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Wehrpflicht nach Plan und die Zukunft des Zivildienstes

Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der FDP

Vor einem Monat beantwortete die Bundesregierung eine Kleine Anfrage der FDP zur Situation und Zukunft des Zivildienstes. Wir dokumentieren im Folgenden den stark gekürzten Text im Wortlaut.

Deutscher Bundestag, Drucksache 15/721 vom 26. 03. 2003

Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Ina Lenke, Dr. Heinrich L. Kolb, Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Situation und Zukunft des Zivildienstes

Vorbemerkung der Fragesteller

Die Bundesregierung hat im Koalitionsvertrag eine Überprüfung der Wehrpflicht bis spätestens 2006 angekündigt. Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie Teile der Fraktion der SPD haben in der 15. Wahlperiode mehrfach kritisch zur Wehrpflicht Stellung bezogen. Die für den Zivildienst zuständige Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Renate Schmidt, lehnt die Wehrpflicht öffentlich ab. Vor diesem Hintergrund ist mittelfristig mit der Aussetzung oder Abschaffung der Wehrpflicht zu rechnen. Dieser Schritt wird automatisch auch das Aus für den Zivildienst bedeuten. Durch das Erste Zivildienständerungsgesetz zieht sich die Bundesregierung – zunächst für ein Jahr befristet – immer weiter aus der Finanzierung des Zivildienstes zurück. Für die Träger der Zivildienststellen, dienstpflichtige junge Männer und die von Zivildienstleistenden betreuten Menschen bedeutet die Infragestellung und finanzielle Beschneidung des Zivildienstes eine maßgebliche Verunsicherung. Die Träger beklagen fehlende Planungssicherheit. Durch zusätzliche Wartezeiten können die jungen dienstpflichtigen Männer ihre individuelle Ausbildungs- und Berufsplanung nur schwer umsetzen. Die vielerorts auf die sozialen Dienstleistungen von Zivildienstleistenden angewiesenen Menschen werden künftig anders versorgt werden müssen. Diese Tendenz wird sich noch verstärken, wenn im Jahr 2004 die von der Koalition angekündigte Verringerung der Zahl der Zivildienststellen auf 100000 vollzogen wird.

1. Was versteht die Bundesregierung unter »Wehr- und Dienstgerechtigkeit«?

Die Begriffe »Wehrgerechtigkeit« und »Dienstgerechtigkeit« werden in der Praxis als Synonyme für Dienstpflichten des einzelnen verstanden, die möglichst von allen Pflichtigen zu erfüllen sind. Dabei hat der Gesetzgeber Wehrdienst- und Zivildienstausnahmen festgelegt, die in besonderen Fällen Ausnahmen von der Erfüllung einer Dienstpflicht zulassen. Eine weitere Schranke für die Praxis ergibt sich aus der Notwendigkeit einer effektiven Landesverteidigung, die nur mit tauglichen Wehrdienstleistenden erfüllt werden kann. Wehr- bzw. Dienstgerechtigkeit in diesem Sinne bedeutet, daß die verfügbaren jungen Männer, die nicht aus gesetzlichen oder administrativen Gründen vom Wehrdienst befreit sind, zum Grundwehrdienst herangezogen werden. Anerkannte Kriegsdienstverweigerer erfüllen ihre Wehrpflicht durch die Ableistung des Zivildienstes oder eines diesbezüglichen Ersatzdienstes (z. B. Dienst im Zivil- oder Katastrophenschutz). Auch für Zivildienstpflichtige gilt, daß eine Heranziehung geboten ist, sofern sie nicht aus gesetzlichen Gründen vom Zivildienst befreit sind.

2. Inwieweit sieht die Bundesregierung in der momentanen Situation, in der etwa die Hälfte aller jungen Männer eines Jahrgangs weder Wehr- noch Zivildienst leistet, Wehrgerechtigkeit als gegeben an?

Von Wehr- bzw. Dienstgerechtigkeit kann dann gesprochen werden, wenn der überwiegende Teil aller für eine Dienstleistung verfügbaren jungen Männer bis zum Erreichen der allgemeinen Heranziehungsgrenze (25. Lebensjahr) tatsächlich zum Grundwehrdienst oder zu einem auf den Grundwehrdienst anrechenbaren sonstigen Dienst einberufen wird. Diese Voraussetzung wurde in der Vergangenheit erfüllt und wird auch für künftige aus der Grundwehrdienstpflicht beziehungsweise der Zivildienstpflicht herauswachsende Geburtsjahrgänge erfüllt werden. (…)

7. Wie werden sich die Kontingente im Zivildienst in den Jahren 2004 bis 2006 entwickeln?

Die Entwicklung der in den Jahren 2004 bis 2006 zu verteilenden Kontingente steht in unmittelbarem Zusammenhang mit den Haushaltsansätzen im Kapitel 1704. Nach dem derzeitigen Stand wird die Zahl der im Haushaltsjahr 2004 zu verteilenden Kontingente gegen-über der in 2003 zur Verfügung stehenden Anzahl für rund 100000 Zivildienstleistende im Jahresdurchschnitt leicht zurückgehen. Auf dieser Grundlage erfolgt eine Fortschreibung der Haushaltsansätze in der Finanzplanung bis 2006. Im übrigen kann dem Haushaltsaufstellungsverfahren 2004 nicht vorgegriffen werden.

8. Welche konkreten Probleme für die Träger der Zivildienststellen durch die Einsparungen im Haushalt 2003 sind der Bundesregierung bislang bekannt?

Die Beschäftigungsstellen des Zivildienstes und die Zivildienstverwaltung in Verbindung mit den Verbänden der Freien Wohlfahrtspflege haben alle Anstrengungen unternommen, um gravierende Auswirkungen durch die Ein-sparungen zu verhindern. Folglich sind bislang wenige Einzelfälle bekannt geworden, wonach es bei einzelnen Beschäftigungsstellen zu personellen Engpässen gekommen sein soll. Hätte die Mehrheit des Bundesrates am 14. Februar wegen des Zivildienständerungsgesetzes nicht den Vermittlungsausschuß angerufen, hätten zwischenzeitlich bereits weitere Kontingente für Einberufungen zugewiesen werden können. Jetzt kommt es zu Verzögerungen, die insbesondere Zivildienstpflichtige, pflege- und betreuungsbedürftige Menschen und die Träger des Zivildienstes mit unnötigen zusätzlichen Belastungen konfrontieren.

9. Welche Informationen hat die Bundesregierung, inwieweit die Kürzungen der anteiligen Finanzierung durch den Bund in einigen Regionen Deutschlands zu überproportional hohen Schwierigkeiten bei der Besetzung der Zivildienststellen führen?

Aufgrund der angekündigten Kürzung der Finanzierung durch den Bund haben bei einem Bestand von rund 40000 Zivildienststellen 18 Zivildienststellen mit insgesamt 69 Zivildienstplätzen (ZDP) um Beendigung ihrer Anerkennung als Beschäftigungsstelle des Zivildienstes gebeten. Ferner gingen neun Anträge auf Reduzierung der Platzzahl um 28 ZDP sowie zwölf Anträge auf vorübergehende Sperrung von 18 ZDP ein. Bei diesen Einrichtungen handelt es sich überwiegend um kommunale oder kleinere, privatrechtlich organisierte Zivildienststellen, die aufgrund der geringen Finanzdecke keine Möglichkeit haben, die für sie nicht rechtzeitig vorhersehbare Kostenerhöhung aufzufangen. (...)

12. Über welche Erkenntnisse verfügt die Bundesregierung, inwieweit sich die Einsparungen im Haushalt 2003 auf die Situation von Pflege- und Betreuungsbedürftigen auswirken werden?

Die Situation der Pflege- und Betreuungsbedürftigen wird bestimmt durch die Ausstattung mit hauptamtlichem Personal und die Sachausstattung. Der Beitrag des Zivildienstes ist bedingt durch seinen Charakter als Wehrersatzdienst von der Personenzahl seit jeher Schwankungen unterworfen. Hinzu kommt, daß den Zivildienstleistenden die fachliche Qualifikation für den Pflegeberuf fehlt und Zivildienstleistende außerdem wegen des gesetzlichen Gebots der Wahrung der Arbeitsmarktneutralität nicht anstelle hauptamtlichen Pflegepersonals eingesetzt werden können und dürfen, sondern zur begleitenden Unterstützung. Trotz dieser Einschränkungen leisten Zivildienstleistende einen allgemein anerkannten und wichtigen Beitrag zur Sicherstellung der Pflege und Betreuung hilfsbedürftiger Menschen, dessen Bedeutung sich die Bundesregierung durchaus bewußt ist. Deshalb hat sie bei der Umsetzung der Sparmaßnahmen eine Reihe von Maßnahmen getroffen, um eventuelle negative Auswirkungen auf diesen Bereich so gering wie möglich zu halten. Aus diesem Grund wurde mit den Wohlfahrtsverbänden eine Steuerung der Einberufung der Zivildienstleistenden erarbeitet, durch die sichergestellt wird, daß die einberufenen Zivildienstleistenden vorrangig in diesem Bereich eingesetzt werden. Durch eine weitere Vereinbarung mit den Wohlfahrtsverbänden wird gewährleistet, daß trotz der Sparmaßnahmen nach wie vor jeder Zivildienstpflichtige, der sich zu einem Einsatz in der Individuellen Schwerstbehindertenbetreuung bereit erklärt, auch in diesem Bereich eingesetzt wird. Die Bundesregierung hat keine konkreten Erkenntnisse, daß die bisher umgesetzten Sparmaßnahmen zu einer wesentlichen Einschränkung der Arbeit der Zivildienststellen im Pflege- und Betreuungsbereich oder zu einem Abbau von Zivildienstplätzen geführt hat. Damit ist es der Bundesregierung in partnerschaftlicher Zusammenarbeit mit den den Zivildienst tragenden Verbänden und Organisationen gelungen, durch flankierende Maßnahmen eventuelle negative Auswirkungen der Sparmaßnahmen auf diesen Bereich entweder ganz zu vermeiden oder deutlich abzumildern. Soweit die durch die Zivildienstleistenden erbrachten Tätigkeiten durch regulär Beschäftigte geleistet werden müssen, können die durch die Gesetze für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt geschaffenen oder verbesserten Möglichkeiten zum Beispiel der geringfügigen Beschäftigung vor allem im Haushalt und die hierfür geschaffenen steuerlichen Vergünstigungen genutzt werden. (...)

16. Welche alternativen Konzepte zur Kompensation der von Zivildienstleistenden erbrachten Leistungen verfolgt die Bundesregierung für den Fall einer weiteren Absenkung der Zahl von Zivildienststellen beziehungsweise für den Fall einer Aussetzung oder Abschaffung der Wehrpflicht und damit des Zivildienstes?

Die Planungen der Bundesregierung basieren auf dem Fortbestand der allgemeinen Wehrpflicht in den nächsten Jahren. Unabhängig von der Diskussion um die allgemeine Wehrpflicht zielen die Bemühungen der Bundesregierung darauf ab, entsprechend den Vorschlägen der Enquete-Kommission »Bürgerschaftliches Engagement« das freiwillige Engagement generationsübergreifend zu fördern.

17. Wie können die Träger der Zivildienststellen nach Auffassung der Bundes-regierung die wegfallenden Zivildienststellen kompensieren?

Gegenwärtig stehen dem Zivildienst 40000 anerkannte Beschäftigungsstellen nach Paragraph 4 Zivildienstgesetz (ZDG) mit rund 188000 Zivildienstplätzen (davon rund 21000 seit mehr als drei Jahren nicht mehr belegt), also 188000 Einsatzmöglichkeiten für anerkannte Kriegsdienstverweigerer, zur Verfügung.
Ein nennenswerter Wegfall von Zivildienstbeschäftigungsstellen und Zivildienstplätzen zeichnet sich bisher nicht ab.

32. Wie wird die Bundesregierung für ein ausreichendes Angebot an Zivildienstplätzen sorgen, wenn die Träger der Zivildienststellen angesichts der immer höher werdenden finanziellen Belastung keine oder unter der Prämisse der Wehrgerechtigkeit zu wenige Zivildienstplätze zur Verfügung stellen sollten?

Die Zahl der Zivildienstplätze übersteigt die Zahl der jährlich anerkannten Kriegsdienstverweigerer. Damit stehen mehr Zivildienstplätze zur Verfügung, als verfügbare Zivildienstpflichtige einberufen werden können. Daran wird sich in absehbarer Zeit voraussichtlich auch nichts ändern.

Der Text war in dieser Form dokumentiert in der Wochenendbeilage der "jungen Welt" vom 26.04.2003


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