Ist das Völkerrecht ein Auslaufmodell?
Interview mit Norman Paech *
FriedensJournal: Inwieweit steht die UNO noch
für die moralische Instanz zur Durchsetzung
des Völkerrechts?
Wer sollte es sonst sein? Die
USA? Die EU? Die G8 oder die
NATO? Nein, bei aller Kritik an den
Defiziten der UNO, sie ist die einzige
Institution mit universeller Legitimation.
Ihre Gründungsurkunde ist Basis und
Kern des geltenden Völkerrechts. Ihre
Organisationen regeln über 90 % des
internationalen Verkehrs, und wenn sie
durch einzelne Staaten erpresst oder
missbraucht werden, sollte man den
Täter hauen und nicht das Opfer. Die
UNO stellt das höchste Gericht mit
Richtern aus allen Rechtskulturen, das
mehr für die Anerkennung des Völkerrechts
getan hat, als jede andere Institution.
FJ: Nehmen wir als jüngstes Beispiel
den Goldstone-Bericht über
Kriegsverbrechen im Gaza-Streifen
durch die israelische Armee, aber
auch über Verbrechen der Hamas.
Neben mehrheitlich sehr positiven Reaktionen
- auch in der UN-Vollversammlung
- gab es natürlich auch entschiedene
Ablehnung. Hat der Goldstone-
Bericht letztlich die UNO als Autorität
eher gestärkt oder geschwächt?
Die Goldstone-Kommission war
eine Kommission der UNO, genauer
des Menschenrechtsrats. Ihre vier internationalen
Mitglieder waren absolut
unabhängig, ihre Qualifikation unantastbar
und ihr Bericht über jeden
Zweifel der Voreingenommenheit oder
Einseitigkeit erhaben, wenn auch vernichtend
für die israelische Regierung
und Armee. Es gab mehrere Untersuchungen
und Berichte anderer Organisationen,
die zu dem gleichen Ergebnis
gekommen sind, aber nicht über
die gleiche Autorität und Reputation
verfügen. Die UNO hat auch mit diesem
Bericht ihre einmalige Stellung
und Bedeutung für die Beziehungen
der Staaten untereinander erwiesen.
Wenn einige Staaten ausscheren und
sich nicht an die Normen der UNO halten,
sollten sie von den anderen Staaten
nicht unterstützt, sondern sanktioniert
werden.
FJ: Immer häufiger wird heute der
Begriff der "internationalen Staatengemeinschaft"
gebraucht. Zuletzt fand
man diese Wortwahl vor allem in Bezug
auf die Unterstützung bzw. das
Eingreifen in Haiti. Wofür steht dieser
Begriff?
Der Begriff ist ein Euphemismus,
so wie die Bezeichnung „Kap der Guten
Hoffnung“, die über die Gefahren
der südlichen Spitze für die Seefahrt
hinwegtrösten sollte. Die „Staatengemeinschaft“
steht für ein Ziel, welches
angesichts der scharfen Konkurrenz,
Rivalität und den Kriegen unter den
Staaten derzeit nur verbal zu erreichen
ist.
FJ: Den Afghanistan-Krieg kann
man sehr unterschiedlich umschreiben,
z.B. als ISAF-Mission, die von einem
UNO-Mandat legitimiert ist und
u.a. auch von Russland und China unterstützt
wird – oder auch als Besatzungsstatus,
der aus einem völkerrechtswidrigen
Angriffskrieg resultiert
und der von eskalierenden Kriegsverbrechen
gegenüber der Zivilbevölkerung
geprägt ist. Wie passen beide
Definitionen bzw. Sichtweisen zusammen?
Der Afghanistan-Krieg ist für
Deutschland immer noch eine ISAF-Mission
mit einem gültigen UNO-Mandat,
für die USA zudem noch eine Antiterroroperation
(OEF), aus der sich
Deutschland 2008 herausgezogen hat.
Inzwischen haben aber die zahlreichen
Exzesse der Kriegsführung und offensichtlichen
Kriegsverbrechen das
Kriegsgeschehen vom ursprünglichen
Mandatsziel so sehr entfernt, dass der
UNO-Sicherheitsrat sein Mandat zurückziehen
sollte, anstatt es Jahr für
Jahr zu erneuern und an den Krieg anzupassen.
Der Antiterrorkampf der
OEF entbehrt schon seit langem der
Rechtfertigung aus Art. 51 UN-Charta.
Seine Zusammenlegung mit ISAF verschafft
ihm keine Legitimation, sondern
zerstört die der ISAF. Faktisch
gleicht die militärische Anwesenheit
der 46 Staaten unter Führung der USA
immer mehr einer Besatzung als einer
Hilfe, gegen die sich der Widerstand
zur Wehr setzt. Juristisch kann sich die
Koalition jedoch immer noch auf das
ISAF-Mandat und die Einladung der
afghanischen Regierung berufen. Die
Interessen auch der Nachbarstaaten
gleichen offensichtlich immer noch zu
sehr denen der Interventionsmächte,
als dass der UN-Sicherheitsrat politisch
in der Lage wäre, die Truppen
zurück zu beordern.
FJ: Steht die schwarz-gelbe Bundesregierung
in Bezug auf die Gewichtung
des Völkerrechts in der Kontinuität
ihrer Vorgänger, oder gibt es
hier signifikante Veränderungen?
Ich vermag keine allzu großen Unterschiede
zu erkennen. Alle vier Parteien
in den letzten Koalitionen stimmen
in der Frage der völkerrechtlich
bedenklichen Einsätze der Bundeswehr
ob in Afghanistan, vor den Küsten
Libanons, im Sudan oder bei der
Pirateriebekämpfung überein. Sie
schauen in gleicher Weise über die
völkerrechtlichen Katastrophen der israelischen
Besatzung und des Gaza-
Krieges hinweg. Beide Regierungen
duldeten den Skandal Guantánamo
und dulden jetzt noch AbuGraib. Nur
die Beteiligung am Irakkrieg haben sie
unterschiedlich eingeschätzt. Die neue
Koalitionsregierung wird die Entscheidung
über einen nächsten Einsatz der
Bundeswehr zweifellos noch weniger
am Völkerrecht als an vermeintlich eigenen
bzw. Bündnisinteressen ausrichten.
* Emeritierter Professor für Völkerrecht, Hamburg; von 2005 bis 2009 Mitglied des Deutschen Bundestags
Dieser Beitrag erschien in: FriedensJournal, Nr. 3, Mai 2010, S. 3-4
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