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Weltordnung erreicht Verfallsdatum

Interview mit Fjodor Lukjanow, Chefredakteur von "Russland in der globalen Politik"


1. Wie könnten Sie die jetzige Phase der Beziehungen zwischen Russland und dem Westen beschreiben? Wie werden sich Ihrer Meinung nach die Beziehungen zwischen Russland und den USA entwickeln?

Die Beziehungen zwischen Russland und Amerika befinden sich in der tiefsten Krise seit Ende des Kalten Krieges. Die strategische Expansion der USA und die Aufzehrung des geopolitischen Erbes der Sowjetunion haben eine Grenze erreicht, hinter die Russland nicht zurückweichen will, da ein Rückzug seiner Meinung nach eine Bedrohung für dessen künftige Existenz darstelle.

Auch stehen die nach wie vor wachsenden geopolitischen Ambitionen der USA im Widerspruch zur relativen Einengung von deren Möglichkeiten. Das haben sie in Georgien vorgeführt: Washington hatte Tiflis ermuntert, konnte aber im entscheidenden Augenblick nichts für es tun. Das zwingt die USA zu ostentativen Schritten, die das Image der USA als zuverlässiger Schutzpatron der „jungen Demokratien“ festigen sollen.

Russland hat seinerseits nicht vor, sich mit der in den 90er Jahren entstandenen Lage zu arrangieren, als die Gewinner des Kalten Kriegs die Meinung und Interessen Moskaus ignorierten.

Insgesamt sieht die Situation aus wie der Anfang von einem Umdenken in der russischen Politik. Sie wird nicht gegen den Westen gerichtet sein, wird ihn aber nicht mehr in den Mittelpunkt stellen. Moskau wird partnerschaftliche Beziehungen zu verschiedenen Ländern und Ländergruppen in allen Teilen der Welt suchen und sich in erster Linie um die Verteidigung der Positionen im eigenen Interessenbereich, also im postsowjetischen Raum, bemühen. Weder die USA noch Europa wollen diesen Raum als russische Prioritätszone anerkennen, deswegen werden die Spannungen höchstwahrscheinlich steigen.

2. Was wird Russland als Antwort auf die ABM-Stationierung in Europa unternehmen? Wird es durch diese Maßnahmen die Ziele der US-amerikanischen ABM-Stationierung, darunter die Zerstörung des Gleichgewichts der atomaren Abschreckung, vereiteln können?

Russland kann die Stationierung der ABM-Elemente in Mitteleuropa nicht verhindern. Das ist eine Entscheidung der USA und zweier europäischen Länder, auf die sie ein Recht haben. Ich glaube, Russland wird nicht darauf, sondern auf die allgemeine Veränderung der Situation antworten. Die Antwort wird eine Modernisierung von Russlands atomaren Kräften sein, damit sie durch die Inbetriebnahme des ABM-Systems nicht geschwächt werden. Ich würde aber keine voreiligen Schlüsse zu diesem System ziehen. Der Machtwechsel in den USA kann die Fristen ihrer Entwicklung, die Finanzierung und die politischen Umstände beeinflussen.

3. Offizielle Quellen in Russland haben bestätigt, dass Israel bei der Vorbereitung von Georgiens Aggression gegen Südossetien eine Schlüsselrolle gespielt hat. Wie wird Russland auf diese Handlungen Israels antworten? Sind irgendwelche konkreten Schritte geplant?

Russland hat kurz vor dem Krieg in Südossetien seinen Unmut gegenüber Israel über dessen Teilnahme an der Ausbildung und Bewaffnung der georgischen Armee geäußert, wonach Israel seine Präsenz dort abbaute. Das blieb von Moskau nicht unbemerkt. Ich glaube nicht, dass Russland gegenwärtig konkrete Maßnahmen gegen Israel unternehmen wird.

4. Russland hat vor einiger Zeit vorgeschlagen, ein gemeinsames Raketenabwehrsystem mit Europa und den USA zu schaffen. Gegen welche gemeinsamen Feinde sollte es gerichtet sein?

Als dieser Vorschlag verlautet wurde, ging es um die Bedrohung seitens der Länder, die rechtswidrig in den Besitz von nuklearen Waffen kommen wollen, sowie seitens der internationalen Terroristen. Meines Erachtens war das ein rein politischer Vorschlag für das „große Feilschen“ zwischen Moskau und den westlichen Mächten. Ein klares Verständnis, gegen wen das gerichtet sein könnte, gab es nicht.

Im vergangenen Jahrzehnt wurden generell wunderschöne Initiativen diskutiert, die eher auf die Erhaltung der gemeinsamen Illusion von gegenseitigem Verständnis als auf das Erreichen konkreter Ziele gerichtet waren. Jedenfalls wäre es heute kaum angebracht, über eine gemeinsame Raketenabwehr mit Europa und den USA zu sprechen.

5. Wie werden die Ereignisse in Südossetien die Situation im Nahen Osten, die russisch-arabischen Beziehungen und darunter die Beziehungen zwischen Russland und Syrien beeinflussen?

Ich glaube, Russland wird ein viel stärkeres Interesse an der arabischen Welt zeigen. Teilweise wird es versuchen, die alten Verbindungen aus Sowjetzeiten wiederherzustellen, teilweise wird es neue Kontakte suchen. Dabei kann ich im Moment keine Anzeichen dafür erkennen, dass das System der außenpolitischen Verbindungen völlig umgestellt und die Ansicht der arabischen Welt als wichtiger, doch nicht der wichtigste Partner von Grund auf verändert werden soll.

6. Gibt es Ihrer Meinung nach in den arabisch-russischen Beziehungen eine Grundlage für den Aufbau strategischer Beziehungen? Wie sieht die Zukunft dieser Beziehungen aus?

Ehrlich gesagt glaube ich nicht an die Möglichkeit von strategischen Beziehungen zwischen wem auch immer in der nächsten Zukunft. Wir leben in einem Zeitalter von unstabilen und mürben Allianzen. Das ist eine wirklich multipolare Welt und ein Wettbewerb mit vielen Faktoren. Die arabische Welt befindet sich selbst in einem äußerst komplizierten Netz von äußeren Einflüssen und Verbindungen, Russland ebenso. Deswegen würde ich über strategische Partnerschaft als Terminus der internationalen Beziehungen gar nicht sprechen.

7. Erwarten Sie eine Wiederaufnahme des Kalten Kriegs? Oder eine militärische Konfrontation zwischen Russland und dem Westen? Oder glauben Sie, dass die gegenwärtigen Ereignisse die Errichtung eines neuen, gerechteren Systems der internationalen Beziehungen ohne Kriege und Kollisionen fördern werden?

Ich erwarte keine militärische Konfrontation, doch von einem neuen System der internationalen Beziehungen kann leider nicht die Rede sein. Wir treten in eine Periode des endgültigen Verfalls der einstigen Weltordnung ein, da die Institutionen an Ansehen verlieren und sich vielleicht sogar auflösen. Solange dieser Prozess kein logisches Ende erreicht, gibt es keinen Grund, etwas Neues und Konstruktives zu erwarten. Eine sehr gefährliche und unvorhersagbare Periode.

* Aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 11. September 2008;
http://de.rian.ru



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