Imperialismus und Krise
Renaissance des Chauvinismus. Von Tomasz Konicz *
Teil I: Die Rückkehr nationaler Machtkämpfe im Gefolge der ökonomischen Verwerfungen
Europa scheint seit Krisenausbruch in einem Zeitstrudel gefangen, der den alten Kontinent in eine Vergangenheit zurückschleudert, in der das imperiale Hegemoniestreben der europäischen Großmächte die nationalen Gegensätze und Chauvinismen ungefiltert aufeinanderprallen ließ. Je weiter die Krise die Desintegrationstendenzen in der Euro-Zone befeuert, desto eher scheint der Blick in die Geschichtsbücher dabei behilflich zu sein, Analogien zu den gegenwärtig rapide eskalierenden nationalen Gegensätzen – die längst zu einer offenen Lagerbildung in Europa geführt haben – zu finden. Die Mitte August absolvierte Rundreise des deutschen Wirtschaftsministers Philipp Rösler durch einige nordeuropäische Euro-Länder, bei der offensichtlich eine Allianz gegen die südeuropäischen Krisenstaaten geschmiedet werden sollte, erinnert ebenso an die klassische imperialistische Großmachtpolitik des 19. Jahrhunderts wie die mit der Krisenintensität zunehmenden chauvinistischen Aufwallungen in vielen Ländern der Euro-Zone.
Röslers diplomatischer Staffellauf, der den im Vorwahlkampf befindlichen Wirtschaftsminister nach Helsinki, Tallinn, Den Haag und Warschau führte, galt dem Europa, das sich der »Idee der Stabilitätsunion« verpflichtet fühle und somit immer noch eine »Union der Werte« darstelle, dozierte Rösler nach einem Treffen mit dem niederländischen Regierungschef Mark Rutte. Hierbei erlaubte sich der deutsche jungliberale Wirtschaftsminister einen klassischen rhetorischen Ausrutscher, der die wahre Motivation hinter seiner hektischen Reisediplomatie offenlegte. Deutschland habe bei den gegenwärtigen Auseinandersetzungen um die Krisenpolitik »die Kraft der Argumente« auf seiner Seite und stehe in Europa »nicht gänzlich allein« dar. Diese laut Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) ungewollt »defätistische« Aussage spiegele die »Regieanweisungen« bei der Rundreise Röslers wieder: »Wir zeigen, daß Deutschland nicht isoliert ist in Europa, es gibt viele Verbündete.« Die FAZ spekulierte sogar darüber, ob Rösler mit seiner Reisediplomatie bereits den Boden für einen »Nord-Euro« bereite, der nach dem Zerfall der Euro-Zone eingeführt werden könnte.
Paris kontra Berlin
Gegen wen sich diese diplomatische Sommertournee des Wirtschaftsministers richtete, der damit auch innenpolitisch zu punkten hofft, ist ohnehin klar: Seit dem Amtsantritt des neuen französischen Präsidenten François Hollande hat Paris einen deutlichen machtpolitischen Kurswechsel eingeleitet und die unter seinem Amtsvorgänger Sarkozy praktizierte Kollaboration mit Berlin zugunsten einer antideutschen Allianz mit Südeuropa aufgegeben. Dem Spardiktat, das Berlin in Gestalt des »Fiskalpaktes« der Euro-Zone oktroyierte, setzt Hollande eine klassisch sozialdemokratische Politik entgegen, bei der Steuererhöhungen für Wohlhabende mit kreditfinanzierten Konjunkturpaketen und Maßnahmen zur Stärkung der Massennachfrage einhergehen sollen.
Auf europäischer Ebene unterstützt Paris die südeuropäischen Forderungen nach einer Einführung von Euro-Bonds und massiven Anleiheaufkäufen seitens der Europäischen Zentralbank (EZB), um so die Zinslast der Krisenstaaten zu senken. Folglich spitzen sich die Auseinandersetzungen zwischen der südlichen Peripherie der EU und Berlin immer stärker zu, da die Bundesregierung tatsächlich all die Maßnahmen blockiert, die den in Rezession befindlichen Ländern Südeuropas eine Linderung verschaffen könnten.
Der deutsch-französische Antagonismus, der den Kontinent in der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entlang des Rheingrabens in feindliche Mächtekonstellationen teilte, scheint sich erneut in der gegenwärtigen geopolitischen Lage zu materialisieren. Ein vom sozioökonomischen Abstieg bedrohtes mit Frankreich verbündetes Südeuropa sieht sich einem ökonomisch ungemein erstarkten Deutschland gegenüber, das sich unter Rückgriff auf seine osteuropäische Peripherie bemüht, seine dominante Stellung vermittels eiligst umgesetzter Strukturänderungen der EU zu zementieren.
Offene Konfrontation
Diese inzwischen offen ausgetragenen nationalen Machtkämpfe, die eine entsprechend hetzerische Berichterstattung in der jeweiligen bürgerlichen Presse nach sich ziehen, haben zudem eine Renaissance nationalistischer Ressentiments und chauvinistischer Stimmungen eingeleitet. Wie weit hierbei der Weg zurück in die Vergangenheit bereits beschritten wurde, ist beispielsweise bei den ungehemmten öffentlichen Pöbeleien deutlich geworden, mit denen sich deutsche und italienische Politiker sowie Medien wechselseitig Anfang August überzogen, nachdem der italienische Ministerpräsident Monti relativ unverblümt ein Ende der deutschen Blockadepolitik forderte. Während Koalitionspolitiker in Berlin daraufhin den italienischen Regierungschef der »Gier nach deutschen Steuergeldern« bezichtigten und ihn beschuldigten, »seine Probleme auf Kosten des deutschen Steuerzahlers lösen« zu wollen, empörten sich italienische Blätter über die »Nazideutschen«, die nun »nicht mehr mit Kanonen, sondern mit Euro« Italien unterwerfen wollten.
Äußerungen, die noch vor wenigen Monaten ein Verfahren wegen Volksverhetzung nach sich gezogen hätten, dienen nun FDP-Einheizern und CSU-Populisten dazu, ihre Wahlchancen aufzubessern. Bevor geklärt werden kann, warum dieser ungezügelte Nationalismus das europäische Pathos so schnell verdrängen konnte, soll kurz rekapituliert werden, wieso in den vergangenen Dekaden die Illusion der kapitalistischen »Vereinigten Staaten von Europa« überhaupt um sich greifen konnte.