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Freispruch für Totalen Kriegsdienstverweigerer

Hamburger Amtsgericht respektiert Gewissenensentscheidung

Es geschehen noch Zeichen und Wunder: Das Amtsgericht Hamburg-Harburg hat am Freitag (3. November 2000) den Totalen Kriegsdienstverweigerer Jan Reher überraschend vom Vorwurf der »Dienstflucht« vom Zivildienst aufgrund der in Artikel 4 des Grundgesetzes garantierten Gewissensfreiheit freigesprochen.

In dem mit über 70 Zuschauern überfüllten Gerichtssaal hatte Reher zunächst in einer einstündigen Prozeßerklärung dargelegt, daß der Zivildienst »militärisch genauso verplant ist wie der Dienst bei der Bundeswehr«. Als Zivildienstleistender wäre er im Kriegsfall wie Soldaten unbefristet dienstpflichtig und hätte im Feldlazarett oder beim Minenräumen Dienst zu tun. Schließlich sei der Zivildienst auch kein in »Friedenszeiten« sozialer Dienst, sondern vernichte im Gegenteil soziale Strukturen. Daher führten die gleichen Gründe, die den Hamburger Studenten zuvor zur Verweigerung des unmittelbaren Waffendienstes bei der Bundeswehr bewegt hatten, auch zur Verweigerung jeglichen Ersatzdienstes.

Zur deutlichen Verärgerung der Verteidigung - mit Jörg Eichler (Dresden) und Detlev Beutner (Frankfurt a.M.) selbst Totale Kriegsdienstverweigerer - begann der Vorsitzende Richter Panzer im Anschluß an die Erklärung Rehers eine Fragestunde, die, so die Verteidiger, »an die dunkelsten Zeiten der Gewissensinquisition in den Verfahren gegen Kriegsdienstverweigerer der 70er oder an die Strafverfahren der 80er und frühen 90er Jahre gegen Totalverweigerer« erinnert habe.

Staatsanwalt Dr. Winter erklärte in seinem Plädoyer, daß die Wehrpflicht nun einmal »eine politische Entscheidung« sei. Daher könne darüber zwar politisch diskutiert werden, aber solange sich eine Wehrpflicht-kritische Position nicht durchgesetzt habe, müsse auf jede Verweigerung der Wehrpflicht mit Strafe reagiert werden. Winter beantragte eine Freiheitsstrafe von zehn Monaten, die zur Bewährung ausgesetzt werden könne.

Die Verteidiger entgegneten, daß die im ersten Absatz des Grundgesetzartikel 4 garantierte Gewissensfreiheit nicht zu einer leeren Worthülse verkommen dürfe. Wenn ein Angeklagter aus Gewissensgründen einer Forderung des Staates auf Wehrpflichterfüllung nicht nachkomme, so habe der Staat die von ihm selbst postulierte Gewissensfreiheit zu achten und entsprechend das Strafrecht zurückzustellen. Gerade weil die Wehrpflicht ein politisches Instrument sei, gehe es ja auch nicht um die Frage, ob ein »unmoralisches« Handeln kriminalisiert werden solle, sondern darum, ob der Staat berechtigt sei, seine politischen Entscheidungen gegen das Gewissen der Menschen mit dem Strafrecht durchzusetzen. Die Verteidigung beantragte daher Freispruch.

Nach einer vierstündigen Verhandlung wurde ein Urteil verkündet, das für eine erneute grundsätzliche Diskussion der Bestrafung Totaler Kriegsdienstverweigerer führen wird: Reher wurde aufgrund der Gewissensfreiheit in Art. 4 Abs. 1 in Verbindung mit der Würdegarantie des Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes freigesprochen. Es handelt sich hier um den ersten Freispruch mit derartiger Begründung für einen Totalverweigerer seit fast fünfzehn Jahren. Allerdings wird damit gerechnet, daß die Staatsanwaltschaft ihrerseits Rechtsmittel einlegen wird.

Aus: junge welt, 7. November 2000

Nachträgliche Anmerkung (11. November 2000)
Inzwischen hat die Staatsanwaltschaft Berufung eingelegt. Die nächste Instanz ist das Landgericht Hamburg. Hier stehen die Chancen auf eine Bestätigung des Freispruchs nicht gerade gut. Denn auch der letzte Freispruch für einen Totalverweigerer vor fast 15 Jahren (3. März 1986) war von demselben Hamburger Gericht un demselben Richter, Ulf Panzer, gesprochen worden. Auch damals ging die Staatsanwaltschaft in Berufung und das Landgericht Hamburg verurteilte den Totalverweigerer rechtskräftig in zweiter Instanz zu drei Monaten Strafarrest auf Bewährung.

Die Zantralstelle Recht und Schutz der Kriegsdienstverweigerer begrüßte die jetzige Entscheidung des Gerichts in Hamburg. In der Regel seien die Gerichte gegenüber Totalverweigerern unnachgiebig. Der Vorsitzende der KDV-Zentralstelle, Stefan Philipp erläuterte in einem Gespräch mit der Frankfurter Rundschau (FR, 11.11.2000), dass auf der einen Seite heute hunderttausende Wehrpflichtige keinen Dienst leisten müssten, weil sie nicht eingezogen würden, dass aber auf der anderen Seite jährlich 20 bis 40 Totalverweigerer vor Gericht gestellt und verurteilt würden. Dabei stützten sich die Richter auf Art. 4 Abs. 3 GG: "Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden." Folglich dürfe man zum Dienst ohne Waffe (z.B. Zivildienst) sehr wohl gezwungen werden. Die Totalverweigerer berufen sich indessen auf Art. 4 Abs. 1 GG, wo es heißt: "Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich."

Eine einfache Lösung des Problems könnte darin bestehen, die Wehrpflicht ganz abzuschaffen. Keine Wehrpflicht - keine Totalverweigerer - keine Prozesse,

Und wir meinen: Der Hamburger Richter hat einen Friedenspreis verdient!


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