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"Imperialistische Absichten" ("Imperial Ambition")

Ein Gespräch mit Noam Chomsky

Mitte Mai erschien in der US-amerikanischen Zeitschrift Monthly Review ein Interview mit dem bekannten Linguisten und Sozialwissenschaftler Noam Chomsky. David Barsamian führte das Gespräch.


David Barsamian: Welche regionalen Schlussfolgerungen bringen Eroberung und Besatzung des Iraks durch die USA mit sich?

Noam Chomsky: Ich denke, nicht nur die Region, sondern ganz allgemein die Welt begreift das richtig als eine Art einfachen Testfall für den Versuch, die Anwendung von Militärgewalt in der Weise neu zu normieren, wie das in allgemeinen Formeln im letzten September erklärt wurde. Letzten September wurde die Nationale Sicherheitsstrategie der Vereinigten Staaten von Amerika bekannt gegeben. Sie stellte eine sozusagen neue und ungewöhnlich extreme Doktrin über weltweite Gewaltanwendung dar. Und es lässt sich schwerlich übersehen, dass die Kriegstrommeln gegen den Irak damit zusammenfielen. Damit fiel auch der Beginn der Kongresskampagne zusammen; diese Angelegenheiten stehen alle miteinander in Verbindung.
Die neue Doktrin war nicht die des (unmittelbar zuvorkommenden) Erstschlags, der eventuell noch innerhalb der UN-Charta liegt, sondern umfasste vielmehr etwas, das auch nicht ansatzweise mit internationalem Recht zu tun hat, nämlich den (vorbeugenden) Präventivkrieg. Die Doktrin war, wie Sie wissen, dass die USA die Welt durch Gewalt regieren würden, und wenn sie irgendeine Antastung ihrer Herrschaft wahrnähmen, aus der Distanz, erfunden, eingebildet – wie auch immer – dann hätten die USA das Recht, diese Herausforderung zu vernichten, bevor sie zu einer Bedrohung wird. Das meint Präventivkrieg, nicht Erstschlag.
Und wenn man eine Doktrin schaffen will, kann ein mächtiger Staat bewerkstelligen, dass sie als neue Norm bezeichnet wird. Wenn also Indien Pakistan angreift, um schrecklichen Gräueltaten ein Ende zu setzen, schafft das keine Norm. Wenn aber die USA Serbien mit dubiosen Begründungen bombardieren, schafft das eine Norm. Das ist die Bedeutung von Macht.

Wenn man also eine neue Norm etablieren will, muss man etwas tun. Und der einfachste Weg dazu liegt in der Auswahl eines völlig wehrlosen Angriffsziels, dass durch die stärkste Militärmacht aller Zeiten völlig überrannt werden kann. Wenn man das allerdings glaubwürdig tun will, wenigstens was die eigene Bevölkerung angeht, muss man sie in Angst und Schrecken versetzen. Also muss das wehrlose Angriffsziel zu einer Furcht erregenden Bedrohung der eigenen Existenz stilisiert werden, die die Verantwortung für den 11. September trägt und im Begriff ist, uns erneut anzugreifen usw. usw. Das geschah tatsächlich. Im letzten September begannen intensive Bemühungen, denen es im Wesentlichen gelang, Amerika als einziges Land auf der Welt davon zu überzeugen, dass Saddam Hussein nicht nur ein Monster ist, sondern auch eine existenzielle Bedrohung darstellt. Das war der Inhalt der Oktoberresolution des Kongresses und seitdem einer Menge anderer Dinge. Und es zeigt sich in den Umfragen: Heute glaubt etwa die Hälfte der Bevölkerung, dass Hussein für den 11. September verantwortlich war.

So kommt alles zusammen. Eine Doktrin wird aufgestellt. Eine Norm wird mittels eines sehr einfachen Falles etabliert. Die Bürger werden in Panik versetzt und glauben als einzige auf der Welt Hirngespinste dieser Art und befürworten deshalb den Einsatz von Militärgewalt zwecks Selbstverteidigung. Und wenn das glaubt, handelt es sich ja wirklich um Selbstverteidigung. Es ist sozusagen wie in einem Lehrbuchbeispiel zu Angriffsführung mit dem Ziel, den Rahmen für weitere Angriffsmöglichkeiten zu erweitern. Nachdem der einfache Fall gemeistert ist, kann man sich daran machen, über härtere Fälle nachzudenken.

Das sind die Hauptgründe dafür, dass so große Teile der Welt sich dem Krieg massiv entgegengestellen. Es geht nicht nur um den Angriff auf den Irak. Viele Leute begreifen genau die Motivation, mit der dieser Angriff geführt wurde, nämlich als klare Stellungnahme, dass sie gut täten sich vorzusehen, da wir ihnen schon kommen werden. Daran liegt es, dass die USA von den größten Teilen der Weltbevölkerung als größte Bedrohung des Weltfriedens angesehen werden. George Bush hat es in einem Jahr geschafft, die USA in ein Land zu verwandeln, das sehr gefürchtet, abgelehnt und sogar gehasst wird.

D.B: Auf dem Weltsozialforum in Porto Alegre Ende Januar beschrieben Sie Bush und die Leute um ihn als „radikale („radical“) Nationalisten“, die „imperialistische Gewalt“ benutzen. Unterscheidet sich dieses Regime in Washington prinzipiell von seinen Vorgängern?

N.Ch: Eine historische Perspektive zu haben ist nützlich. Schauen wir uns also das andere Ende des politischen Spektrums an, die Liberalen um Kennedy. Um 1963 veröffentlichten sie eine Doktrin, die sich nicht besonders von Bushs Strategiepapier zur Inneren Sicherheit unterschied. Das war 1963. Dean Acheson, ein anerkannter, altgedienter Staatsmann und hochrangiger Berater der Kennedy-Administration, hielt einen Vortrag vor der Amerikanischen Gesellschaft für Internationales Recht, in dem er sie unterwies, dass kein Anklagegrund aus einer wie auch immer gearteten Antwort der USA auf eine Antastung ihrer Position, ihres Prestiges oder ihrer Autorität entstehe. Die Wortwahl war kaum anders. Worauf spielte er an? Es ging um den Krieg der USA gegen Kuba, den sie mit terroristischen und wirtschaftlichen Mitteln führte. Und die zeitliche Abstimmung ist recht erhellend. Das war kurz nach der Raketenkrise, welche die Welt an den Rand eines Atomkrieges brachte. und das war wesentlich das Ergebnis einer umfangreichen Terrorkampagne auf das hin war, was heute Regimewechsel genannt wird – einer der Hauptgründe dafür, dass die Raketen überhaupt entsandt worden waren. Gleich danach weitete Kennedy die Terrorkampagne aus und Acheson informierte die Gesellschaft für Internationales Recht, dass wir das Recht hätten, einen Präventivkrieg gegen eine bloße Antastung unserer Position und unseres Prestiges zu führen, wofür nicht einmal eine Bedrohung unserer Existenz erforderlich wäre. In der Tat war seine Wortwahl sogar noch extremer als die Bushdoktrin im letzten September.
Andererseits ließe sich hervorheben, dass es sich um eine Erklärung Dean Achesons gehandelt hat. Es war keine offizielle politische Erklärung. Und es war offenbar nicht die erste oder letzte Erklärung dieser Art. Die vom letzten September war ungewöhnlich wegen ihrer Unverhülltheit und weil es sich um eine formelle Erklärung der Regierung über ihre Politik handelte, nicht bloß um die Erklärung eines hochrangigen Politikers.

D.B: Eine Losung, die wir alle auf Friedensdemonstrationen gehört haben, ist „Kein Krieg um Öl!“. Die Problematik hinsichtlich des Öls wird oft als die treibende Kraft hinter Angriff und Eroberung des Iraks durch die USA angesprochen. Wie wichtig ist Öl für die Planungen der USA?

N.Ch.: Zweifellos sehr wichtig. Ich bezweifle, dass irgendein geistig gesunder Mensch das bezweifelt. Die Golfregion ist die wichtigste Energieproduktionsstätte der Welt. Sie ist es seit dem 2. Weltkrieg und man erwartet, dass sie es auch noch für wenigstens eine weitere Generation sein wird. Sie ist eine enorme Quelle strategischer Macht und materiellen Reichtums. Und der Irak ist von besonderer Wichtigkeit. Er hat die zweitgrößten Ölreserven der Welt, die sehr leicht und günstig zugänglich sind. Die Kontrolle über den Irak verleiht eine sehr starke Position, um Ölpreis und Förderungsquoten festzulegen, nicht zu niedrig, nicht zu hoch, und wohl auch, um die OPEC zu unterminieren und um unser Gewicht in der ganzen Welt zum Tragen zu bringen. Das trifft seit dem 2. Weltkrieg zu. Im Besonderen hat es nichts mit Zugang zum Öl zu tun; die USA beabsichtigen nicht wirklich, Zugriff darauf zu nehmen. Aber es geht um Kontrolle, das steht dahinter. Wenn der Irak irgendwo in Zentralafrika läge, wäre er nicht für den Testfall ausgewählt worden. So steht das Öl dort sicherlich genauso wie in einigen weniger entscheidenden Gebieten in Zentralasien im Hintergrund. Jedoch erklärt es nicht die Zeitabstimmung der Operation, zumal das einen steten Grund zur Sorge darstellt.

D.B: Ein Dokument des Außenministeriums über das Öl des Mittleren Osten von 1945 beschrieb ihn als „enorme Quelle strategischer Macht und als eines der größten zu erringenden materiellen Gewinne der Weltgeschichte.“ Die USA importieren 15 % ihres Öls aus Venezuela. Auch importieren sie Öl aus Kolumbien und Nigeria. Diese drei Staaten sind aus Washingtons Perspektive momentan alle etwas problematisch angesichts Hugo Chavez in Venezuela und ernsthafter innerer Konflikte, praktisch einem Bürgerkrieg in Kolumbien sowie Aufständen in Nigeria, welche die dortigen Ölvorräte bedrohen. Was meinen Sie dazu?

N.Ch: Diese Probleme sind von entscheidender Bedeutung, insofern das die Regionen sind, zu denen die USA in der Tat Zugang besitzen wollen. Den Mittleren Osten wollen sie kontrollieren. Aber zumindest, was die Perspektiven der Nachrichtendienste angeht, wollen die USA sich auf das stützen, was sie als sicherere Ressourcen im atlantischen Bassin einstufen – das atlantische Bassin schließt Westafrika und die westliche Hemisphäre mit ein – die in höherem Maße unter US-Kontrolle stehen als der Mittlere Osten, der eine schwierige Region ist. Die Perspektiven sind also: Den Mittleren Osten kontrollieren, aber den Zugang zum atlantischen Bassin offen halten, was die Länder, die Sie nannten, mit einschließt. Es folgt also, dass mangelnder Einklang, Störungen der ein oder anderen Art in diesen Gebieten eine ernstzunehmende Bedrohung darstellen, und da wird sich ziemlich wahrscheinlich eine dem Irak vergleichbare Episode abspielen, falls die jetzige so funktioniert, wie sich die zivilen Planer im Pentagon das erhoffen. Wenn es sich im Irak um einen einfachen Sieg ohne Kämpfe handelt, der ein Regime etabliert, was man als demokratisch bezeichnet, und nicht allzu viele Katastrophen stattfinden – wenn es so über die Bühne geht, werden sie sich eines weiteren Aktes erdreisten.
Was diesen angeht, kann man sich mehrere Möglichkeiten vorstellen. Eine davon betrifft die Andenregion. Die USA haben sie vollständig mit Militärstützpunkten umgeben. Im Moment befinden sich dort massive Kräfte. Sowohl Kolumbien und Venezuela, insbesondere Venezuela sind grundlegende Ölproduzenten, und andernorts gibt es weiteres, so in Ecuador oder sogar Brasilien. Ja, es ist möglich, dass der nächste Schritt in der Kampagne präventiver Kriege, sobald diese so genannte Norm etabliert und akzeptiert ist, auf eine dortige Invasion hinausliefe. Auch möglich wäre der Iran.

D.B: In der Tat. Den USA wurde von niemandem anderen als diesem, wie Bush ihn nennt, „Mann des Friedens“, Sharon, geraten, den Iran anzugreifen „am Tag danach“, wenn sie mit dem Irak fertig sind. Was ist mit dem Iran? Ein zur „Achse des Bösen“ gelisteter Staat und auch ein Land reicher Ölvorräte.

N.Ch: Was Israel angeht, hat der Irak nie ein rechtes Problem dargestellt. Sie halten ihn für ein mehr als einfaches Ziel. Aber der Iran ist etwas anderes. Iran verfügt über weit ernstzunehmendere militärische und wirtschaftliche Reserven. Und über Jahre hinweg hat Israel die USA dazu gedrängt, den Iran einzunehmen. Iran ist zu mächtig, als dass Israel ihn angreifen könnte, also wünscht man sich, dass der große Bruder das besorgt.
Es ist recht wahrscheinlich, dass sich dieser Krieg schon in Vorbereitung befindet. Vor einem Jahr wurde berichtet, dass zehn Prozent der israelischen Luftstreitkräfte dauerhaft in der Osttürkei stationiert waren, d.h. in den riesigen Militärbasen in der Osttürkei. Und es wurde berichtet, dass sie Aufklärungsfluge über die iranische Grenze hinaus unternahmen Außerdem gibt es glaubhafte Berichte, dass die USA, Israel und die Türkei sich bemühen, aserische Nationalisten im Nordiran dazu anzustacheln, eine Art Zusammenschluss von Teilen Irans und Aserbaidschans anzustreben. Es gibt eine Art Achse USA-Israel-Türkei in dieser Region gegen den Iran, die vielleicht schließlich zu einer Zersplitterung des Irans und vielleicht einem militärischen Angriff führen wird. Obschon es nur dann zu einem militärischen Angriff kommen wird, wenn gewährleistet ist, dass der Iran vollkommen wehrlos dasteht. Sie werden niemanden angreifen, der sich wehren kann.

D.B: Mit US-Streitkräften in Afghanistan und im Irak sowie mit Basen in der Türkei und in Zentralasien ist der Iran praktisch umzingelt. Könnte nicht diese objektive Realität Kräfte den Iran dazu bringen, in Selbstverteidigung Nuklearwaffen zu entwickeln, wenn sie sie nicht schon haben?

N.Ch: Das ist recht wahrscheinlich. Die wenigen Zeugnisse – ernsten Zeugnisse – die wir haben, weisen darauf hin, dass die Bombardierung des Reaktors zu Osirak das irakische Nuklearwaffenprogramm anregte und vielleicht sogar auslöste. Sie hatten sich bemüht ein Atomkraftwerk zu bauen, aber was für eines es war, wusste niemand. Das wurde von einem bekannten Physiker aus Harvard nach dem Bombardement vor Ort untersucht, der damals, glaube ich, der Physikabteilung in Harvard vorstand. Er veröffentlichte seine Analyse im führenden Wissenschaftsmagazin, Nature. Danach handelte es sich um ein Elektrizitätswerk. Er ist Experte auf diesem Gebiet. Andere irakische Quellen, Exilanten, haben angegeben (was wir nicht beweisen können), dass nicht viel am Laufen war. Sie mögen mit dem Gedanken an Kernwaffen gespielt haben, aber die Bombardierung scheint dem Anstoß gegeben zu haben. Es ist nicht zu beweisen, aber die Indizien weisen in diese Richtung. Und es ist sehr plausibel. Es muss nicht wahr sein; allein höchst wahrscheinlich. Wenn man kommt und sagt „Schau, wir werden dich angreifen.“ und wenn Länder wissen, dass ihnen die Möglichkeit einer konventionellen Verteidigung abgeht, zwingt man sie förmlich dazu, Waffen der Massenvernichtung und Netzwerke des Terrors zu entwickeln. Das ist verständlich. Und genau, wie der CIA und alle anderen es auch vorhergesagt hat.

D.B: Was bedeutet die Besetzung des Iraks für Palästina?

N.Ch: Eine Katastrophe.

D.B: Keine Wege zum Frieden?

N.Ch: Es ist interessant zu lesen: Ich weiß nicht, wie sie etabliert wurde, aber eine dieser journalistischen Regeln, die mit absoluter Sicherheit eingehalten wird, besagt, dass, wenn George Bush in einem Artikel erwähnt wird, die Überschrift von seiner Vision und der Artikel von seinen Träumen sprechen muss. Vielleicht gibt es rechts daneben eine Fotografie von ihm, wie er in die Ferne starrt. Und einer von George Bushs Träumen und Visionen ist es, irgendwo, irgendwann, an einem nicht näher bestimmten Ort, vielleicht in der Wüste einen palästinensischen Staat zu wissen. Und von uns wird erwartet, dass als großherzige Version zu preisen und zu verehren. Das ist bei Journalisten zur Konvention geworden. Es gab einen Leitartikel im Wall Street Journal am 21.3., in dem die Worte „Vision“ und „Traum“ wohl etwa zehnmal vorkamen.
Die Vision und der Traum sind, dass die USA vielleicht einmal damit aufhören werden, die Versuche praktisch des ganzen Restes der Welt zu unterminieren, irgendeine Art politischer Lösung zu erzielen. Die USA haben sie während der letzten 25 bis 30 Jahre blockiert. Die Bush-Administration ging mit der Blockade in manchmal überaus extremer Weise sogar noch weiter – manchmal so weit, dass es nicht mehr berichtet wurde. Zum Beispiel hat die Bush-Administration im Dezember bei den UN erstmalig die US-Politik bezüglich Jerusalems ins Gegenteil verkehrt. Bisher haben die USA zumindest formal den Sicherheitsratsentschluss von 1968 mitgetragen, der Israel dazu aufforderte, seine Angliederung, Besetzung und Besiedlung Ostjerusalems rückgängig zu machen. Und als erste hat die Bush-Administration das im letzten Dezember ins Gegenteil verkehrt. Das ist eine der vielen Maßnahmen, die darauf abzielen, jedwede mögliche politische Lösung zu verhindern. Um das zu verbergen, wird es als Vision bezeichnet, und die damit in Verbindung stehenden Bemühungen heißen US-Initiativen, dabei ist es für jeden, der auf die Geschichte nur die geringste Aufmerksamkeit verwendet, ein offenbarer Versuch der USA ist, alle langwierigen europäischen und arabischen Bemühungen zu untergraben und sie in die Bedeutungslosigkeit herabzudrücken. Die umfangreiche Lobpreisung Sharons in den USA, der als großer Staatslenker angesehen wird – er ist immerhin einer der führenden terroristischen Befehlshaber der letzten fünfzig Jahre – ist ein interessantes Phänomen und es zeigt einen weiteren Erfolg der Propaganda, die ganze Geschichte dieser Erfolge, und eine gefährliche.

Mitte März ließ Bush das, was als seine erste umfangreiche Stellungnahme zum Mittleren Osten bezeichnet wird, übers arabisch-israelische Problem verlauten. Er hielt eine Rede. Dicke Überschriften. Erste bedeutende Stellungnahme seit Jahren. Wenn man sie liest, ist sie überaus schwammig, aber einen Satz ausgenommen. Nimmt man diesen Satz genau unter die Lupe, offenbart er Bushs Kurs: „Mit dem Fortschreiten des Friedensprozesses sollte Israel neue Siedlungsprogramme annullieren.“ Was heißt das? Bis der Friedensprozess einen Punkt erreicht, den Bush für bemerkenswert erklärt und der beliebig weit in der Zukunft liegen könnte, bis dahin sollte Israel mit dem Errichten neuer Siedlungen fortfahren! Das ist eine Politikwende. Bis jetzt standen die USA zumindest offiziell den illegalen Siedlungsprogrammen, die den Friedensprozess verhindern, ablehnend gegenüber. Jetzt sagt Bush das Gegenteil: Macht mit der Besiedlung weiter! Wir werden weiterhin dafür bezahlen, bis wir entscheiden, dass der Friedensprozess irgendwie auf einem angemessenen Level angekommen ist. So war es in der Tat eine bemerkenswerte Wende zu mehr Aggression, zur Unterminierung von internationalem Recht und Möglichkeiten für einen Frieden. So stellten es die Medien durchaus nicht dar, doch muss man sich den Wortlaut anschauen.

D.B: Sie bezeichneten die Intensität des öffentlichen Protests und Widerstands gegen den Irakkrieg als „noch nicht da gewesen“; niemals zuvor gab es so massive Proteste vor Beginn eines Krieges. Wohin geht diese Widerstandsbewegung?

N.Ch: Ich kenne keinen Weg, menschliches Verhalten vorherzusagen. Sie wird sich so entwickeln, wie die Menschen es entscheiden werden. Es gibt viele Möglichkeiten. Sie sollte sich intensivieren. Die Aufgaben sind weit größer und ernstzunehmender als zuvor. Andererseits ist es schwieriger geworden. Es ist psychologisch gesehen einfach leichter, Menschen gegen einen militärischen Angriff zu mobilisieren als einer langfristigen imperialistischen Politik gegenüberzutreten, von der dieser Angriff eine Phase darstellte, auf die andere folgen werden. Das muss besser durchdacht sein und fordert mehr Anstrengungen, mehr langfristiges Engagement. Es liegt ein Unterschied zwischen der Entscheidung „Okay, ich kämpfe hier für langfristige Ziele.“ und „Okay, ich gehe morgen auf eine Demo und dann nach Hause zurück.“. Das alles sind Entscheidungen. Dieselben bei der Bürgerrechtsbewegung, der Frauenbewegung, überall.

D.B: Sprechen wir über Drohungen und Einschüchterungen gegen Protestler hier in den Vereinigten Staaten einschließlich Zusammentreibungen von Immigranten und Bürgern!

N.Ch: Um leicht angreifbare Menschen wie Immigranten muss man sich sicherlich Gedanken machen. Die gegenwärtige Regierung hat Gesetze erlassen, die nicht ihresgleichen finden. Es gab einige in Kriegszeiten, die recht unangenehm waren wie die Zusammentreibungen von Japanern 1942 oder, sagen wir, Wilsons Aktivitäten im ersten Weltkrieg. Jetzt aber werden Gesetze verkündet, wie recht eigentlich nichts Vergleichbares kennen und die das Recht auf Arretierung von Bürgern und ihrer Wegsperrung ohne Kontakt zu Familienangehörigen und Rechtsanwälten mit einschließen, und zwar in unbegründeter, nicht rechtlich zu fassender Weise. Immigranten und andere leicht angreifbare Personen sollten sicherlich vorsichtig sein. Andererseits sind die Drohungen für uns privilegierte Bürger, trotzdem sie bestehen, verglichen mit den Bedrohungen in den meisten anderen Teilen der Welt so geringfügig, dass es schwer ist, sich allzu sehr über sie aufzuregen. Ich war in letzter Zeit einige Male in der Türkei und Kolumbien, und verglichen mit den Bedrohungen, denen die Menschen dort gegenüberstehen, leben wir im Himmel. Und sie lassen sich nicht davon bange machen. Sie sind es natürlich, aber sie lassen sich davon nicht aufhalten.

D.B: Glauben Sie, dass sich Europa und Ostasien zu Gegengewichten zu den USA entwickeln?

N.Ch: Sie entwickeln sich ganz gut. Dabei steht es außer Frage, dass Europa und Ostasien sich wirtschaftlich auf ungefähr einem Level mit den USA befinden, und sie haben ihre eigenen Interessen, die nicht einfach darin liegen, US-amerikanischen Vorgaben zu folgen. Sie sind jedoch eng miteinander verbunden. Die Verbindungen der Wirtschaftssektoren Europas, der USA und großer Teile Asiens sind mannigfache und führen zu gemeinsamen Interessen. Andererseits gibt es geteilte Interessen, und diese Schwierigkeiten reichen insbesondere im Hinblick auf Europa weit zurück.
Die USA hatten schon immer eine uneindeutige Einstellung zu Europa. Einerseits wollten sie Europa vereint sehen, insofern es so einen besseren und aufnahmefähigeren Markt für US-Unternehmen darstellt. Auf der anderen Seite war man immer besorgt über die Möglichkeit, dass sich Europa in eine andere Richtung entwickeln könnte. Eine beachtliche Menge der Fragen über den Beitritt der osteuropäischen Länder zur EU hat damit eine ganze Menge zu tun. Die USA sind sehr für den Beitritt, denn sie hoffen, dass diese Länder eher auf US-Einfluss reagieren und die Kernländer Europas, insbesondere die großen Industrieländer Frankreich und Deutschland, unterminieren könnten, die dazu neigen, sich in Richtung auf eine unabhängigere Stellung zu entwickeln.
Auch besteht im Hintergrund ein alter Hass der USA auf den europäischen Sozialstaat, der für angemessene Löhne und Arbeitsbedingungen sorgt. Er unterscheidet sich sehr vom US-System. Man will nicht, dass jenes System existiert, weil es gefährlich ist. Leute kommen dadurch auf seltsame Gedanken. Und es ist recht klar, dass der Beitritt der osteuropäischen Länder mit ihren niedrigen Löhnen und der dortigen Unterdrückung von Arbeitnehmern und Ähnlichem die sozialen und Arbeitnehmerstandards unterminieren würde, was für die USA sehr vorteilhaft wäre.

D.B: Wie will die Bush-Administration angesichts einer sich verschlechternden Wirtschaftslage und weiteren Massenentlassungen das aufrechterhalten, was manche als „Garnisonsstaat“ bezeichnen und das dauerhaften Krieg und Besetzung diverser Staaten mit sich bringt? Wie werden sie das hinkriegen?

N.Ch: Sie müssen es für die nächsten sechs Jahre hinkriegen. Bis dahin hoffen sie, in den Vereinigten Staaten hochgradig reaktionäre Programme umgesetzt zu haben. Sie werden die Wirtschaft in eine sehr ernste Lage mit enormen Defiziten gebracht haben in etwa so, wie sie es in den 80ern getan haben. Dann wird es jemand anderes richten müssen. Derweil werden sie, wie sie hoffen, Sozialprogramme unterminiert und die Demokratie vermindert haben, die sie natürlich verabscheuen, indem sie Entscheidungen aus öffentlicher in private Hände überführt haben werden, und zwar auf eine Weise, die schwer rückgängig zu machen sein wird. Auf diese Weise werden sie ein Erbe hinterlassen, das anzutreten sehr unangenehm und schwierig sein wird. Doch nur für die Bevölkerungsmehrheit. Diejenigen, um die sie besorgt sind, werden davon unerhört profitieren. In etwa so wie zu Zeiten Reagans. Es geht schließlich um dieselben Leute.
Und auf internationaler Ebene hoffen sie, die Doktrinen imperialer Herrschaft dann wahlweise mittels Gewalt oder Präventivkriegen etabliert zu haben. Die USA übertreffen in ihren Militärausgaben vermutlich alle anderen Länder zusammengenommen; sie sind militärtechnisch ungeheuer fortgeschritten und bewegen sich in sehr gefährliche Richtungen wie den Weltraum. Sie nehmen an, dass, egal was der amerikanischen Industrie zustößt, sie eine so große militärische Kraft darstellen werden, dass es ihnen gegenüber keinen Widerspruch geben wird.

D.B: Was sagen Sie zu den Friedensaktivisten, die so lange gegen den Irakkrieg angekämpft haben und jetzt ein Gefühl von Ärger und Trauer empfinden?

N.Ch: Das sie realistisch sein sollen. Nehmen wir die Bewegung gegen die Sklaverei. Wie lange wurde da gekämpft, bis Fortschritte zu verzeichnen waren? Wenn man jedes Mal aufgibt, wenn man sein Ziel nicht sofort erreicht, wird unter Garantie das Schlimmstmögliche eintreten. Dies hier sind harte und lange Kämpfe. Und in der Tat sollte das, was in den letzten paar Monaten geschah, mit Zuversicht betrachtet werden. Eine Basis wurde geschaffen für die Entwicklung der Friedensbewegung, die sich weit härteren Aufgaben entgegenstellen wird. Auf diese Weise läuft es. Es ist nicht einfach.

Übersetzt von: Benjamin Brosig;
Orginalartikel: "Imperial Ambition"
Quelle: Monthly Review / ZNet 16.05.2003



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