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Die Exklusion des Anderen

Völkerrechtsverbrechen und Tatherrschaft

Von Karlen Vesper *

Zu den stärksten Sätzen in diesem Buch gehört folgender: »Die höchst selektive Aburteilung einiger mit mehr oder weniger Berechtigung stellvertretend ausgewählter Sündenböcke ist auf die Länge in höchstem Maße problematisch. Die Mächtigsten dieser Welt entgehen demgegenüber der internationalen und der nationalen Strafverfolgung nach wie vor ausnahmslos – getreu dem Motto: ›Verbrecher ist immer nur der Andere!‹ In dieser Form von Abwehr liegt ein sozialpsychologisches Kernelement der Kultur der Straflosigkeit, deren Bekämpfung das IStGH-Statut in seiner Präambel feierlich beschwört.«

Bevor Hans Vest zu seinem eigentlichen Anliegen kommt, nimmt er das vergangene Säkulum unter die Lupe. Denn Geschichtsstudium erhellt auch aktuelle Probleme. Das 20. Jahrhundert mit seiner Explosion kriegerischer Gewalt, Konzentrations- und Vernichtungslagern, ethnischen Säuberungen und Völkermorden, Massakern an politischen Gegnern und an der Zivilbevölkerung übertrumpfe alle bisherigen Jahrhunderte. Als Ursache macht der Autor die »modernen Formen der nationalen Vergemein- und Vergesellschaftung« aus, die »offenbar über die Exklusion des Andersartigen«, der anderen Rasse, Ethnie, Nation oder Klasse verlaufe. Insoweit seien dem hegemonialen nationalstaatlichen Programm der Moderne destruktive Potenziale inhärent.

Ausführlich befasst sich Vest mit NS-Verbrechen und deren Ahndung, geht auf die Psyche der Täter, kollektiver wie individueller, ein, und diskutiert juristisch problematische Konstruktionen (z. B. Befehlsnotstand). Er merkt an, dass im Schatten des Holocaust weitere Staats- und Systemverbrechen des »Jahrhunderts der Extreme« nicht die öffentliche Aufmerksamkeit erfuhren und erfahren, die notwendig wäre, so etwa der Völkermord an den Armeniern 1915, der Genozid in Ruanda 1994 oder die schweren Völkerrechtsverbrechen in Bosnien-Herzegowina in den 1990er Jahren. Der Autor diagnostiziert: »Nichts spricht dafür, dass das neue Säkulum, das nahtlos an die (para-)staatlichen Massaker und Gräueltaten des beendeten Jahrhunderts angeknüpft hat, ohne solche Großverbrechen voranschreiten wird.« Gewalt grassiert insbesondere in Afrika, teils mit der Konsequenz des Zerfalls staatlicher Strukturen. Wird die Bestrafung dortiger Gewalttäter ähnlich lange auf sich warten lassen und unbefriedigend ausfallen, wie die der »Roten Khmer«? Erst 30 Jahre nach der Beendigung deren Schreckensherrschaft in Kambodscha ist gerademal eine Handvoll Hauptverantwortlicher vor einem gemischt national-internationalen Strafgericht angeklagt worden.

Und warum, fragt man sich, konnte jahrelang von Mannheim aus Ignace Murwanashyaka unbehelligt Massaker in Kongo anordnen können, ehe er nun – acht Jahre nach dem 2002 verabschiedeten deutschen Völkerstrafgesetzbuch – in Stuttgart vor Gericht gestellt wurde? Warum gilt in der internationale Strafgerichtsbarkeit zweierlei Maß, wenn etwa der ehemalige serbische Ministerpräsidenten Slobodan Milosevic vor ein Sondertribunal gestellt wurde, aber Strafanzeigen gegen den US-Präsidenten George W. Bush jun. und dessen Kriegsminister Donald Rumsfeld ignoriert werden? Im Falle des eben gestürzten libyschen Diktators Muammar al-Gaddafi hingegen reagierte der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) rasch.

Vest konstatiert zwar eine gewachsene Sensibilität für traumatische Geschehnisse in der Öffentlichkeit, beklagt aber zugleich: »Aufmerksamkeit und Schrei nach wirksamer Abhilfe sind im medialen Zeitalter allerdings meist nur kurzlebig.« Zudem würden die Diskurse über (para-)staatliche Großverbrechen von Interessen politischer und weltanschaulicher Art beeinflusst. Der Autor kann trotzdem Erfreuliches vermelden: »Immerhin ist bei aller Instrumentalisierung aus (völker-) strafrechtlicher Warte schon jetzt absehbar, dass eine im Kern unumkehrbare Veränderung der gesellschaftlichen Wahrnehmung stattgefunden hat: Politik, die in extremer Weise grundlegende Menschenrechte verletzt, wird nicht mehr als über dem Recht stehende Haupt- und Staatsaktion verstanden, sondern als Verbrechen. Auch wenn es den Verantwortlichen vielfach noch gelingt, verbrecherische Politik zu kaschieren, zu beschönigen oder zu rechtfertigen, gibt es solche Grenzen wie etwa Massaker oder Massenvergewaltigungen.«

Vest scheut nicht mit Kritik an der UNO, die bei Massakern, Vergewaltigungen und Vertreibungen versage. Es fehle einer rechtgleichende Durchsetzung des Völkerstrafrechts, sowohl auf der internationalen Ebene als auch im nationalstaatlichen Bereich. Vest warnt, »Institute des nationalen Rechts ins Völkerstrafrecht zu importieren. Stattdessen wären für den spezifischen Bereich der völkerrechtlichen Kernverbrechen angemessene Lösungen zu entwickeln.« Er untersucht die Kategorien Führungstäter, mittelbare Täterschaft und Mittäterschaft. Gerechtigkeitsüberlegungen verbieten, etwa das Schließpersonal in Gefängnissen wie die Folterschergen zu behandeln. Vest legt das Augenmerk auf systemische Täterschaft. Es gelte, auch die auf höheren Entscheidungs-, Planungs- und Organisationsebenen an Völkerrechtsverbrechen Mitwirkenden zu bestrafen. Neues »und hoffentlich besseres Recht« – so Vest – werde zwar stets im Gewand der tradierten Konstrukte vorbereitet, muss diese aber erforderlichenfalls sprengen. Noch so ein starker Satz.

Hans Vest: Völkerrechtsverbrecher verfolgen. Ein abgestuftes Mehrebenenmodell systemischer Tatherrschaft. Nomos, Baden-Baden. 504 S., geb., 82 €.

* Aus: Neues Deutschland, 22. September 2011


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