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Das Scheitern des Militarismus zu Beginn des 21. Jahrhunderts

Von Peter Strutynski *

Es mag gewagt erscheinen, vom „Scheitern des Militarismus“ in einer Zeit zu sprechen, die geradezu gekennzeichnet ist durch die Renaissance regionaler Kriege und Bürgerkriege in aller Welt und durch die Relegitimierung des Militärischen in der herrschenden Politik vieler Regierungen. Die gegenwärtigen Tendenzen zur Globalisierung des Krieges – etwa im Rahmen des globalen US-Feldzugs „gegen den Terrorismus“ – dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der allem Kriegerischen zu Grunde liegende Militarismus sich historisch überlebt hat, weil er weder real effektiv im Sinne der Herrschenden ist, noch als ideologisches Bindemittel für die Gesellschaft taugt. Ich will das im Folgenden thesenhaft entwickeln.

Zunächst aber eine Bemerkung zur Verständigung über das, worüber wir sprechen. Mit dem Untergang des Deutschen Reiches nach dem verheerenden Zweiten Weltkrieg und der bedingungslosen Kapitulation der faschistischen Wehrmacht starb auch der deutsche Militarismus alter Prägung. Dieser war nicht nur eine besondere vordemokratische, obrigkeitsstaatliche, dem Prinzip von Befehl und Gehorsam unterworfene elitär-autoritäre Geisteshaltung, sondern auch an bestimmte Äußerlichkeiten gebunden. Der „Militarismus“ der imperialistischen Epoche war durch eine tiefgehende Durchdringung aller gesellschaftlichen Bereiche mit dem „Geist des Militarismus“ gekennzeichnet. Das Militärische prägte die Biografien der Menschen, die hierarchische Struktur der Gesellschaft und die ästhetische Inszenierung des Militärs in der Öffentlichkeit. In Preußen gehörte dazu u.a. der berüchtigte „Stechschritt“, an dem schon Friedrich Engels kein gutes Haar finden konnte. In seiner bedeutenden Schrift „Kann Europa abrüsten?“ aus dem Jahr 1893 – eine Art realpolitisches Abrüstungsprogramm – riet er den europäischen Militärmächten, sich von allem „traditionellen Firlefanz“ zu trennen und sich auf das „Wesentliche“ zu konzentrieren, das zur Ausbildung tüchtiger Soldaten beitrage. Ein besonderer Dorn im Auge war ihm der unnütze Paradedrill. „Allein die Abschaffung des ‚Stechschrittes‘ würde ganze Wochen für rationelle Übungen freisetzen, abgesehen davon, dass dann die fremden Offiziere eine deutsche Revue ansehen könnten, ohne sich das Lachen zu verbeißen.“ [1] Es ist mir bis heute ein Rätsel, warum ausgerechnet die frühere DDR, die sich doch sonst immer so gern auf „ihre Klassiker“ berief, an dieser unnatürlichen Gangart festhielt.

Um aber nicht missverstanden zu werden: Die DDR war nicht deswegen ein „militaristischer Staat“, weil sie dem Unfug des preußischen Stechschritts huldigte. Die militärischen Gepflogenheiten und Darstellungsweisen (die Form) müssen schon mit einem spezifischen militärischen Geist und einer militärisch dominierten inneren und äußeren Politik (Inhalt) verbunden sein, um sie eindeutig als „militaristisch“ zu identifizieren.

Vom Militarismus alter Prägung war auch in der alten Bundesrepublik und ist heute im größeren Deutschland wenig zu spüren, auch wenn nicht zu verkennen ist, dass bestimmte militärische und politische Kreise nie aufgehört haben, in solchen Kategorien zu denken. Viele Staaten EU-Europas zeichneten sich bisher eher durch eine demonstrative Zivilität aus, die das Militär verschämt in den Kasernen verborgen hielt. Erst in neuester Zeit sind wieder Tendenzen sichtbar, durch bewusstes Anknüpfen an alte militärische Traditionen und Zeremonien die Öffentlichkeit auf die angeblich segensreiche Präsenz des Militärischen in der Gesellschaft zu gewöhnen. Dieser Prozess, der verbunden ist mit dem Aufbau zusätzlicher militärischer Kapazitäten , sollte besser als Prozess der „Militarisierung“ beschrieben werden und nicht als Beweis für die Wiederkunft des „Militarismus“.

Wenn ich von Militarisierung spreche, meine ich also nicht in erster Linie die Militarisierung der Gesellschaft – sie scheint mir auch aus Sicht der Herrschenden heute nicht mehr funktional zu sein -, sondern die Militarisierung der Politik. So wie die Verfügbarkeit über eine eigenständige Armee im Verständnis der Regierenden immer zu einem Grundmerkmal eines souveränen Staates gehörte, so gehört heute das Militärische zum Grundbestandteil der internationalen Politik. Wenn man „Verteidigungspolitik“ im neorealistischen Sinn als Militär- und Interventionspolitik jedweder Art interpretiert, wird das Militär zu einem wesentlichen Instrument moderner Außenpolitik. Im Institutionengefüge der vermeintlichen „Zivilmacht“ Europäische Union verschmelzen übrigens beide Bereiche (die traditionell immer in zwei eigene Ressorts getrennt waren) in der GASP (die dann sogar noch zur ESVP weiter verengt wird) und in der Person eines europäischen „Außen- und Verteidigungsministers“ (Javier Solana als Hoher Repräsentant der GASP und gleichzeitiger Präsident der Europäischen Verteidigungsagentur!). Aus dieser Sichtweise ist jeglicher Gedanke daran, dass Außenpolitik auch ausschließlich zivil betrieben werden kann, verbannt.

Dem Militarismus war aus verschiedenen Gründen historisch der Boden entzogen worden. Einmal hat die Weiterentwicklung des Völkerrechts spätestens mit der Verabschiedung der UN-Charta den Staaten der internationalen Gemeinschaft ein generelles Gewaltverbot auferlegt (Art. 2 Ziff. 4). Krieg als Mittel der Politik war damit obsolet geworden. Zum anderen hat auch die in Zeiten des „Kalten Krieges“ aufrecht erhaltene gegenseitige Vernichtungsdrohung (MAD-mutually assured destruction) dazu beigetragen, zumindest einen größeren Krieg als nicht mehr führbar und denkbar zu halten. Auf diese Perspektive hat übrigens Karl Liebknecht schon zu einer Zeit hingewiesen, als atomare Massenvernichtungswaffen noch längst nicht in Sicht waren. In seiner Schrift „Militarismus und Antimilitarismus“ aus dem Jahr 1907 sieht Liebknecht die Entwicklung von Waffen voraus, welche die Selbstvernichtung der Menschheit herbeiführen könnten:
„Und in der Tat können wir damit rechnen, dass, wenn auch in einer fernen Zukunft, die Technik, die leichte Beherrschung der gewaltigsten Naturkräfte durch den Menschen, eine Stufe erreichen wird, die eine Anwendung der Mordtechnik überhaupt unmöglich macht, weil sie Selbstvernichtung des Menschengeschlechts bedeuten würde…“
Und zum dritten scheint mir heute – insbesondere in der Bundesrepublik – jegliche Akzeptanz für Kriegsabenteuer in der Bevölkerung abhanden gekommen zu sein. So wusste die Frankfurter Allgemeine Zeitung – gewiss kein Sympathieblatt der Friedensbewegung – im Oktober 2007 über eine aktuelle Umfrage zu berichten:

"Der Einsatz deutscher Soldaten in Afghanistan, den vor fünf Jahren 51 Prozent der gesamten Bevölkerung unterstützten und nur 34 Prozent kritisch bewerteten, wird heute nur noch von 29 Prozent der Bevölkerung gutgeheißen. Die Mehrheit der Bevölkerung lehnt mittlerweile Auslandseinsätze der Bundeswehr generell ab. Selbst unter den Anhängern der CDU spricht sich eine relative Mehrheit dafür aus, Deutschland möge sich doch künftig aus solchen militärischen Aktionen heraushalten. [...] Dazu kommt die Sorge, dass Auslandseinsätze der Bundeswehr wie in Afghanistan die Gefahr von Terroranschlägen in Deutschland erhöhen. 56 Prozent der Bevölkerung sind davon überzeugt, nur 29 Prozent halten dies für unwahrscheinlich." [2]

Diese kriegskritische Haltung hat sich ein halbes Jahr später noch weiter stabilisiert, wie das „Handelsblatt“ im März mitteilte: „Und bei einer Umfrage in Deutschland forderten zwei Drittel der Befragten einen Rückzug aus Afghanistan noch in diesem Jahr. Die Nato hat den Rückhalt bei den Bürgern verloren.“[3] Ein Rückfall in den offenen Militarismus scheint unter solchen Umständen nur schwer vorstellbar zu sein.

Mit dem Ende der Ost-Westblockkonfrontation 1989/91 waren Militarismus und militärisches Denken allgemein in eine tiefe Krise geraten. Auch wenn der Traum von einer „Friedensdividende“, die sich über die Völker der Welt ergießen würde, allzu schnell ausgeträumt war, gaben die Menschen den Gedanken an eine länger währende friedliche Entwicklung des Planeten nicht auf. Die Strategen aus Politik und Militär, die das Ende des europäischen Realsozialismus wie einen Sieg feierten, der Appetit auf den globalen Durchmarsch des Neoliberalismus machte, mussten schon tief in die ideologische Trickkiste greifen, um die Existenzberechtigung des Militärs, der Bundeswehr oder der NATO einer zum Frieden und zur Abrüstung bereiten Bevölkerung plausibel zu machen. „Erfunden“ wurden vor allem zwei neue Legitimationslehren des Militärischen: der „erweiterte Sicherheitsbegriff“ und die Militärintervention aus „humanitären Gründen“.

Der erweitere Sicherheitsbegriff – der auch, allerdings mit einer anderen Zielrichtung, von der kritischen Friedensforschung propagiert wurde, die damit an dem positiven Friedensbegriff und der Forderung nach Beseitigung „struktureller Gewalt“ (Johann Galtung) anknüpfte – der erweiterte Sicherheitsbegriff fand seinen ersten umfassenden Niederschlag in dem Gipfelbeschluss der NATO vom November 1991. In der „römischen Erklärung“ wurden die alten Bedrohungsszenarien (v.a. die großen gepanzerten Heere aus dem Osten) ad acta gelegt und durch ganz neue „Risiken“ ersetzt. Dazu zählten etwa der internationale Terrorismus (zehn Jahre vor dem 11.9.!), die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen und entsprechender Technologie, die Gefährdung des „freien Welthandels“ sowie die Unterbrechung der ungehinderten Zufuhr von und des freien Zugangs zu Rohstoffen in aller Welt. Ein Jahr später wurde dieses Bedrohungsszenario auch von der Bundesregierung offiziell übernommen und bildete den Kern der im November 1992 vom Kabinett verabschiedeten “Verteidigungspolitischen Richtlinien“ (VPR). Mit ihnen wurden sowohl die sachliche Begrenzung auf Verteidigung als auch die geografische Begrenzung auf das eigene Territorium und das NATO-Gebiet gesprengt. Es hieß jetzt: „Nicht mehr die alleinige Fähigkeit zur umfassenden Verteidigung gegen eine ständig drohende Aggression, sondern flexible Krisen- und Konfliktbewältigung im erweiterten geographischen Umfeld, Friedensmissionen und humanitäre Einsätze bestimmen neben der Schutzfunktion gegen verbleibende unmittelbare Risiken ihr künftiges Anforderungsprofil.“[4] Das Weißbuch 1994, die Neufassung der VPR im Mai 2003 und das Weißbuch 2006 waren lediglich Fortschreibungen des eingeschlagenen Weges.

Die zweite Legitimationslehre rankt sich um den Begriff der „humanitären Intervention.
Die „humanitäre Intervention“ wurde erstmals Gegenstand der öffentlichen Debatte während des 2. Golfkriegs, exakt im Zeitpunkt des Ausstiegs der Sowjetunion aus der Weltgeschichte.[5] In der Resolution 688 vom 5. April 1991 beschloss der UN-Sicherheitsrat, nach Kap. VII der UN-Charta tätig zu werden, da die „Unterdrückung der irakischen Zivilbevölkerung den Weltfrieden und die internationale Sicherheit“ bedrohe. Interessant und wichtig ist hierbei, dass sich der Sicherheitsrat explizit auf Art. 2 Abs. 7 der Charta berief, der die Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines Landes grundsätzlich verbietet, jedoch auch ausführt: „… jedoch soll dieser Grundsatz nicht die Anwendung von Zwangsmaßnahmen lauf Kap. VII beeinträchtigen.“ Zwangsmaßnahmen nach Kap. VII sind jedoch nur im Falle von Aggressionshandlungen vorgesehen. Dieser Satz in der Resolution des Sicherheitsrates löste eine intensive Debatte unter Völkerrechtlern aus, in der auch konservative Vertreter der Disziplin diesen Interventionsanspruch als einen sehr starken Angriff auf das völkerrechtliche Prinzip der staatlichen Souveränität bezeichneten. Die auf dieser Resolution fußende teilweise Übernahme der zivilen Gewalt in Irak durch die Stationierung von Schutzmannschaften für die humanitären Zentren der UN (UNHUC) und die Errichtung der so genannten Flugverbotszonen waren – neben der territorialen Amputation des Landes im Süden, der Kontrolle des Außenhandels und der Finanzen des Landes und der gezielten Deindustrialisierung - Teil der gezielten Entsouveränisierung des Irak. Hieraus ergab sich die zwingende Schlussfolgerung: „Das kaum etablierte Novum ‚humanitäres Interventionsrecht’ läuft so Gefahr, zur Legitimation eines unilateralen Interventionismus zu verkommen, der in der Folge der Resolution 688 und unter Berufung auf moralische Werde der Sanktionierung durch den Sicherheitsrat nicht mehr bedarf.“ (Werner Ruf) Die unmittelbar darauf folgende „humanitär“ genannte Intervention in Somalia von 1992 konnte sich bereits auf den Präzedenzfall Irak berufen, auch wenn in Somalia Staatlichkeit so gut wie nicht mehr existierte.

In drei Thesen, die gewiss nicht unwidersprochen bleiben dürften, möchte ich nun meine Behauptung begründen, wonach der Militarismus zu Beginn des 21. Jahrhunderts gescheitert ist.

(1) Neue Kriege, insbesondere wenn sie von den Großmächten angezettelt oder/und geführt werden, sind anachronistisch geworden. Wenn richtig ist, dass es in den vielen kriegerischen Konflikten dieser Welt, an denen die Großmächte beteiligt sind, in Wirklichkeit um die Durchsetzung machtpolitischer, ökonomischer und ressourcialer Interessen geht, dann muss man sich fragen, ob es militärischer Mittel bedarf, um solche Ziele zu erreichen, oder ob nicht andere, nämlich zivile (politische, diplomatische, ökonomische, kulturelle usw.) Mittel besser dazu geeignet wären. Nun wird man einwenden können: Heißt das nicht, eine im Grunde genommen imperialistische Strategie gutzuheißen und lediglich darauf zu vertrauen, dass Ihre Umsetzung ohne militärische Komponente auskommt? Meiner Meinung nach unterscheidet sich der heutige „Imperialismus“ – den ich auch lieber „Neo-Imperialismus“ nennen möchte - vom klassischen Imperialismus des beginnenden 20. Jahrhunderts in mancher Hinsicht:

Heute geht es z.B. nicht mehr in erster Linie um den Kampf der großen Konzerne um neue Absatzmärkte. Der Weltmarkt, liegt den TNK vielmehr zu Füßen und es gibt keine relevanten Grenzen mehr für die Waren der Ersten Welt. Schwieriger ist es da schon für die umgekehrten Warenströme (etwa für Agrarprodukte aus der Dritten Welt in die entwickelten kapitalistischen Länder), doch imperialistische Austauschbeziehungen beruhen nun einmal nicht auf dem Prinzip der Gleichheit und Gleichberechtigung.

Heute geht es auch nicht mehr um den seinerzeit erbittert geführten Kampf um den Zugang zu den Kapitalmärkten anderer Staaten und Regionen. Kapitalexport und Direktinvestitionen sind heute fast überall auf der Erde uneingeschränkt möglich, ja, die Nationalstaaten sind im Zuge der weltweiten Standortkonkurrenz zu „nationalen Wettbewerbsstaaten“ geworden.

Schließlich geht es auch nicht mehr um die Eroberung fremder Territorien nach dem Muster des klassischen Kolonialismus/Imperialismus. Koloniale Besitzungen wären heute eher ein lästiger Kostenfaktor denn ein Gewinn für den erobernden Staat. So erklärt sich im Übrigen die Abkoppelung ganzer Weltregionen von jeglicher Entwicklung. Länder oder Regionen, in denen nichts zu holen ist, werden zur Sozial- und Ökobrache der neoliberalen Globalisierung.

Heute und in Zukunft sind zwei bevorzugte Methoden der privaten Akkumulation besonders wichtig geworden. Die erste vor allem auf der privatkapitalistischen „Plünderung des Weltvorrats an genetischen Ressourcen“ und am „eskalierenden Raubbau an den globalen, allgemeinen Naturgütern (Land, Luft und Wasser)“. Es geht, um mit David Harvey zu sprechen, um die „Massenkommodifizierung der Natur“ und um die „Verwandlung von Kultur, Geschichte und intellektueller Kreativität in Waren“. Die Kehrseite der Medaille sind gigantische Enteignungsprozesse – denn um nichts anderes handelt es sich bei der Privatisierung öffentlicher Einrichtungen (z.B. Universitäten), des Trinkwassers oder anderer öffentlicher Güter. (David Harvey)

Die zweite Methode privater Akkumulation liegt in der Kontrolle wichtiger fossiler oder mineralischer Rohstoffe. Die USA, die im (neo-)imperialistischen Konkurrenzkampf in der Sphäre der Produktion unterlegen sind, rechnen sich gute Chancen aus, im Wettlauf um die endlichen fossilen Energievorräte dieser Erde die Nase vorn zu haben. Da diese Vorräte lokalisiert sind, d.h. nur an bestimmten Standorten vorkommen und dort „gehoben“ werden müssen, sind selektive territoriale „Eroberungen“ angezeigt. Hierin ähnelt das derzeitige Vorgehen der Industriestaaten ihren Vorgängern im Zeitalter des kolonialen Imperialismus. Genau das macht es aber zum Anachronismus. Denn die knapper werdenden fossilen Energieressourcen können von den Interessenten ja auch auf dem „normalen „Weg“ beschafft werden: über die internationalen Rohstoffmärkte. Sie sind frei zugänglich. Problematisch wird es erst dann, wenn Transnationale Konzerne Appetit auf solche Ressourcen bekommen und Druck auf ihre nationalen Regierungen ausüben, den Appetit militärisch zu stillen.

(2) Kriege wurden und werden auch heute noch selten mit den wirklichen Absichten der Kriegführenden begründet. Der Irakkrieg 2003 war offiziell geführt worden, weil Irak angeblich unerlaubte Massenvernichtungswaffen, insbesondere Atomwaffen herstellte. Die Vorwürfe, von den USA und Großbritannien damals bis zuletzt im UN-Sicherheitsrat erhoben, haben sich als noch dazu schlecht fabrizierte Lügen der eigenen Geheimdienste herausgestellt. Gegen Iran werden heute ähnliche Vorwürfe laut. Im Unterschied zum Irak haben sich die Vereinten Nationen und die Internationale Atomenergiebehörde diesmal zum Teil der Argumentation Washingtons angeschlossen und verlangen von Teheran nicht nur die Einhaltung des Atomwaffensperrvertrags (wogegen Iran auch nichts einzuwenden hätte), sondern auch die Beendigung der Urananreicherung zur zivilen Verwendung der Nuklearenergie. Wäre es im Fall des Irak nur um die Massenvernichtungswaffen gegangen und ginge es im Fall des Iran wirklich nur um die Verhinderung eine Atomwaffenprogramms, dann wäre beides mit den gängigen Mitteln der Diplomatie und der internationalen Kontrollmechanismen (IAEA-Inspektionen) erfolgreich zu managen (gewesen).

Ein anderer „Großkonflikt“, der NATO-Krieg gegen Jugoslawien 1999 wurde mit dem Argument geführt, in der serbischen Provinz Kosovo gälte es eine „humanitäre Katastrophe“ zu verhindern. Auch dies war indessen nur vorgeschoben, wie nicht zuletzt der damalige OSZE-Beauftragte Heinz Loquai in verschiedenen Veröffentlichungen belegt hat: Die angebliche „humanitäre Katastrophe“, die in der Vertreibung hunderttausender Kosovo-Albaner und im geplanten Völkermord an ihnen (sog. „Hufeisenplan“) bestand, erwies sich von Anfang an als eine von der NATO aufgebauschte monströse Lüge. Die eigentliche Fluchtwelle entstand in Wahrheit erst mit Beginn des Krieges; von ethnischer Säuberung konnte auch erst nach dem Krieg die Rede sein, als nämlich hunderttausende Serben und Angehörige anderer ethnischer Minderheiten aus dem Kosovo vertrieben wurden oder „freiwillig“ flüchteten. Auch hier also wäre die Verhinderung einer „humanitären Katastrophe“ – wenn sie denn wirklich beabsichtigt gewesen wäre – am besten ohne den Einsatz kriegerischer Mittel erreicht worden.

Generell lässt sich also formulieren: Ginge es „nur“ um die Verwirklichung der hehren Ziele der Aggressoren, so ließen sie sich erst recht nur mit zivilen Mitteln erreichen. Krieg ist immer das falsche Mittel am falschen Objekt.

(3) Dass sich die Geschichte nicht wiederholt, es sei denn als Farce, ist zum geistigen Gemeingut aufgeklärter Zeitgenossen geworden. Die Farce – nach Wikipedia „ein durch unangemessene Herangehensweise verfehlter und abgewerteter Vorgang“ - kann dabei katastrophische Ausmaße annehmen. Ich möchte für beide Varianten Beispiele nennen.

Es ist eine besonders grausame Farce, was der aus dem Kalten Krieg siegreich hervorgegangenen einzigen Supermacht USA heute auf verschiedenen Kriegsschauplätzen widerfährt. Ein Land, das rund 45 Prozent der globalen Rüstungs- und Militärausgaben auf sich vereinigt, scheint sowohl im Irak als auch in Afghanistan auf historische Niederlagen zuzusteuern. „Der Irak und zunehmend auch Afghanistan sind das Vietnam unserer Tage“, schreibt die ehemalige Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer (GRÜNE) im Herbst 2007 in der Süddeutschen Zeitung. Sie fährt fort: „Und es sieht danach aus, dass der Krieg gegen den Terror … nun ebenso verloren geht, wie der damalige Krieg gegen den Vormarsch des Kommunismus in Asien.“[6] Dabei hätten die USA nicht nur aus Vietnam, sondern auch aus Somalia Lehren ziehen können. 1993 waren die USA im UN-Auftrag in das Land einmarschiert und mussten unter demütigenden Bedingungen ein Jahr später das Land wieder verlassen. Die Bilder von den durch die Straßen geschleiften toten GIs haben sich offenbar nicht tief genug in das Gedächtnis der politischen und militärischen Elite der USA eingegraben, um sie vor weiteren Invasionen zurückzuhalten, aber doch so tief, um es wenigstens nicht mehr in Somalia selbst zu versuchen. Ende Dezember 2006 ließen die USA Äthiopien den Vortritt, als es angeblich darum ging, die mittlerweile sogar relativ stabile, aber eben falsch, nämlich fundamental-muslimisch zusammengesetzte Regierung der „Union der Islamischen Gerichte“ (UIC) mittels Militärintervention zu beseitigen. Die US-Luftwaffe beschränkte sich auf flankierende Luftangriffe.

Was hier als Farce beschrieben wird, kann sich zu einer Katastrophe ungeahnten Ausmaßes auswachsen, wenn es nicht gelingt, die US-Administration und ihre neo-imperialistischen Epigonen (v.a. die Europäische Union) von ihrem außenpolitischen Crash-Kurs abzubringen. Denn ein Merkmal des alten Militarismus ist aus der neuen Weltunordnung ja keinesfalls verschwunden: Militärische Einsätze tragen immer die Gefahr zu ihrer Eskalation in sich. Das gilt regional: Hier sollte der Verweis auf die 60-jährige Gewaltgeschichte des israelisch-palästinensischen Verhältnisses oder auf die grenzüberschreitende Dynamik des Afghanistankrieges genügen. Es gilt aber auch global: Die durch zunehmenden Einsatz bewaffneter Gewalt (Bürgerkriege, regionale Konflikte usw.) sowie durch technologische Vorrüstungen (Weltraum, Raketenabwehr, mini-nukes usw.) wieder belebte Rüstungsspirale destabilisiert die internationalen Beziehungen und entzieht den Regierungen Ressourcen, die für die Lösung der wichtigsten Menschheitsaufgaben benötigt werden (Beseitigung von Hunger und Massenarmut, Klimaschutz, Zugang zu Gesundheitsdiensten und sauberem Trinkwasser und andere in den „Millenniumszielen 2000“ beschriebene Ziele der Vereinten Nationen).

Fazit: Der Militarismus alter Prägung ist historisch überlebt. Alle Wiederbelebungsversuche zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind gescheitert. Militarisierungstendenzen sind indessen allgegenwärtig, untergraben letztlich aber die Grundlagen, von denen sich die reichen Länder ernähren. Da die herrschenden Eliten die letzten sind, die davon betroffen sind, gilt es, ihnen „das Handwerk zu legen“, bevor es für die Menschheit zu spät ist.

Fußnoten:
  1. Friedrich Engels: Kann Europa abrüsten? In: MEW 22, S. 378.
  2. Professor Renate Köcher in „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ vom 17. Oktober 2007.
  3. „Handelsblatt“ vom 13. März 2008.
  4. VPR 1992, Ziff. 37.
  5. Vgl. hierzu und zum Folgenden Werner Ruf/Peter Strutynski: Militärinterventionen: verheerend und völkerrechtswidrig. In: Utopie kreativ, 11/2007, S. 1040-1049.
  6. „Süddeutsche Zeitung“ vom 1. September 2007.
* Zur Person: Dr. Peter Strutynski, Politikwissenschaftler an der Uni Kassel, AG Friedensforschung; Homepage: http://www.; Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag

Dieser Beitrag erschien in:
Klaus Kinner (Hrsg.): MILITARISMUS UND ANTIMILITARISMUS. Aktuelle und historische Dimensionen von Karl Liebknechts Schrift anlässlich des 100. Jahrestages ihres Erscheinens. Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen e. V. Leipzig 2008, S. 124-129
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