarden Menschen leben. Nach Jean Ziegler, dem ehemaligen UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, ist Hunger zu einer „Massenvernichtungswaffe“ geworden (vgl. Ziegler 2005). Seit dem Millenniumsgipfel 2000, bei dem die Vereinten Nationen feierlich die Halbierung der Armut bis zum Jahr 2015 verkündeten, sind wir keinen Schritt voran gekommen. Zwar gab es, wie ein im November 2007 vorgelegte Entwicklungsbericht von Welthungerhilfe und terre des hommes zeigte, auf globaler Ebene durchaus „positive Trends“, etwa bei der Reduzierung der Zahl der Menschen, die in extremer Armut leben. Sie sank von 1,247 Milliarden 1990 auf 986 Millionen 2004. „Grund dafür (war) allerdings vor allem die positive wirtschaftliche Entwicklung in China, während in Afrika die Zahl der Armen selbst nach den optimistischen Prognosen der Weltbank von 298 Millionen (2004) auf 326 Millionen bis zum Jahr 2015 steigen wird. Insgesamt muss heute fast die Hälfte der Weltbevölkerung von weniger als zwei US-Dollar pro Kopf und Tag leben.“ (terre des hommes/Welthungerhilfe 2007.)

2. Auch Ziegler sprach von der „positiven wirtschaftlichen Entwicklung in China“. Das war vor zwei Jahren. Die gegenwärtige Krise macht auch um das bevölkerungsreichste und dynamischste Land der Erde keinen Bogen, weil seine Volkswirtschaft in vielerlei Hinsicht in die Weltwirtschaft integriert ist, insbesondere über seine starke Abhängigkeit von den Märkten der führenden Industrieregionen wie Nordamerika und Westeuropa. In noch viel dramatischerer Weise wirkt sich die weltweite Rezession auf die schwach entwickelten Länder und deren Bevölkerungen in der Dritten Welt aus, ein Prozess, der sich in den kommenden Monaten beschleunigen wird. Bereits heute leide über eine Milliarde Menschen unter chronischem Hunger, und die Zahl der Hungernden wächst unablässig weiter. Das erklärte der Sonderbeauftragte der Vereinten Nationen für das Recht auf Nahrung, Olivier De Schutter, also der Nachfolger von Jean Ziegler, am 6. April anlässlich der Vorlage einer Studie des UN-Entwicklungsprogramms (UNDP) in der UN-Vollversammlung (Olivier de Schutter 2009). Alle sechs Sekunden sterbe ein Kind an Unterernährung, sagte De Schutter. Schuld an der Katastrophe sei unter anderem der „unfaire internationale Handel“, der die erforderlichen Investitionen in die Landwirtschaft seit drei Jahrzehnten vielerorts verhindert habe. Der Präsident der Vollversammlung, Miguel d'Escoto Brockmann (2009), warnte in derselben Sitzung davor, dass das Heer der Hungernden unter der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise sowie den Auswirkungen des Klimawechsels noch mehr zu leiden habe als alle anderen. Ad Melkert vom UN-Programm für Entwicklung (UNDP) sprach im Anschluss an den G-20-Gipfel von London davon, „dass die Finanz- und Wirtschaftskrise gerade in eine humanitäre Krise umschlägt, vor allem in den ärmsten Ländern“. (Zit. n. Beutler 2009.) Zwar hatten die G20-Staaten den Entwicklungs- und Schwellenländern Hilfe zur Linderung der Krise zugesagt. Über den Internationalen Währungsfonds (IWF), die Weltbank und die Entwicklungsbanken wolle man Ländern helfen, die einen volkswirtschaftlichen Kollaps nicht mit eigener Kraft verhindern können. 1,1 Billionen US-Dollar werde man zur Verfügung stellen, der Welthandel solle mit Finanzierungshilfen in Höhe von 250 Milliarden Dollar angekurbelt werden. Vollkommen offen bleibt hingegen, wie viel Geld tatsächlich in die Hand genommen wird, wo dieses Geld hinfließt und wie viel davon unterwegs versickert.

Analysen über die Auswirkungen vergangener Wirtschaftskrisen belegen die Folgen sinkender Wirtschaftsleistung: Ein Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um drei Prozent lässt die Armut von Familien explodieren. Die Kindersterblichkeitsrate steige „geradezu mechanisch“ um 47 bis 120 pro 1000 Lebendgeburten an. Jüngste Wirtschaftsdaten bestätigen diese Sorgen. Man könne davon ausgehen, dass sich die Wachstumsraten der Entwicklungsländer im Jahr 2009 halbieren werden, so Peter Wolff vom Deutschen Institut für Entwicklungspolitik (Beutler 2009). Das bestätigt auch eine Weltbank-Studie (World Bank 2009): In 94 von 116 untersuchten Ländern sei ein akuter Abschwung zu beobachten. Die erste Folge ist Massenarbeitslosigkeit. So verlor Kambodscha 2008 bereits 30.000 Jobs in der Textilindustrie. In den Bereichen Schmuck, Autos und Bekleidung brachen in Indien im letzten Quartal 2008 eine halbe Million Stellen weg. Laut Weltbank sind in Asien 140 Millionen Menschen von extremer Armut bedroht. Von Afrika – obwohl nur relativ schwach in den Weltmarkt integriert – gar nicht zu reden! Der schwarze Kontinent leidet unter Exporteinbrüchen bei Öl, Kaffee, Diamanten und Grunderzeugnissen. Die Spekulation des reichen Nordens mit Nahrungsmitteln habe zu einer massiven Verteuerung geführt - in Ruanda hätten sich die Preise für Lebensmittel und Energie vervierfacht. Benin, Burundi, Liberia, Mosambik und Niger stehen laut der Kindernothilfe vor dem Staatsbankrott.

Der "Krieg gegen den Terror" übertrifft die Zerstörungen des "Terorismus"

Ohne das Ausmaß und die Folgen terroristischer Anschläge verharmlosen zu wollen – die Blutspur von New York über London und Madrid bis nach Mumbai ist schlimm genug -, muss doch festgestellt werden, dass die „normale“ Kriminalität weltweit wesentlich mehr Menschen Leben und Gesundheit kostet als der internationale Terrorismus. Doch mit dieser normalen Kriminalität, mit Mord und Totschlag also, Menschenhandel, Vergewaltigungen und Kinderschändungen lassen sich keine Horrorszenarien und politische Strategien anleiten. Im Gegenteil: US-amerikanische Politikberater werten eine hohe Kriminalitätsrate sogar als einen Indikator für einen besonders hohen Grad an Entwicklung, als organischen Bestandteil der Wohlstands-oder Konsumgesellschaften sozusagen. Auch ein anderer Vergleich wäre anzustellen: Wie groß sind die zerstörerischen Wirkungen terroristischer Handlungen verglichen mit denen planmäßig verübter Militäraktionen im Rahmen des sog. „Krieges gegen den Terror“? Wie viele Zivilpersonen wurden z.B. in Afghanistan seit Oktober 2001 oder in Irak seit März 2003 getötet? Da es offizielle Zahlen hierüber nicht gibt, sind wir auf Schätzungen unabhängiger Quellen angewiesen. Und die sprechen von bis zu einer Million Menschen in beiden Ländern. (Siehe z.B. für Irak: Gilbert Burnham u.a. 2009.)

„Die Verflechtung von tiefer Rezession, finanzieller Kernschmelze, fortschreitender Umweltzerstörung und sozialer Polarisierung signalisiert eine Krise des gesamten neoliberalen Entwicklungstyps, der sich in den letzten 30 Jahren herausgebildet hat und mittlerweile zur Vorherrschaft gelangt ist.“ So heißt es im neuen Memorandum der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik (2009). Mein ökonomisch nicht geschulter Verstand sagt mir, dass der Super-GAU der Finanzmärkte auf lange Sicht wohl noch das geringere Problem sein wird. Die Deutsche Bank beispielsweise hat im letzten Jahr einen Milliardengewinn eingefahren und Bankchef Ackermann schraubt die angestrebte Gewinnmarge für die nächste Geschäftsperiode noch wesentlich höher. Auf der Hauptversammlung der Deutschen Bank verteidigte er sein zuvor verkündete und in der Öffentlichkeit auf Kritik gestoßene Renditeziel von 25 Prozent (Stern-online, 26.05.2009).

Das eigentliche Problem besteht darin, dass die Realwirtschaft in den Sog der größten Finanzmarktkrise seit 80 Jahren geraten ist. Die hektisch vorgenommenen Konjunkturstimulanzien, die jeden ökologischen Gedanken vermissen lassen, und die vorübergehend Linderung verschaffenden sozialen Abfederungsmaßnahmen von Massenarbeitslosigkeit werden nicht verhindern können, dass die Volkswirtschaften vieler EU-Länder in den nächsten Monaten in eine tiefe Depression verfallen werden. Und die Staaten, die zur Bekämpfung der Finanzkrise sehr tief in fremde Taschen gegriffen haben, werden jede noch so kleine konjunkturelle Erholung mit einer eisernen Sparpolitik im Keim ersticken. Somit wird die Depression länger anhalten als in früheren Zyklen. Hinzu kommt die Globalität der Krise, die kaum Nischen, Umwege oder Abkürzungsstrategien zulässt. Exportweltmeister Deutschland wird besonders stark darunter leiden, da der traditionell vernachlässigte Binnenmarkt die Einbrüche auf den Exportmärkten auch nicht annähernd wird ausgleichen können. Michael Krätke (2009) hat vor kurzem in einem Vortrag bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung die Besonderheit der gegenwärtigen Weltwirtschaftskrise damit erklärt, dass sie keinen Bereich auslässt. Es handelt sich um eine sechsfache Krise, deren einzelne Bestandteile über Rückkoppelungseffekte eine dramatische Abwärtsspirale in Gang setzen:
  • eine Krise des Welthandels,
  • eine Krise des internationalen Banken- und Kreditsystems,
  • eine Krise der Exportindustrien (hiervon wäre allein die deutsche Rüstungsexportindustrie auszunehmen),
  • eine Krise der Transport- und Kommunikationsindustrien,
  • eine Krise der neuen, exportorientierten Dienstleistungsindustrien und
  • eine Krise der internationalen Arbeitsteilung.
Diese Krisen sind zudem verbunden mit einer sich verschärfenden Welthungerkrise – ich habe darauf bereits hingewiesen -, einer weltweiten ökologischen Krise, einer Krise der Politik (die sich in fortschreitender Politikabstinenz und Politikerverdrossenheit äußert) sowie in einer „Glaubenskrise“ des Kapitalismus.

Nun macht allenthalben die Vokabel vom „Postneoliberalismus“ die Runde. Vor allem Sozialwissenschaftler, die nicht gelernt haben, in längeren historischen Zeiträumen zu denken, sondern in jedem Modetrend gleich einen Epochenwandel, mindestens aber einen Paradigmenwechsel zu erkennen meinen, verwechseln die Sinn- und Legitimationskrise, in der sich der Neoliberalismus zu befinden scheint, mit seiner wirklichen Krise. Dabei sind die vielen Schutzschirme, die der Staat – jetzt wo er selbst von den hartgesottenen Marktradikalen gerufen wurde – aufgespannt hat, überwiegend dazu da, den Status quo ante wiederherzustellen – vielleicht mit ein paar kosmetischen Zugeständnissen an sozialdemokratische Seelchen und den Arbeitnehmerflügel der CDU/CSU.

Der Charakter des weltweiten Kapitalismus bleibt unverändert

Nüchtern betrachtet wird sich der Charakter des weltweiten Kapitalismus, jenseits aller beschönigenden oder anklagenden Attribute, in seinem Wesen auf absehbare Zeit nicht ändern – jedenfalls sofern man eine soziale und politische Revolution ausschließt. Die Hauptkennzeichen der gegenwärtigen wirtschaftlichen, politischen, sozialen und regionalen Entwicklung des Weltkapitalismus und seiner Regulative sehe ich in Folgendem (vgl. zum Folgenden Strutynski 2003a):
  1. Die von der Welthandelsorganisation und dem Internationalen Währungsfonds gestützte Durchsetzung neoliberaler Grundsätze in der Wirtschafts- und Finanzpolitik fast aller Staaten der Erde hat vorübergehend einigen Schwellenländern genutzt, allerdings unter Inkaufnahme zunehmender sozialer Polarisierungen; die übrige Dritte Welt war dagegen überwiegend negativ betroffen. Inwieweit der IWF, der sich in den letzten Jahren harscher Kritik ausgesetzt sah, seine Kreditvergabepolitik grundlegend ändern wird, bleibt abzuwarten.
  2. Zahlreiche Staaten und Gesellschaften, die von der „Globalisierung“ ausschließlich negativ betroffen sind oder die aus ressourcialen und geostrategischen Gründen zum Objekt der Begierde der USA und der anderen führenden kapitalistischen Staaten werden, sind vom Staatszerfall bedroht und werden vollends marginalisiert. Damit einher gehen ihre Entsouveränisierung im internationalen Konzert und ihre Radikalisierung im Inneren.
  3. Damit hängt zusammen eine relativ ungehemmte Ausbreitung und Barbarisierung regionaler, zumeist innerstaatlicher Kriege und bewaffneter Konflikte insbesondere in der Dritten Welt und der ehemaligen „Zweiten Welt“. (Vgl. Strutynski 2001.) Da sie unter dem Generalverdacht stehen, Terrorzellen von Al Kaida zu beherbergen, geraten sie ins Visier der USA, der Europäischen Union, der NATO, Russlands und anderer Staaten.
  4. In den letzten Jahren stellen wir eine fortschreitende Umwandlung der Vereinten Nationen in ein Hilfsorgan der führenden Mächte, insbesondere der USA, fest. Die UNO soll im Wesentlichen nur noch auf zwei Funktionen reduziert sein: die Legitimierung militärischer Interventionen und die humanitäre Nachsorge in militärisch „befriedeten“ Staaten und in den von jeder Entwicklung abgekoppelten Hunger- und Katastrophengebieten der Erde. In dem Zusammenhang ist eine gemeinsame Erklärung der Generalsekretäre von UNO und NATO von Bedeutung. In der recht allgemein gehaltenen Erklärung vom 23. September 2008 geht es um „erweiterte Beratung“ und „operative Zusammenarbeit“, wie zum Beispiel bei der „Friedenserhaltung“ auf dem Balkan oder in Afghanistan. Beide Generalsekretäre, Ban Ki-moon und Jaap de Hoop-Scheffer, verpflichten sich bei Bedrohungen und Herausforderungen gemeinsam vorzugehen. (Vgl. Sponeck 2009.) Eine solche Erklärung ist aus verschiedenen Gründen ungewöhnlich und mit zentralen Prinzipien der UNO kaum vereinbar. So wird der wichtigste Unterschied zwischen beiden Organisationen: hier eine Weltorganisation gegenseitiger kollektiver Sicherheit, dort ein Militärbündnis ausschließender Sicherheit, schlicht übergangen. NATO und UNO begegnen sich nicht nur auf gleicher Augenhöhe, sondern als Bruderorganisationen, welche dieselben politischen Ziele verfolgen und dies auch auf „operativer Ebene“ durchsetzen wollen. Das Gewaltmonopol der Vereinten Nationen wird implizit aufgegeben durch die Anerkennung des Gewaltpotenzials der NATO. Des Weiteren wird offenbar akzeptiert, dass die NATO – entgegen ihrem eigenen Auftrag und der nach UN-Charta einzigen legalen Aufgabe, nämlich ein Verteidigungsbündnis im Rahmen des Art. 51 der UN-Charta zu sein – weltweit bei „friedenserhaltenden“ Maßnahmen eine ähnliche Rolle wie die UNO spielen solle. Schließlich verträgt sich die NATO-UNO-Erklärung nicht mit der Integrität des UN-Generalsekretärs, der allen 192 UN-Mitgliedstaaten verpflichtet ist, d.h. auch den möglichen Gegner der NATO. Unabhängig von der spekulativen Frage, wer hier durch wen instrumentalisiert wird: die NATO durch die UNO oder die UNO durch die NATO, drückt sich in dem Agreement ein Bedeutungsgewinn der NATO und ein entsprechender Bedeutungsverlust der Vereinten Nationen aus. Die Gipfelerklärung von Straßburg verbucht den NATO-UN-Deal als großen Erfolg. In Ziffer 19 heißt es hierzu: „Die gemeinsame VN-NATO-Erklärung vom letzten Jahr stellt einen wichtigen Schritt bei der Entwicklung der Zusammenarbeit dar und wird einen maßgeblichen Beitrag zur Bewältigung der Bedrohungen und Herausforderungen leisten, mit denen die internationale Gemeinschaft konfrontiert ist.“ (NATO 2009.)
  5. Ein weiteres Kennzeichen der gegenwärtigen postbipolaren Epoche ist der in den letzten Jahren immer deutlicher zum Ausdruck kommenden Drang der USA zum „Unilateralismus“, der von der komfortablen Situation einer uneinholbaren militärischen Stärke begleitet wird. Dieser Unilateralismus ist eng verbunden mit der achtjährigen Amtszeit von George W. Bush. Der neue Präsident pflegt einen anderen Stil. Bei all seinen Auslandsbesuchen, die er in den ersten 100 Tagen absolvierte, war das meist gehörte Wort von ihm, er wolle „zuhören“, was seine Partner zu sagen hätten, bevor er selbst Vorschläge macht. In der Sache freilich bleibt auch Obama der außenpolitischen Leitlinie seines Vorgängers und aller seiner Vor-Vorgänger treu: Die USA verstehen ihre Rolle in der Welt als „leadership“. Der frühere Präsidentenberater Zbigniew K. Brzezinski hat 2007 ein Nachfolgebuch seines bekannten Werks „Die einzige Weltmacht“ (1997) geschrieben. Sein neuer Bestseller heißt „Second Chance“ (Brzezinski 2007). Darin zieht Brzezinski eine Bilanz der US-Außenpolitik der letzten drei Präsidenten, insbesondere der Bush-Ära. Das Ergebnis seiner Analyse: Der ausgeprägte Unilateralismus und die brachiale Kriegspolitik der US-Administration der letzten acht Jahre hat die USA vom Erreichen ihrer geopolitischen Ziele – an denen Brzezinski selbstredend festhält - weit entfernt. Aus der Rationalität der Hegemonialmacht USA haben Bush und Konsorten alles falsch gemacht, was falsch zu machen war. Sie haben einen Keil durch Europa getrieben und sich (fast) die ganze arabische oder muslimische Welt zum Gegner gemacht. „15 Jahre nach seiner Krönung als globale Führungsmacht wurde Amerika eine furchtbare und einsame Demokratie in einer politisch antagonistischen Welt“. Lediglich auf dem militärischen Sektor sind die USA heute stärker als nach dem Ende der Sowjetunion. Doch die Fähigkeit des Landes „zu mobilisieren, zu inspirieren, eine bestimmte Richtung vorzugeben und somit die globalen Realitäten zu gestalten“, diese Fähigkeit sei „signifikant gesunken“. Amerika müsse, um wieder zu wirklicher Größe aufzusteigen, an Glaubwürdigkeit und Legitimität zurück gewinnen. Und der künftige Präsident müsse all sein politisches und diplomatisches Geschick einsetzen, um eine wahrhaft postbipolare „globalistische“ Außenpolitik zu gestalten.
  6. Des Weiteren erleben wir heute eine zunehmende Differenzierung der ökonomischen und geostrategischen Interessen zwischen den führenden Staaten der „Triade“ USA-Europa-Ostasien einschließlich der sich verschärfenden Konkurrenz zwischen den global operierenden Transnationalen Konzernen (vgl. Altvater/Mahnkopf 2007). Allem Anschein nach spielt sich gegenwärtig in der Weltautomobilindustrie etwas ab, was diverse Prognoseinstitute und Experten schon seit langem vorausgesagt haben: Die weltweit aufgebauten Überkapazitäten der rund 20 großen Automobilhersteller werden durch Insolvenzen, Fusionen und anschließende Stilllegungen überflüssiger Marken oder Werke abgebaut.
An der Schwelle eines neuen Kalten Kriegs

Wo steht die Welt heute und wohin steuert sie? Welche strategischen und militärischen Optionen spielen heute in der Weltpolitik eine Rolle?

Mit dem Ende des „klassischen“ Ost-West-Konflikts in Europa vor knapp 20 Jahren haben sich die Koordinaten der Weltpolitik zweifellos stark verändert. Wir befinden uns seither in einer Übergangszeit, in der drei verschiedene Konstellationen nebeneinander existieren. Ich möchte das zu drei Thesen zuspitzen (vgl. zum Folgenden Strutynski 2003b): Erstens hat der Kalte Krieg nicht wirklich aufgehört (1), zweitens stehen wir an der Schwelle eines neuen Kalten Kriegs (2) und drittens befinden wir uns auf der Rückkehr in die Zeit vor dem Kalten Krieg (3).

(1) Zur ersten These: Der Kalte Krieg, der in den 40 Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg der ganzen Welt seinen Stempel aufgedrückt hatte, ist nur aus einer eurozentrischen Perspektive beendet worden. In Ostasien und im pazifischen Raum hat der Kalte Krieg in Wirklichkeit nie zu existieren aufgehört. Dies hat damit zu tun, dass in Asien der große Antipode der USA, die Volksrepublik China, von der Auflösung der Sowjetunion und des Warschauer Pakts nicht betroffen war und nicht in den Strudel des Zerfalls des Realsozialismus geriet. Unabhängig davon, wie sich die ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in China entwickeln werden, stellt das Land für die Supermacht USA eine große Herausforderung dar – auch wenn sich Peking Mühe gibt, nicht als Supermacht zu erscheinen. China ist in eine Reihe von Konflikten involviert, die über die Region hinaus weisen und die pazifische Hegemonialmacht USA auf den Plan rufen: der Streit um Inseln im Chinesischen Meer etwa oder – vor allem – Pekings Anspruch auf Taiwan zählen genauso dazu wie das Aufeinandertreffen der beiden Mächte in Afrika. Hier geht es den USA ähnlich wie dem Hasen in der Geschichte vom Hasen und dem Igel: Überall wo die USA Fuß zu fassen versuchen, stellt sich heraus, dass China bereits hier ist. Auch die koreanische Halbinsel spielt eine herausragende Rolle in der Kontinuität des „Kalten Kriegs“. Im jahrelangen Poker um die zivilen und militärischen Atomprogramme Nordkoreas haben die Kontrahenten alle Register des gängigen gegenseitigen Bedrohungsrituals gezogen. Kalter Krieg also wie gehabt!

Und auch wenn wir den Blick nach Europa wenden, scheinen die alten Muster des Kalten Kriegs, insbesondere im Verhältnis zwischen NATO und Russland, wieder aufzuleben. Der kurze georgisch-russische Krieg um Südossetien im vergangenen August war fast so etwas wie ein „Stellvertreterkrieg“: Die NATO weiß nun, wann für Russland die Grenze des Zumutbaren erreicht ist. Und Russland sollte wissen, welche Absichten die NATO und ihre Führungsmacht USA in der kaukasischen Region im Schilde führen.

(2) Meine zweite These lautet: Bestehen einerseits noch überkommene Strukturen des Kalten Kriegs fort mit der Tendenz sich wieder zu verfestigen, so ziehen gleichzeitig neue Strukturen eines „Kalten Kriegs“ am Horizont auf. Diese sind zweifacher Natur. Einmal geht es um die hochgradig ideologisch ausgetragene Konfrontation zwischen der "zivilisierten" und der "nicht zivilisierten", der christlich-abendländisch-modernen Welt und der islamisch-mittelalterlichen Welt. Der unvermeidbare Zusammenstoß der Kulturen, den Samuel Huntington (1996) schon Anfang der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts kommen sah, scheint mit den Angriffen auf die Twin Towers eingeläutet worden zu sein. Was die Situation heute von dem alten Kalten Krieg unterscheidet und so gefährlich macht, ist die Tatsache, dass die USA aufgrund ihrer militärischen Stärke diesen Kalten Krieg nach Belieben auch heiß führen können und das in Irak und Afghanistan und mittlerweile auch in Pakistan auch tun.

(3) Meine dritte These lautet: Die westlichen Industriestaaten (einschließlich Japans), die den Kalten Krieg in relativer transatlantischer Geschlossenheit verbracht haben, gewinnen an außenpolitischer Bewegungsfreiheit zur Durchsetzung dessen, was sie selbst als nationale Interessen definieren. Die Risse, die periodisch immer wieder zwischen den USA und den EU-Staaten, aber auch innerhalb der EU sichtbar werden, deuten auf langfristige strategische Widersprüche hin, die über den Weg des politischen Kompromisses nicht endlos zu kitten sein werden.

Hauptkontrahenten: die USA und Deutschland

Das Interessante dabei ist, dass die Hauptakteure wieder dieselben sind, die schon vor hundert Jahren den Kampf um die Vorherrschaft in der Welt ausgetragen haben. Nach dem bekannten Sozialwissenschaftler und Philosoph Immanuel Wallerstein (2002) waren dies seit 1873 Deutschland und die Vereinigten Staaten. Sie repräsentierten bis 1913 die erfolgreichsten Ökonomien und lieferten sich von 1914 bis 1945 einen "dreißigjährigen Krieg", der - in der Zwischenkriegszeit - nur von einem Waffenstillstand unterbrochen war. Deutschland hat nun im Rahmen der EU Verstärkung erhalten - die USA sind weiter auf sich gestellt und im Moment dabei, trotz weltweiten Engagements politisch in die Isolation zu geraten. Der britische Pudel Blair hat abgedankt und der französische Ersatzpudel Sarkozy wird wohl zu Hause alle Hände voll zu tun haben. Wallerstein gibt den USA nur noch wenige Jahre für den unabwendbaren Abstieg als einer entscheidenden Macht in der Weltpolitik. Schon heute sei es so, dass die USA lediglich auf militärischem Gebiet eine Weltmacht darstellen, ökonomisch seien sie es längst nicht mehr. Für Wallerstein stellt sich deshalb nicht mehr die Frage, "ob die US-Hegemonie schwindet, sondern ob die Vereinigten Staaten einen Weg finden in Würde abzudanken, mit einem Minimum an Schaden für die Welt und für sie selbst." (Wallerstein 2002.)

Die relativ einfache und gut durchschaubare Weltordnung der Bipolarität und des Systemwettstreits zwischen einem gezähmt und attraktiv erscheinenden Kapitalismus auf der einen und einem ökonomisch ineffizient und demokratisch defizitär erscheinenden Sozialismus auf der anderen Seite ist also heute von einem höchst explosiven Gemisch dreier sich überlagernde Konfliktkonstellationen abgelöst worden.

Sie finden in einem einzigen Krieg ihren konzentrierten Ausdruck, nämlich in Afghanistan. (Vgl. zum Folgenden Strutynski 2008.) Das Land am Hindukusch hat nicht viel mehr zu bieten als eine für den Westen interessante geostrategische Lage. Dabei geht es nicht nur um die Kontrolle eines Territoriums, in dem bzw. durch das hindurch ein wichtiges Ölpipeline-Projekt realisiert werden soll: die Verbindung zwischen der öl- und erdgasreichen Kaspi-Region und dem Indischen Ozean – gleichsam ein Bypass, um russisches Gebiet zu umgehen. Es geht auch um die strategische Lage Afghanistans: Das Land am Hindukusch grenzt im Süden an Pakistan (dahinter im Südosten folgt Indien) und im Westen an Iran. Russland im Norden ist nur durch die zentralasiatischen ehemaligen Sowjetrepubliken Turkmenistan, Usbekistan und Kasachstan getrennt. Und im Osten reicht ein schmaler Landkorridor bis an die Grenze Chinas, des großen Antipoden der USA und der Europäischen Union im Kampf um die knapper werdenden Energieressourcen der Erde. Afghanistan liegt also inmitten einer Region, in der nahezu die Hälfte der Menschheit lebt und die über zwei Drittel der weltweiten Öl- und Gasvorkommen verfügt. Afghanistan ist somit eine der begehrtesten strategischen Regionen der Erde, geradezu prädestiniert als eine Art terrestrischer Flugzeugträger und Stationierungsort für Radaranlagen und Raketenabschussrampen. Wer wollte hier nicht das Sagen haben?!

Der Kampf um das "eurasische Schachbrett"

Die Konsequenz, mit der die USA in der Zeit der sowjetischen Besatzung Afghanistans alle Aufständischen mit Waffen und Logistik unterstützt haben und die Unerbittlichkeit, mit der die heutigen Besatzer um die Kontrolle des Landes kämpfen, weisen darauf hin, dass der Westen die Empfehlung des großen Strategen Zbigniew K. Brzezinski aus den 90er Jahren beherzigt: Für die „globale Vormachtstellung und das historische Vermächtnis Amerikas“ werde es „von entscheidender Bedeutung sein“, so können wir in seinem Buch „Die einzige Weltmacht“ (1997) lesen, „wie die Macht auf dem eurasischen Kontinent verteilt wird“. Der „eurasische Kontinent“ - darunter verstand Brzezinski vor allem die Region vom Schwarzen Meer, dem Kaukasus und dem Kaspischen Meer bis nach Zentralasien – ist also das „Schachbrett, auf dem sich auch in Zukunft der Kampf um die globale Vorherrschaft abspielen wird“. Daher rührt das Interesse Russlands, in Afghanistan zumindest indirekt einen Fuß in der Tür zu behalten. Auch nach dem Zerwürfnis mit der NATO wegen der Georgienkrise teilte der Generalstab in Moskau mit, die Afghanistan-Kooperation mit Brüssel „stehe nicht zur Diskussion“. Und der russische Botschafter bei der Nato, Dmitri Rogosin, wird in der „Iswestija“ mit den Worten zitiert: „Uns käme eine Niederlage der Nato in Afghanistan nicht gelegen.“ (Zit. n. Strutynski 2009a.)

Nicht nur einen Fuß in der Tür, sondern freien Zugang wünscht sich der Westen (USA, NATO, EU) seinerseits im Kaukasus und der Schwarzmeerregion. Die Aufnahme der Ukraine und Georgiens in die NATO waren auf dem Bukarester Gipfel ausgemachte Sache und sind in der Gipfelerklärung von Straßburg erneuert worden (NATO 2009). Der gescheiterte Versuch der dem Westen verpflichteten georgischen Führung, das ganze Land einschließlich Abchasiens und Südossetiens mittels eines Angriffskrieges unter Kontrolle zu bringen und die lästigen Russen heraus zu drängen, ist grandios gescheitert. Umso mehr werden USA und NATO versuchen, die Aufnahme Georgiens und der Ukraine in die NATO zu beschleunigen und damit den Ring um Russland auch vom Süden her noch enger zu ziehen. Das im Mai 2009 begonnene NATO-Manöver in Georgien unterstreicht in provokanter Weise diese Strategie.

Es ist seit dem Augustkrieg in den Leitartikeln Meinungspresse verschiedentlich wieder in Mode gekommen, von einem neuen „Kalten Krieg“ zu sprechen. Die jüngsten Ereignisse auf dem eurasischen „Schachbrett“ rufen in der Tat Erinnerungen an den für erledigt gehaltenen alten Kalten Krieg wach. Die seiner Zeit von George F. Kennan erfundene Eindämmungspolitik (Containment) gegenüber der Sowjetunion wird nur von einer möglicherweise härteren Variante abgelöst, für die Bezeichnungen wie Constriction (Einschnürung) oder gar Strangulation zutreffender sein dürften. Sollte dies gelingen, könnte sich der Westen voll auf den Kontrahenten China konzentrieren.

Der Anspruch der USA und der NATO, zusammen mit der EU weltweit für Frieden und Sicherheit sorgen zu wollen, ruft zwangsläufig Gegenkräfte auf den Plan, die nicht Mitglied der NATO sind und sich auch von der UNO nicht in ausreichendem Maß vertreten fühlen.

Im Augenblick gibt es zwei nennenswerte Organisationen, die sich von der NATO herausgefordert fühlen: die OVKS und die SOZ (vgl. hierzu und zum Folgenden Strutynski 2009b). Die OVKS (Organisation des Vertrags für Kollektive Sicherheit) ist 1992 von einer Reihe von Staaten, die vormals der Sowjetunion angehörten, gegründet worden. Ihr gehören neben Russland und Weißrussland die Kaukasus-Republik Armenien sowie die zentralasiatischen Staaten Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan und Usbekistan (seit 2006) an. Es ist ein reines Verteidigungsbündnis, das die nach der Auflösung der Sowjetunion entstandene Sicherheitslücke schließen wollte. Es hat während der ganzen Zeit keine sicherheitspolitische Rolle gespielt. Im Oktober 2008 machte das Bündnis von sich reden, als es beschloss, eine gemeinsame Eingreiftruppe ins Leben zu rufen. Ziel der Truppe sei es, im Fall eines Militärkonflikts „jede Aggression gegen das Bündnis abzuwehren. Die weiteren Aufgaben bestehen darin, gegen den internationalen Terrorismus, den Drogenhandel und die grenzüberschreitende Kriminalität vorzugehen sowie (Natur-)Katastrophen zu bekämpfen.

Die SOZ (Schanghai Organisation für Zusammenarbeit; Shanghai Cooperation Organization-SCO) wurde erst 2001 gegründet, erfreut sich aber weitaus größerer Aufmerksam als die fast zehn Jahre ältere OVKS. Dazu trägt sicher der Umstand bei, dass mit China der wohl bedeutendste aufstrebende Global Player Mitglied der Organisation ist. Ansonsten gehören ihr - mit Ausnahme von Armenien und Weißrussland - alle OVKS-Staaten an. Indien, Iran, Mongolei und Pakistan haben Beobachterstatus. Obwohl die Schanghai Organisation immer wieder betont, sich nicht als Gegengewicht zur NATO zu verstehen und ihre Hauptaufgaben mehr in der wirtschaftlichen Kooperation verortet, sind ihre einzigen wirklich sichtbaren „Erfolge“ militärischer Art, so etwa ein großangelegtes gemeinsames Manöver im August 2007, das den „antiterroristischen Kampf“ übte. Die weiteren Ziele ähneln sehr stark denen der OVKS: Sie haben sich verpflichtet, in der Region gemeinsam den Drogen und Waffenhandel sowie den politischen Extremismus und Separatismus zu bekämpfen. Ungelöste Konflikte untereinander (z.B. Streitigkeiten bei grenzüberschreitenden Rohstoffvorkommen und Wasserreserven) sollen friedlich beigelegt werden.

Obama-Regierung: Kontinuität in der Außen- und Sicherheitspolitik

Zum Schluss möchte ich noch auf eine Frage eingehen, die derzeit landauf landab gestellt wird: Was hat die Welt vom neuen US-Präsidenten Obama zu erwarten. Was deutet sich an Veränderungen in Bezug auf die NATO und die generelle außenpolitische Orientierung der USA an?

Generell kann wohl gesagt werden, dass von allen Politikbereichen der Vereinigten Staaten die Außen- und Sicherheitspolitik die größte Kontinuität aufweist. Dies wurde schon sichtbar bei der Nominierung der Hillary Clinton zur Außenministerin und von Robert Gates für das Verteidigungsressort, das er schon unter George W. Bush leitete. Hinzu kommen inhaltliche Kontinuitätslinien. Insbesondere das Energiethema ist zum Top-Thema der USA und der NATO in den letzten Jahren geworden. In der Nationalen Sicherheitsstrategie der Vereinigten Staaten vom September 2002 war die Richtung angegeben worden: Es geht um die „Erschließung neuer Quellen und Arten globaler Energie“, insbesondere in der westlichen Welt, Afrika, Zentralasien und der Kaspischen Region, heißt es dort. Und die Münchner Sicherheitskonferenz 2006 beschäftigte sich vorwiegend mit dieser Frage.

Diese neue Orientierung verkörpert wie kaum ein anderer der neue Nationale Sicherheitsberater der Obama-Administration, James Jones (vgl. Rozoff 2009). US-General Jones war von 2003 bis 2006 Oberkommandierender der NATO in Europa (SACEUR) und war in dieser Zeit vor allem auf zwei Ebenen wirksam: Einmal sorgte er sich um die „Transformation“ der NATO aus einem Verteidigungsbündnis (nach Art. 5 des Washingtoner Vertrags) in ein Interventionsbündnis. Unter seiner Ägide wurde insbesondere das NATO-Eingreiftruppen-Konzept entwickelt. Zum anderen beförderte er die Neuausrichtung der NATO auf die (weltweite) Sicherung von Energieressourcen. So sah er es als seine Aufgabe an, die Erkenntnisse aus dem sog. Cheney-Report vom Mai 2001 („Reliable, Affordable, and Environmentally Sound. Energy for America’s Future”) in militärische Planung umzusetzen. Das hieß insbesondere die USA und die NATO in die Lage zu versetzen, politische Kontrolle über die aus deren Sicht drei wichtigsten Energie-Regionen zu gewinnen: den Persischen Golf, das Gebiet zwischen Schwarzem Meer und Kaspischem Meer und den westafrikanischen Golf von Guinea. Jones gilt denn auch als Architekt von AFRICOM, dem neuen US-Kommando für Afrika, das 2007 beschlossen wurde und im Oktober 2008 in Stuttgart offiziell seine operative Arbeit aufnahm (siehe hierzu z.B. Ruf 2008).

Von US-amerikanischen Kommentatoren und Leitartiklern wird der neue Sicherheitsberater Obamas schon heute in einem Atemzug genannt mit solchen Größen wie Henry Kissinger (der diesen Posten unter Präsident Richard Nixon innehatte) und Zbigniew Brzezinski (Sicherheitsberater unter Jimmy Carter). Damit soll auch zum Ausdruck gebracht werden, dass Jones zugetraut wird, zum mächtigsten und einflussreichsten Mann der Obama-Administration aufzusteigen – mit einer Agenda, die er bereits als NATO-Kommandeur erfolgreich durch deklinierte. So hatte sich etwa der NATO-Gipfel in Riga im November 2006 in Bezug auf die „Energiesicherheit“ einen Arbeitsauftrag erteilt, „die Bereiche zu definieren, in denen die NATO zur Gewährleistung der Sicherheitsinteressen ihrer Mitglieder einen Mehrwert einbringen und auf entsprechendes Ersuchen nationale und internationale Anstrengungen unterstützen kann.“ Hinzu kommt, dass fast alle laufenden NATO-Missionen einen mehr oder weniger direkten Bezug zur Energiesicherheit haben: die beiden NATO-Assistance-Missionen in Sudan und im Irak, ISAF in Afghanistan, die Operation Active Endeavour im Mittelmeer, die Operation Enduring Freedom am Horn von Afrika und die Kosovo-Force (KFOR) im Kosovo. (Vgl. Roithner 2009.)

Kurz bevor US-Außenministerin Hillary Clinton zu ihrem Europatrip aufbrach, um der NATO in Brüssel einen Besuch abzustatten, verkündete sie in einer Pressekonferenz, dass die neue Administration den Begriff „war on terror“ aus ihrem Vokabular gestrichen habe (Wall Street Journal, 31.03.2009). Im Grunde folgt sie damit einer Empfehlung der RAND-Corporation, die in einer Studie vom Juli letzten Jahres nachgewiesen hatte, dass sich der „Krieg gegen den Terror“ als kontraproduktiv herausgestellt habe (Jones/Libicki 2008). Das wichtigste Ergebnis aus der Studie, die 268 Terrorgruppen im Zeitraum von 1968 bis 2006 unter die Lupe genommen hatte: In den allermeisten Fällen wurde den Terrorgruppen eine Ende bereitet durch polizeiliche und geheimdienstliche Tätigkeiten oder dadurch, dass die Gruppen mit den jeweiligen Regierung Arrangements getroffen haben hinsichtlich der Durchsetzung ihrer politischen Ziele. Die US-Außenministerin und ihr Präsident haben bisher aber nichts unternommen, um den unter Bush eingeleiteten Krieg gegen den Terror real zu beenden. In Afghanistan und Pakistan wird der Krieg sogar ausgeweitet. Hier geht es aber nicht mehr um einen Krieg gegen den Terrorismus, sondern – wie es in der speziellen Afghanistan-Erklärung des Straßburger NATO-Gipfels heißt – darum, „Sicherheit für das afghanische Volk zu schaffen, unsere Bürger zu schützen und die Werte, nämlich Freiheit, Demokratie und Menschenrechte, zu verteidigen.“

Die kommenden Kriege um Energie, Rohstoffe und Einflusssphären werden also künftig im Namen von Freiheit und Demokratie geführt werden. Also wiederum: Nicht viel Neues unter der Sonne. Das ist aber beileibe kein Trost.

Literatur
  • AG Alternative Wirtschaftspolitik (200): Memorandum 2009. Von der Krise in den Absturz, Köln
  • Elmar Altvater, Birgit Mahnkopf (2007): Konkurrenz für das Empire – Die Zukunft der Europäischen Union in der globalisierten Welt, Münster
  • Benjamin Beutler (2009): Die Ärmsten leiden besonders. In: Neues Deutschland, 8. April
  • Zbigniew K. Brzezinski (1997): Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft, Frankfurt/M.
  • Zbigniew K. Brzezinski (2007): Second Chance: Three Presidents and the Crisis of American Superpower, Basic Books 2007
  • Gilbert Burnham, Riyadh Lafta, Shannon Doocy, Les Roberts (2006): Mortality after the 2003 invasion of Iraq: a cross-sectional cluster sample survey. In: www.thelancet.com; 11. Oktober
  • Miguel d'Escoto Brockmann (2009): Statement. To the Informal General Assembly Interactive Thematic Dialogue on the Global Food Crisis and the Right to Food, New York, 6 April, http://www.un.org/ga/president/63/statements/foodcrisis60409.shtml
  • Samuel Huntington (1996): Der Kampf der Kulturen. The Clas hof Civilizations. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München-Wien
  • Seth G. Jones, Margtin C. Libicki (2008): How Terrorist Groups End. Lessons for Countering Al Qa’ida. Ed. By the RAND Corporation; http://www.rand.org/pubs/monographs/2008/RAND_MG741-1.pdf
  • Michael Krätke (2009): Nicht nur eine Finanzmarktkrise …; http://www.rosaluxemburgstiftung.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Themen/Krise/NichtnureineFinanzmarktkrise.pdf
  • NATO (2009): Gipfelerklärung von Strassburg/Kehl; /themen/NATO/2009-gipfelerklaerung.html
  • Rick Rozoff: Global Energy War: Washington's New Kissinger's African Plans, Chicago, Illinois (unveröff. Manuskript, Januar 2009)
  • Thomas Roithner (2009): Vom Energiepoker zum Ressourcenkrieg? Das Ende der NATO am Ende des fossilen Energiezeitalters? In. Wissenschaft & Frieden, Heft 1
  • Werner Ruf (2008): Africom – Der Griff der USA nach Afrika. In: utopie kreativ Nr. 216, Oktober, S. 883-892
  • Olivier de Schutter (2009): Statement. Interactive Thematic Dialogue of the U.N. General Assembly on The Global Food Crisis and the Right to Food, Trusteeship Council Chamber, New York, 6. April; http://www.srfood.org/images/stories/pdf/otherdocuments/15-srrtfstatementpanelrtf-06-04-09.pdf
  • Hans von Sponeck (2009): UNO und NATO: Welche Sicherheit und für wen? In: Ralph-M. Luedtke, Peter Strutynski (Hg.): Die Welt nach Bush, Kassel (im Erscheinen)
  • Peter Strutynski (2001): Nichts Neues unter der Sonne? Die Kriege des 21. Jahrhunderts. In: Forum Wissenschaft, Nr. 4, Oktober, S. 59-63
  • Peter Strutynski (2003a): Die USA sind nicht allmächtig. In: Gewaltfrieden nach dem Willen der einzigen Weltmacht? Wege aus der Gefahr. Beiträge zum 11. Dresdner Friedenssymposium, DSS-Arbeitspapiere, Heft 65, S. 6-18
  • Peter Strutynski (2003b): Die alten und die neuen Kriege: Kontinuität und Diskontinuität in den weltpolitischen Konfliktkonstellationen. In: ÖSFK (Hg.), Europa Macht Frieden, Münster, S. 85-99
  • Peter Strutynski (2008): Die einzige Alternative zum Afghanistankrieg heißt: Kein Krieg. In: Erhard Crome (Hg.), Internationale Politik im 21. Jahrhundert. Konfliktlinien und geostrategische Veränderungen, Berlin, S. 140-150
  • Peter Strutynski (2009a): Von Afghanistan bis Georgien: Positionskämpfe um die neue Weltordnung. In: Unsere Zeit, 29. August
  • Peter Strutynski (2009b): Die Globalisierung der NATO – oder: Die Militarisierung des Globus. In: Bundesausschuss Friedensratschlag und AG Friedensforschung (Hg.), 60 Jahre NATO: Es reicht! Friedens-Memorandum 2009 EXTRA, Kassel, S. 7-24
  • Terre des hommes/Welthungerhilfe (2007): Die Wirklichkeit der Entwicklungshilfe. Eine kritische Bestandsaufnahme der deutschen Entwicklungspolitik, Fünfzehnter Bericht 2006/2007, o.O., November
  • Immanuel Wallerstein (2002): The Eagle Has Crash Landed. In: Foreign Policy, Juli/August; www.foreignpolicy.com
  • The World Bank 2009: World Development Report 2009: Reshaping Economic Geography, Washington
  • Jean Ziegler (2005): Das Imperium der Schande. Der Kampf gegen Armut und Unterdrückung, Bertelsmann: München
* Referat auf dem 17. isw-forum, „Die kapitalistische Krise und die neue globale Machtverteilung, 9. Mai 2009 in München


Dieser Beitrag erschien in:
Die kapitalistische Krise und die neue globale Machtverteilung
17. isw-forum; isw REPORT NR. 77, München 2009, S. 20-26.

Weitere Beiträge des Hefts:
  • Conrad Schuhler: Der Westen verliert seine Dominanz – Kooperation und Konflikt in der neuen Weltordnung
  • Richard D. Wolff: Die Obama-Strategie: Amerikas neue Rolle in der Weltwirtschaft
  • Walter Baier: Die europäische Linke und die Krise



Zurück zur Seite "Neue Weltordnung"

Zur Globalisierungs-Seite

Zur Terrorismus-Seite

Zurück zur Homepage